Freitag, 1. August 2008

Shakespeare

"Shakespeare ist ein Meister der sprachlichen Kernfusion. Das setzt Energien frei, die wie reiner Sinn strahlen. Hier ist ein Beispiel aus der Komödie Mass für Mass. Original:

But man proud man
dressed in a little brief authority
most ignorant of what he's most assured
(his glassy essence) like an angry ape
plays such phantastic tricks before high heaven
as makes the angels weep who, with our spleens,
would themselves laugh mortal."

Übersetzung:

Doch der Mensch, der stolze Mensch,
gekleidet in ein wenig Amtsgewalt,
verkennt, was ihm am nächsten ist
(seine Spiegelseele), und wie ein wütender Affe,
spielt er solch irre Faxen vor dem hohen Himmel,
dass die Engel weinen, die mit unserer Milz
sich alle serblich lachen würden."

Die Kernspaltung erfolgt in der Metapher "dressed in a little brief authority". Da wird Amtsgewalt als Kostüm vorgestellt. Das löst eine semantische Kernreaktion aus, die zur Kernschmelze führt und eine ganze Welt in Theater verwandelt: Der Mensch wird zum zornigen Affen, der vor einem Spiegel Grimassen schneidet. In der gleichen Weise wird die Welt zu einer Bühne und der Himmel mit seinen Kristallschalen (so stellten sich die Elisabethaner den Himmel vor) zu den Zuschauerrängen, auf denen die Engel den äffischen Faxen der Menschen zusehen; diese sind umso äffischer als sie ihr eigentliches Wesen verkennen: ihre Spiegelseele, die deshalb wie der Himmel und wie der Spiegel aus Glas ist und damit unsichtbar und unwandelbar, um dadurch spiegelgleich die wechselnden Erscheinungen sichtbar machen zu können. Darin aber ähnelt die Seele auch dem Theater, das dem Menschen den Spiegel vorhält (die Schauspieler sind unsichtbar, um die Figuren sichtbar zu machen). So wie der Himmel regnet, so weinen die Engel über das, worüber wir in unserer Beschränktheit lachen: unsere grotesken Verrenkungen. Der Mensch steht also genau in der Mitte zwischen göttlichen Engeln und tierischen Affen, die sterbliche Seite nach aussen gekehrt, die unsterbliche unsichtbar und darin wieder dem Spiegel gleich, der unwandelbar und unsichtbar nur die flüchtigen Erscheinungen sichtbar macht. In nur sechs Zeilen gelingt es Shakespeare, die ganze Kosmologie, Engel, Affen, Menschen, das Theater, Lachen und Weinen, Himmel und Erde im Spiegel der Sprache heraufzubeschwören, um uns zu zeigen, was Autoritätsanmassung ist, zu der ein Amt verführt. Das ist Magie.
Wer so etwas nachvollziehen kann - nicht mühseelig und langsam, so wie jetzt, sondern im Rhythmus und Tempo des Verses -, der hat das Gefühl, Gott am ersten Schöpfungstag zuzuschauen; der erlebt den Urknall als einen poetischen Orgasmus der Kreativität. Es gibt kein besseres Gefühl auf dieser Erde als dieses. Es befreit aus Depression und schlechter Laune und macht dankbar dafür, dass man lebt."

Dietrich Schwanitz in: Bildung. Alles, was man wissen muss. Eichborn, 1999.

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