Donnerstag, 13. Dezember 2007
Melancholische Tage in Vernazza
Mount St. Helens; Another Brick in the Wall; Vernazza
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1980
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Die Besetzung der US-Botschaft in Teheran (Iran) hält an und wird erst im Januar nächsten Jahres beendet, als die Amtszeit von US-Präsident Carter abgelaufen ist. Die USA brechen die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab. Ein Kommandounternehmen der USA zur Befreiung der Geiseln wird für die Teilnehmer zur Katastrophe, die elf Todesopfer fordert. Unter anderem dieses Debakel führt dazu, dass die Präsidentschaftswahlen mit einem erdrutschartigen Sieg des republikanischen Exschauspielers Ronald Reagan enden. Der erste Golfkrieg zwischen Iran und Irak beginnt mit der Kündigung des Grenzvertrages von 1975 und Fliegerangriffen auf iranische Ölzentren durch den angreifenden Irak. Nach schweren Unruhen und einer Streikwelle in Polen kann die unabhängige Gewerkschaft Solidarität gegründet werden. Rhodesien erlangt unter dem Namen Simbabwe die Unabhängigkeit von Grossbritannien. Schwere Rassenunruhen brechen in Miami aus, als vier weisse Polizisten, die einen Farbigen zu Tode geprügelt hatten, freigesprochen werden. Ebenfalls schwere Rassenunruhen gibt es in Südafrika. Die UNO-Vollversammlung fordert Israel zum Abzug aus den besetzten Gebieten auf; die Annexion von Ost-Jerusalem wird stattdessen vom israelischen Parlament gesetzlich sanktioniert. In Belgien wird der lange Sprachenstreit zwischen Wallonen und Flamen durch die Aufteilung des Landes in einen Bundesstaat mit den Teilstaaten Flandern und Wallonien beigelegt. Bei einem Bombenanschlag rechtsradikaler italienischer Extremisten im Wartesaal des Hauptbahnhofs von Bologna sterben über achtzig Menschen und mehr als 220 werden verletzt; der betroffene Gebäudeflügel wird dabei zerstört.
Neuer Präsident des Internationalen Olympischen Komitees wird der Spanier Juan Antonio Samaranch. Papst Johannes Paul II. unternimmt eine elftägige Missionsreise nach Afrika und besucht Deutschland. Die Olympischen Spiele in Moskau setzen mit erneut auf 203 Disziplinen erweitertem Programm die politisch motivierte Boykottreihe fort. Wegen der Intervention der Sowjetunion in Afghanistan bleiben die USA, die Bundesrepublik Deutschland und weitere 63 Nationen den Spielen fern (16 westliche Staaten beteiligten sich jedoch nicht am Boykott – darunter Grossbritannien, Italien, die Schweiz und Österreich – oder überließen die Entscheidung über Teilnahme oder Nichtteilnahme den einzelnen Sportverbänden). Beim Ausbruch des Mount St. Helens im Nordwesten der USA sterben 57 Menschen. In der Nordsee kentert in schwerem Sturm die Bohrinsel Alexander Kielland und reisst über 150 auf ihr wohnende Arbeiter mit sich. Der Nierensteinzertrümmerer wird erfunden – von der deutschen Firma Dornier MedTech – und ein Impfstoff gegen Hepatitis B am Blood Center in New York entwickelt. Die US-Firma General Electric gewinnt einen Prozess um die Patentierbarkeit einer gentechnisch für die Ölreinigung geklonten Mikrobe. Die US-Raumsonde Voyager 1 fliegt am 12. November, dem Geburtstag von Felix, am Saturn vorbei, die Voyager 2 entdeckt den 13. und 14. Saturnmond. Der schwedische Tennisspieler Björn Borg gewinnt das Turnier in Wimbledon zum fünften Mal hintereinander. Pink Floyd bringen «Another Brick In The Wall» auf den Plattenmarkt, die Queen landen mit «Another One Bites The Dust» einen Hit, von Blondie erscheint «Call Me», weitere Hits sind «Emotional Rescue» von den Rolling Stones, «Dreamer» von den Supertramp und «Do You Love What You Feel» von Rufus And Chaka Khan. In Deutschland hat die Neue Deutsche Welle ihren Höhepunkt langsam aber sicher überschritten.
1980 sterben der jugoslawische Parteichef Josip Tito; der Psychoanalytiker Erich Fromm; der Philosoph und Schriftsteller Jean Paul Sartre; der Schriftsteller Alfred Andersch; der Schriftsteller Henry Miller; der Maler Oskar Kokoschka, vielleicht der Onkel von Helga, der Lebenspartnerin von Josef, die wir in Wien kennengelernt haben; der Regisseur Sir Alfred Hitchcock; der Komponist und Musiker John Lennon; der Filmschauspieler Steve McQueen; der Olympionike von 1936, Jesse Owens. Geboren werden in diesem Jahr Chelsea Clinton, die Tochter des späteren US-Präsidenten Bill Clinton, die beiden Tennisspielerinnen Venus Williams und Martina Hingis sowie die Sängerin Christina Aguilera.
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Kennen Sie die Cinqueterre? Ein herrlicher Flecken Erde zwischen Genua und La Spezia. Farbige Häuser, in abenteuerlichen Verschachtelungen direkt auf den Fels gebaut. Kleine Plätze mit wenigen Bäumen und vielen bunten Booten. Winklige, schattige Gassen, Treppenwege, Torbögen, Dachterassen; die obligatorische Wäsche quer über den Strässchen. Als Cinqueterre wird ein bis zu 800 Meter ansteigender Höhenzug unmittelbar am Meer bezeichnet. Stufenförmig abfallende, mit Weinreben bewachsene Hänge charakterisieren die Gegend ebenso wie Orangen- und Olivenbäume. Zur Cinqueterre gehören die fünf Orte Monterosso, Vernazza, Corniglia, Manarola und Riomaggiore. Im Juni 1980 finden wir Felix in der zweiten «Erde», das heisst in Vernazza. Er ist allein hergefahren und jetzt so müde, so hundetraurig, dass ihm alles voller Seltsamkeit scheint. Er kommt sich verloren vor, verloren nicht in den verwinkelten Gassen des Örtchens – so viele sind es nicht, dass man sich in ihnen verlieren könnte –, sondern im Labyrinth seiner selbst. Er ist kaum fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu denken – vielleicht auch, weil er so hungrig ist. Er möchte etwas essen, einerseits, um den Hunger zu stillen, andererseits aber wahrscheinlich auch, weil Essen Abwechslung bringt. Darauf ist man als Alleinreisender mehr angewiesen als in der Gruppe, schliesslich möchte man ja nicht ständig unangenehm an die eigene Gegenwart erinnert werden.
Felix trinkt, um zu vergessen. Felix ist es am wohlsten, wenn er sich selber vergessen kann. Er ist glücklich, wenn er als Einzelwesen aufhört zu existieren. Oder anders gesagt: Felix empfindet seine Individualität manchmal als Kerker. Er fühlt sich fremd in ihr – so fremd, wie er sich empfand, als er sich als kleiner Junge in einem Fenster gespiegelt sah und sich darüber wunderte, dass ihn da ein fremdes Kind anblickte.
Am Mittwoch, von der Arbeit, wo Felix unwillig wurde, weil sich zwei Krankenschwestern den ganzen Nachmittag lang angegiftet hatten und dabei dem Hilfspersonal, also Felix, die ganze Arbeit überliessen, heimgekommen, ass Felix Spaghetti aglio oglio, eine Mitbewohnerin hatte ihre Leib- und Seelenspeise gekocht, er trank dazu Wein und rauchte anschliessend eine Pfeife Haschisch. Im Moment sitzt Felix aber auf dem Hauptplatz von Vernazza, in einem Restaurant namens «Gambino rosso» an der Bucht, die PCI, die kommunistische Partei Italiens, hält eine Wahlveranstaltung, der Redner stellt mit pompösen Worten die Kandidaten vor. Publikum: vielleicht hundert Leute – der Sprecher hat trotzdem eine von Leidenschaft geschwellte Stimme. Felix möchte essen, aber es gibt immer noch nichts, vielleicht wegen der Politik, vielleicht aus Prinzip; nicht vor acht Uhr.
Felix wohnt in einer Priavatwohnung, die er von einem alten Mann gemietet hat, für zwei Nächte, Kostenpunkt: 7000 Lire pro Nacht. Felix weiss nicht einmal, wie viel das umgerechnet ist. Er ist aber zufrieden mit seiner Unterkunft, die zwar insgesamt etwas düster ist mit dem in dunklem Holz gehaltenen Mobiliar, dafür aber geräumig und mit einem wunderbaren Ausblick auf den Hauptplatz und den Hafen und das Meer.
Im Zug nach Mailand findet Felix gerade noch einen Platz, um eingekeilt zu schlafen. In Mailand muss er den Wagen wechseln: er sitzt in einem, der nach Ancona und nicht nach Genua fährt. Der Bahnhof von Mailand: grossartig und hässlich, immer noch, wie damals. Es dauert eine Weile, bis Felix begreift, dass er ganz vorn einsteigen muss. Dann das Morgengrauen vor Genua, mit bleichen Farben, Bodennebel. Felix trinkt ein Bier, raucht eine Pfeife leer. Als der Zug hält, wird er vom Schaffner geweckt; der Bahnhof von Genua ist seltsam und bedrohlich, ein Labyrinth, und Felix ist vollkommen orientierungslos. Es ist sechs Uhr, die Banken sind noch geschlossen und Felix hat kein italienisches Geld. Die praktischen Geldautomaten, die man heute an jeder Strassenecke findet, gibt es anfangs der Achtzigerjahre natürlich noch nicht. Felix stolpert müde durch die Stadt, steile, schmutzige Gässchen rauf und runter, es ist neblig, aber warm, und dieser warme Nebel vermischt sich unangenehm mit den Abgasen des Morgenverkehrs. Die Füsse tun Felix weh, er ist kaputt, möchte zumindest einen Kaffee. Die Hauptstrassen finster und stinkig. Felix will zum Bahnhof zurückkehren, weiss den Weg nicht mehr, fragt sich durch, kommt tatsächlich zu einem Bahnhof, der aber ganz anders aussieht, weil es, wie Felix schliesslich herausfindet, ein anderer Bahnhof ist, es geht lange, bis Felix das begriffen hat, er ist verwirrt. Endlich kann er Geld wechseln, einen Capuccino trinken, etwas essen. Er hat vor, mit dem nächsten Zug von Genua wegzufahren, muss aber zwei Stunden im Bahnhof, diesmal dem richtigen, auf den Lokalzug nach La Spezia warten: er sitzt bloss so da auf seinem Rucksack und trinkt ein Bier und schaut den meist jungen Leuten zu, die zum Baden fahren. Sie sind sehr lebhaft, singen, spielen Gitarre und unterhalten sich gestenreich. Felix ist vor Erschöpfung nervös und die Glieder tun ihm weh. Der Zug hat natürlich Verspätung. Unterwegs hält er immer wieder für längere Zeit. Die jungen Leute sind in Hochstimmung. Felix blickt verstohlen zu ihnen hinüber und kommt sich alt vor, müde, verbraucht. In Sestri Levante muss Felix umsteigen. Er versucht mit zwei älteren Frauen ein Gespräch, versteht aber kaum ein Wort. Die schwarz gekleideten Frauen sprechen einen italienischen Dialekt, der wie Romanisch klingt. Bei jeder Station beugt Felix sich aus dem Fenster, um nachzuschauen, ob er schon an seinem Bestimmungsort, Vernazza, angekommen ist.
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Melancholische Tage in Vernazza
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In Vernazza scheint die Sonne: der kleine Ort gefällt Felix. Er hat Hunger und steigt zu einem Restaurant auf einem Turm direkt über dem Meer hoch. Er isst Fisch und gemischten Salat und trinkt einen halben Liter Weisswein, offen, aus der Gegend. Es schmeckt, erweist sich später als teuer. Ein deutscher Ex-Nazi will sich unbedingt mit Felix unterhalten. Er erzählt von seiner Soldatenzeit während des Krieges und von seiner Firma (er handelt mit Steinen). Er ist laut und herrisch wie ein wandelndes teutonisches Klischee. Er sagt, in welchem Zusammenhang auch immer: Brandt ist der grösste Verbrecher. Felix hat keine Kraft und keine Argumente, um sich gegen diesen sympathischen Herrn zu wehren oder ihn auch nur abzuschütteln.
Dann schläft Felix am Strand, erschlagen von der Sonne und einer weiteren Pfeife Haschisch.
Als er erwacht, ist es acht Uhr am Abend. Alle Glieder tun ihm weh, die Füsse sind aufgeschwollen. Die Fröhlichkeit, die Leichtigkeit der Leute, der er nichts entgegenzusetzen hat. Er sucht ein Zimmer für die Nacht, was sich als schwierig erweist, weil er in der einzigen Pension im Ort abgewiesen wird. Felix müsse in der Bar am Hauptplatz nachfragen, die hätten vielleicht eine Unterkunft für ihn. In der Bar wird Felix denn auch an den alten Mann verwiesen, der ihm die Wohnung am Hauptplatz von Vernazza für zwei Nächte vermietet. Felix isst Spaghetti mit Meerfrüchten und Salat, dazu genehmigt er sich wieder eine Flasche vom weissen Landwein.
Felix schläft ziemlich früh ein. Am nächsten Morgen ist er aber trotzdem immer noch müde. Ein Capuccino in einer Bar, dann ein Spaziergang auf einen der umliegenden Hügel, wieder dieser Nebel, diese drückende Hitze. Der Blick übers Meer ist dann allerdings fantastisch. Eine Kirche mitten in der Natureinsamkeit macht einen unheimlichen Eindruck auf Felix – er flieht den Ort, der Aufstieg hat ihn ermüdet. Er braucht ein Bier, er liest in einer Gartenwirtschaft, Max Frisch, «Montauk». Während einer Lesereise lernt Max Frisch in New York die halb so alte geschiedene Verlagsangestellte Lynn kennen. Sie verbringen das Wochenende vom 11./12. Mai 1974 in Montauk an der Nordspitze von Long Island, aber es ist von Anfang an klar, dass Frisch am Dienstag, den 14. Mai, zurück nach Europa fliegen und dort am nächsten Tag seinen 63. Geburtstag feiern wird. Ausserdem vereinbaren sie, sich nach dem Abschied weder anzurufen noch zu schreiben. Immerhin soll eine Ansichtskarte am 11. Mai 1975 erlaubt sein. Felix nimmt also in der Gartenwirtschaft lesenderweise Anteil an der Gedankenwelt von Max Frisch, dann raucht er in seinem Zimmer eine Pfeife, geniesst später den Rundblick vom Turm des alten Kastells. Er fühlt sich weder wohl noch unwohl, nur antriebsschwach. Es wird Abend, drunten auf dem Hauptplatz die schon erwähnte Polit-Veranstaltung, die bis zwölf Uhr in der Nacht dauern wird: die Lautsprecherstimme trägt die Reden über den ganzen Ort, man kann ihr nicht entgehen. Felix ärgert sich. Felix isst in einem Restaurant Nudeln, Salat, Fisch, trinkt Wein. In einer Bar nimmt er Kaffee, genehmigt sich einen Grappa. Zwei Jugendliche, die mit Kindern spielen, eine Jukebox spielt italienische Schlager, die Kinder tanzen. Lange schaut Felix Fussball spielenden Knaben in der Dorfstrasse zu. Er staunt darüber, wie sie ganz im Spiel, in der Bewegung ihrer Körper aufgehen: Neid.
Nun regnet und nieselt es, Felix wird nach Genua fahren, morgen wahrscheinlich zurück in die Schweiz. Er hat viel von Peter geträumt, an Peter gedacht: die gleichen Träume wie früher von seinem Klassenkameraden, nämlich dass er verraten, im Stich gelassen, mit anderen betrogen wird. Dieser Anspruch: Du musst mich lieben, wenn du mich nicht liebst, bin ich nichts. Ist Felix wirklich nicht weitergekommen? Wäre es wirklich diese Höllenfahrt, die Felix erwartet, wenn er sich seinem Innern stellen würde, statt immer nur zu flüchten? Ist seine Wahrheit so unerträglich? Ist es so schwer, das blosse Leben? Wieso ist die Wahrheit des Lebens für Felix manchmal so unerträglich, wieso kann er die Dinge nicht so sehen, wie sie eben sind, die Ereignisse, die Menschen? Weil er nicht weiss, wie sie sind. Weil er in solchen Momenten allem misstraut. Weil Felix das Leben zu begreifen müssen glaubt, damit ihn die Existenz nicht gewissermassen von hinten anfallen kann.
Eigentlich hätte Felix ja alle Voraussetzungen zum Glück, das ihm sein Name ja verheisst. Aber Felix zog es bisher sehr oft – zu oft – hartnäckig vor, unglücklich zu sein. Er hat ein hübsches Gesicht, einen gesunden Körper, einen angemessenen Intellekt: aber er zerstört Gesicht, Körper, Intellekt, anstatt sie zu geniessen. Warum? Als Felix in der Pubertät und wirklich unglücklich war (weil er mit seinen vielen Pickeln hässlich war, weil er sich eingestehen musste, schwul zu sein, weil er sein Anderssein erkannte, aber noch nicht erkennen konnte, dass das Anderssein seine grosse Chance ist), da dachte er, er müsse bloss die Schule hinter sich bringen, älter werden, erwachsen werden, unabhängig werden, er müsse bloss raus aus dem Spiesserkaff seiner Kindheit, dann werde er glücklich sein. Jetzt hat er diese Unabhängigkeit. Felix dachte, er müsse bloss Freunde, einen Freund finden, und alles werde gut. Er dachte, er werde Wein trinken und Hasch rauchen und Abenteuer erleben. Er werde Bücher schreiben, er werde Reisen machen. Aber ein unsichtbarer Schatten trennt die Realität von der Vorstellung, die er sich von ihr macht.
Felix erträgt es nicht, das schale Glück des Augenblicks. Er erträgt es deshalb nicht, weil er es schal nennt, das Glück des Augenblicks. Felix selbst ist es, der macht, dass es schal ist. Felix denkt, das Unglück sei seinem inneren Zustand angemessener als das Glück. Alles, was er anfasst, wirft er nach einer Weile enttäuscht weg. Es lohnt sich nicht, etwas aufzubauen. Für nichts kann Felix sich wirklich begeistern. Er interessiert sich nicht für andere Menschen, nicht für irgendetwas, bloss für sich selbst. Er hat keine Kraft, weil alle Kraft dafür aufgebraucht wird, Gefühle abzuwehren, Gefühle der Angst und des Schmerzes.
Wovor hat Felix Angst? Er weiss es nicht so genau, um den Kern seiner Angst macht Felix einen weiten Bogen. Ist es die Angst, abgelehnt zu werden? Felix fürchtet sich natürlich vor dem Tod, aber auch diese Angst ist vor allem deshalb so unangenehm, weil es primär eine Angst vor der Angst ist. Felix hat Angst davor, dass man Erwartungen an ihn stellt, die er zu erfüllen müssen und nicht zu erfüllen können glaubt. Felix will, dass die Menschen sich um ihn kümmern, ohne etwas von ihm zu wollen. Es gibt aber keine Sicherheit, das Richtige zu tun. Felix möchte, dass das Leben wie ein spannender Film sei, den er risikolos von aussen mitverfolgen kann. Felix hat Angst davor, ins Leben einzutauchen wie in einen reissenden Strom. Tief innen hat er aber noch viel mehr Angst davor, vom Leben abgetrennt, innerlich abgeschnitten zu sein.
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Abschied von Peter
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Ein Jahr mit Peter neigt sich jetzt seinem Ende zu. Trennung ist angesagt, für einige Zeit wenigstens, in der beide, Peter und Felix, versuchen werden, weiterzukommen, jeder für sich selber, was Peter zweifelsohne problemlos gelingen wird; Peter konnte schon immer gut ohne Felix leben. Felix ist zwar ohne Bitterkeit, aber glücklich ist er deswegen nicht. Der Weg, auf den er sich begibt, erscheint ihm mühsamer denn je. Am Mühsamsten empfindet er den Umstand, dass er diesen Weg allein gehen muss: und dass er auf diesem Weg mit noch nicht genau zu definierenden Dingen rechnet, vor denen er sich aber jetzt schon fürchtet. Dabei hat er doch auch schon (und gerade durch Peter) die Erfahrung gemacht, dass er die Angst nur dadurch überwindet, dass er durch sie hindurchgeht. Beispielsweise erschien es Felix bisher unmöglich, ein schweres Motorrad zu fahren – und heute hat er es getan. Peter hat ihn gewissermassen dazu gezwungen, indem er ihn mit dem Motorrad irgendwo in der Pampa einfach stehen liess, was Felix für eine gewisse Zeit in Panik versetzte. Aber jetzt freut er sich, weil er es tatsächlich geschafft hat, allein auf dem Motorrad nach Hause zu fahren – sogar eine Art Hochgefühl stellte sich ein, wenn entgegenkommende Motorradfahrer ihn auf der Strasse lässig und selbstverständlich mit dem Töfffahrergruss bedachten.
Felix wird in Zukunft die Aufgabe haben, sich seine «Bewährungssituationen» wieder selbst auszusuchen – das ist unausweichlich. Und er wird selbst einen Ausweg aus der bleiernen Langeweile, die Folge seiner Mutlosigkeit ist, finden müssen.
Peter hat bei Felix – in der Rückschau und über die ganze Zeit ihres Zusammenseins gesehen – in der Tat einen mächtigen Eindruck hinterlassen. Wo Felix anfangs bei Peter «Fehler» ausgemacht hat, über die er sich ärgerte, sieht er heute vor allem Möglichkeiten, zu lernen. Peter ist zwar wirklich kein sehr rücksichtsvoller Mensch, das kann man beim besten Willen nicht behaupten, aber er ist dafür ehrlich und wenn er Felix seine Zuneigung zeigt, dann weiss dieser, dass sie nicht gespielt ist. Felix empfindet Peter eigentlich als den einzigen Menschen, der bis jetzt Interesse an dem gezeigt hat, was Felix wirklich ist. Peter hat sich über vieles an Felix geärgert und ihm diesen Ärger auch gezeigt; aber Felix hat sich von Peter auch wirklich geliebt gefühlt.
Und Felix? Felix hat Peter natürlich auch geliebt, und wie, aber manchmal – oft – hat er sich selbst ein Bein gestellt dabei und hat seine Liebe in Verunsicherung umschlagen lassen. Und wenn Felix über seine Unfähigkeit, Peter zu lieben, stolperte, grollte er deswegen seinem Freund auch noch. Aber wie leicht sich solche Gedanken denken, und wie schwer ist es, die Konsequenzen daraus zu ziehen!
Felix muss sich verändern, da gibt es nichts zu diskutieren. Er will sein Leben nicht mehr ans Unglück vergeuden. Deshalb ist die Idee der Indienreise, die geplante und beschlossene Sache ist, auch so gut. Diese Reise wird Felix ganz auf sich selbst zurückwerfen und ihn zwingen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Er wird allein unter fremden Menschen mit einer fremden Art zu leben sein: er wird sich nicht auf seine Gewohnheiten verlassen können, er wird radikal in Frage gestellt werden, er wird Zeit haben, sich selbst zuzusehen, wie er sich in all den vielen konkreten Situationen des grossen fremden Lebensspiels bewähren oder auch nicht bewähren wird. Er wird sich weit gehend vom Zufall treiben lassen – oder vom Schicksal. Er freut sich darauf. Er freut sich auf die überraschenden Begegnungen, auf die endlos langen Stunden im Zug, im Bus, er freut sich auf das unendliche Theater des Lebens, dieses Auf und Nieder von Farben, Bewegungen, Tönen, Gerüchen, er freut sich auf die Wüste und den Ozean. Er freut sich auf die Bergtäler Nepals und auf die Strände Sri Lankas. Und er weiss, dass er auch Armut, Schmerz und Leid begegnen wird. Vieles für die Zukunft wird sich auf dieser Reise entscheiden. Felix hofft, danach besser zu wissen, wie er den Rest seines Lebens verbringen soll (da hofft er allerdings vergeblich). Aber richtig ist: er steht (wieder einmal und nicht zum letzten Mal) an einem Scheideweg. So wie bisher kann er nicht weiterleben, die Schlangenhaut muss abgestreift werden. Welcome to the machine!
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