Dienstag, 23. Dezember 2008

Kultur und Tradition



"...Die Tradition ist ein wesentlicher Bestandteil der Kultur. Selbst der avantgardistischste Künstler geht dauernd mit Tradition um, mit der Tradition der Kultur. Er stellt sie zum Beispiel in Frage, aber seine Frage wird nur erkennbar, wenn wir die Tradition kennen und erkennen.
Eine Geschichte erkennen wir dann als Geschichte, wenn sie einer Geschichte gleicht. Ein Gedicht ist dann ein Gedicht, wenn es einem Gedicht gleicht, an Gedichte erinnert.
So könnte ich mir ohne weiteres vorstellen, dass es um 1800 herum Autoren gegeben hat, die gut und gern solche Gedichte hätten schreiben können wie heute Ernst Jandl - Goethe zum Beispiel oder Jean Paul. Nicht die Zeiten waren ganz anders oder schöner oder gar kultureller - nur die Reihe der Tradition war noch nicht so weit, dass man damals solche Gedichte hätte erkennen können. Sie glichen damals noch nicht Gedichten.
Tradition ist nicht einfach das alte Schöne. Die Tradition ist kein Antiquariat, sondern eine lebendige Reihe, die auf uns zukommt und hinter uns weitergeht, wie ein Asiat sagen würde, für den die Vergangenheit vor ihm liegt - er sieht sie - und die Zukunft hinter ihm, er sieht sie noch nicht.
Die Vergangenheit sehen, die vor uns liegt, dazu brauchen wir einen Beziehungspunkt. Die zeitgenössische, die avantgardistische Kunst ist immer wieder dieser Beziehungspunkt.
Wer glaubt, sogenannte alte Kunst ohne diesen aktuellen Bezug geniessen oder würdigen zu können, dem entgeht ein wesentliches Erlebnis, das Erlebnis, selbst als Konsument oder Produzent in dieser Traditionsreihe zu stehen, sich selbst als Teil dieser Tradition zu empfinden - hier zu stehen und die Vergangenheit vor sich zu sehen, im Wissen, dass hinter uns eine Zukunft sein wird. (...)
Kultur ist entweder etwas Vergangenes oder etwas Gegenwärtiges - eine Kultur der Zukunft wird schnell gefährlich. Die Aufgabe der Kulturschaffenden - aller, also der Politiker, der Museumsdirektoren, der Leser, Schauer und Hörer, der Schreibenden und Musizierenden - ist, erst einmal die Tradition fortzusetzen.
Er gibt - zum Beispiel - keinen Grund, heute noch Geschichten zu schreiben. Mit den Geschichten der vergangenen Jahrhunderte könnten wir unser Leben bestehen. Die Geschichten sind alle schon geschrieben, die Geschichten der menschlichen Leidenschaften, von Liebe und Tod, Neid, Hass und Intrige - dem wäre eigentlich nichts hinzuzufügen, als: Wir wollen die Tradition des Erzählens und die Tradition des Zuhörens fortführen - und zwar jetzt, heute, in diesem Jahr, Kultur hat keine Zukunft, sie hat nur ein Jetzt."
Peter Bichsel (1996) aus: Aber ich glaube dem Herrn Kamber. Eine Rede. Zitiert aus: Peter Bichsel: Die Totaldemokraten. edition suhrkamp, 1998.

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