Mittwoch, 19. Dezember 2007
Der Militärputsch
Der Film Zincirbozan beleuchtet eine geschichtliche Episode, die mit der Ermordung des Journalisten Abdi Ipekci bagann sowie die Terrorvorgänge, die zum Militärputsch am 12. September 1980 führten. Der Umgang der Politik mit den Geschehnissen dieser Zeitperiode, der Militärputsch und wie die Parteiführer damals ins Exil getrieben wurden sind Themen von Zincirbozan, der von teilweise unbekannten Aspekten dieser Zeitgeschichte handelt. Die Hauptfiguren von Zincirbozan sind die wichtigen politischen bzw. militärischen Protagonisten der Jahre 1979 bis 1983, die als die bewegtesten der jüngsten türkischen Geschichte angesehen werden können. Der Titel basiert auf der Militäreinrichtung in Zincirbozan in der Provinz Canakkale, in der einige Politiker nach dem 12. September interniert wurden.
Es geschieht auf der Fahrt im Bus zwischen Alanya und Mersin. Wieder ist Felix der einzige Europäer im Bus. Um elf Uhr in der Nacht ist er losgefahren und jetzt entsprechend müde: anderntags um neun oder so soll Felix in Adana schon ziemlich im Osten der Türkei ankommen. Er dämmert so vor sich hin, aus dem Radio erklingen leise türkische Schlager und die anderen Fahrgäste, die Frauen mit ihren Kopftüchern, die Männer mit ihren imposanten Schnauzbärten und die Kinder mit ihren Schnudernasen dösen ebenfalls mit nach vorn oder hinten gefallenen oder durch die Fahrt über Schlaglöcher leicht hin- und herschwankenden Köpfen.
Plötzlich, irgendwann in dieser Nacht, Unruhe im Bus: das Radio bringt jetzt keine Schlagermusik mehr, stattdessen ist eindringlich und pathetisch eine harte, metallische, militärische Männerstimme zu hören, dann Marschmusik. Die Türken im Bus diskutieren erregt, jede Spur von Schläfrigkeit ist aus dem Fahrzeug hinweggefegt, und wenn Felix auch an Wortsinn nichts versteht, die Atmosphäre zeigt ihm an: etwas ist geschehen, etwas, dass das ganze Land aufwühlt, etwas Bedeutsames auf dem Gebiet der Staatsführung und Politik, ein Umsturz, denkt er, und erinnert sich daran, wie oft im Gespräch schon von der Möglichkeit eines solchen Umsturzes in letzter Zeit die Rede war.
Felix kümmert die Politik der Türkei zunächst einmal wenig, er ist aus persönlichen Gründen beunruhigt und auch ein wenig verärgert, denn er sieht Komplikationen auf sich zukommen, Verzögerungen seiner Reise.
Als sie in Mersin eintreffen, wird es bereits hell. Die Strassen der Stadt sind menschenleer, abgesehen von viel Militär, von Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag, von drohenden Panzern, von hin- und herfahrenden Armeejeeps. Die Geschäfte sind geschlossen, das öffentliche Leben der Stadt ist offenbar völlig zusammengebrochen. Bevor der Bus in die Stadt einfahren darf, werden die Passagiere ein erstes Mal von einer Militärpatrouille kontrolliert. Man will Pässe und Identitätskarten sehen und tastet sie nach Waffen ab; auch Koffer und Taschen werden geprüft.
Dann darf der Bus in den grossen Busbahnhof von Mersin einfahren. Inzwischen ist es heiss geworden, Felix würde gern einen Kaffee trinken, auch ist er hungrig. Und er würde natürlich gern wissen, was denn nun genau los ist. Jemand erklärt ihm in gebrochenem Deutsch, es handle sich um den seit langem erwarteten Militärputsch, General Evren habe die Macht ergriffen, um das Land von «Terrorismus» und «Anarchie» zu befreien. Es ist nicht zu ersehen, ob die Leute diesen Militärputsch begrüssen oder ablehnen, scheinbar gleichmütig fügen sie sich in das, was ihnen als Schicksal widerfährt. Und das heisst vorerst: warten – auch für Felix. Einfach warten, ohne zu wissen, ob und wann und wie es weitergeht.
Warten hat Felix schon immer nervös gemacht, und dieses Warten in Ungewissheit macht ihn fast verrückt. Wieder einmal verflucht er jene Antriebskraft, die ihn dazu verführt hat, diese Reise zu machen. Warum reist man überhaupt? Doch nur, um in Schwierigkeiten zu geraten! Er raucht eine Zigarette nach der anderen und ergeht sich hektisch zwischen den wartenden Autobussen und den gelassen im Schatten sitzenden Türkinnen und Türken – Frauen, Männer, Kinder, redend, rauchend, scherzend, essend. Das Warten dauert stundenlang.
Endlich fährt ihr Bus weiter nach Adana. Unterwegs auf den Strassen ein paar andere Busse, aber sonst kein nichtmilitärischer Verkehr. Felix ist müde und deprimiert.
In Adana angekommen, bleibt der Aktivitätsradius der Reisenden erneut auf das Areal des Busbahnhofs beschränkt, es herrscht Ausgangssperre total für die ganze Stadt, rund um die Uhr, Busse fahren jetzt keine mehr weg und es kommen bald auch keine mehr im Busbahnhof von Adana an. Die Getränke-, Früchte- und Lebensmittelstände, die zu diesem unglaublich hässlichen Busbahnhof gehören, sind schon bald leergekauft; trotzdem besorgen ein paar junge, durch die Ereignisse in ihrer Lebensfreude offenbar uneingeschränkte Türken für Felix irgendwo Käse, Brot, Trauben, Tee und Zigaretten – gratis und franko. Sie schwatzen mit Felix, auf Kisten hockend, fragen ihn aus über Europa, die Schweiz und natürlich über die Schweizer Mädchen – sie wollen alle, dass Felix ihnen Schweizer Mädchen vermittelt, die sie dann heiraten können. Über den Putsch äussern sie sich nur vage, sie haben offensichtlich keine eindeutige Meinung dazu, der Putsch scheint sie auch wesentlich weniger zu interessieren als die Frage der heiratswilligen Schweizer Mädchen, von deren Schönheit und Wohlhabenheit sie vage haben munkeln hören.
Adana
Es wird Abend und einer der neuen Freunde redet für Felix mit einem wachhabenden Soldaten, der es möglich macht, dass Felix in einem der Hotels an der Peripherie des Busbahnhofs übernachten kann. Felix hat sich selten so auf ein Bett gefreut. In diesem Hotel logieren auch einige andere Europäer, unter anderem ein Holländer, der Felix auf ein Glas Wein in sein Zimmer einlädt (in so einer Situation kommen sich Fremde, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, rasch näher); er ist Schriftsteller und arbeitet an einem Buch über die Kurden. Gestern noch sei er im nahe gelegenen Kurdengebiet gewesen und auf abenteuerlicher Fahrt nach Adana zurückgelangt; die Kurden würden unter dem Putsch besonders zu leiden haben, diese Autonomisten und ewigen Rebellen hätten von der Ruhe-und-Ordnung-Politik der Generäle nichts Gutes zu erwarten. Er kehre nach Istanbul und dann nach Holland zurück; er habe genug Material für sein Buch, er könne es auch daheim fertig schreiben. Nachdem er Felix nach dessen Reiseplänen gefragt hat, rät er ihm dringend, schleunigst die Reiserichtung zu wechseln und ebenfalls nach Hause zurückzureisen. Um wie geplant nach Erzurum zu kommen, müsse Felix durch Kurdengebiet fahren, Busse könnten überfallen werden, und auch der Iran sei, wie Felix bestimmt wisse, Krisengebiet, überall würden die Revolutionswächter des siegreichen Ayatollah Khomeini ihr Unwesen treiben, auch spitze sich der Konflikt mit dem Irak zu.
Felix ist total verunsichert. Er will weiter; eine Umkehr erscheint ihm wie eine Kapitulation. Aber er hat auch Angst oder besser gesagt: er hat die Hosen quasi bis unter den Kragen gestrichen voll. Nun, erschöpft genug ist er, das Ganze erst einmal zu überschlafen.
Felix muss zwei Tage in Adanas Busbahnhof und dem schäbigen Hotel an seiner Peripherie ausharren, dann nimmt der öffentliche Busverkehr im Osten der Türkei ihren Betrieb wieder auf. Noch immer ist Felix unentschieden darüber, wie es weitergehen soll: zurück nach Europa oder weiter nach Indien? Da bietet man ihm ein Ticket nach Erzurum an; Felix kann die Entscheidung also wieder einmal dem Schicksal überlassen. Er nimmt sich immerhin vor, die Türkei so schnell wie möglich zu verlassen. Viele Stunden fährt Felix durch Bergland Richtung Norden; in Elazig wechselt er den Bus, unterstützt von einem jungen Soldaten, der in Erzurum seinen Dienst anzutreten hat und Felix seine Freundschaft anbietet (wie sie ihm so oft auf dieser Reise von Türken angeboten wird). Wieder viele Kontrollen, vor, in und nach jeder Ortschaft, die sie passieren – Leibesvisitationen, Gepäck- und Ausweiskontrolle, Felix gewöhnt sich allmählich daran, und er wird nicht auch nur ein einziges Mal schlecht behandelt, im Gegenteil, man gewährt ihm als Fremdem in der Regel sogar eine Vorzugsbehandlung.
Elazig
Nach zwei Tagen und zwei Nächten unterwegs kommt Felix endlich im Busbahnhof von Erzurum an; er erwischt gerade noch ein Taxi, um vor der Ausgangssperre, die jetzt (oder in diesem Teil des Landes) auf 18 Uhr festgelegt ist, in einem Hotel unterzukommen. Erzurum liegt in karger Wüsten- und Steppenbergwelt und ist schon sehr viel mehr Asien als der westliche Teil Anatoliens; die Bräuche und das Aussehen der Menschen sind «orientalischer», das zwanzigste Jahrhundert hat hier noch nicht im selben Mass Einzug gehalten wie in der Westtürkei.
In seinem Hotel lernt Felix zwei junge Deutsche kennen, den Wolfgang und den Christian aus Hofheim bei Frankfurt, beide nach dem Abitur und einem Jahr Zivilschutz ebenfalls auf dem Weg nach Indien. Sie schliessen sich sofort ganz selbstverständlich zusammen und wollen gemeinsam weiterreisen. Aber vorerst bleiben sie noch für ein paar Tage in Erzurum. Tagsüber lassen sie sich durch die von buntem orientalischem Leben durchpulste Stadt treiben; nach achtzehn Uhr aber sind die Strassen auf einen Schlag leergefegt und Polizei und Militär dominieren den öffentlichen Raum. Also spielen sie in Teehäusern Tavla, das Brettspiel, oder unterhalten sich in Bierhallen mit Einheimischen: da merkt man eigentlich nicht viel von den politischen Umwälzungen. Nur Zigaretten werden zur Mangelware. Wird ein Kiosk mit den begehrten Glimmstängeln beliefert, hängen die türkischen Männer in Trauben davor und schon nach wenigen Minuten ist der Laden ausverkauft. Wenn Felix und seine neuen Freunde jetzt Zigaretten geschenkt bekommen, ist das schon ein besonderes Entgegenkommen. Weil sie Ausländer sind – und die drei scheinen die einzigen Ausländer in der Stadt zu sein – verkauft man ihnen in einem staatlichen Tabakbüro ein paar Extrapackungen extrastarke und extrakratzige Bafras und serviert ihnen Tee.
Erzurum
Am Abend sitzen sie inmitten einer Gruppe von Türken in der Teestube ihres Hotels und schauen wie die anderen in die Glotze, welche die Quadratschädel der nun regierenden Generale zeigt. General Evren hält eine ziemlich lange Rede, in der ziemlich oft von Terrörismus die Rede ist. Die Türken nehmen diese Rede zur Kenntnis und reagieren weder sichtlich zustimmend noch sichtlich ablehnend darauf.
Später in der Nacht sitzt Felix mit Christian und Wolfgang in einem ihrer Zimmer und hört ihnen zu, wie sie aus ihrem Leben erzählen, lauscht ihrem jugendlichen Lebensdurst, saugt ihre Neugierde auf und wird erneut angesteckt von und infiziert mit Abenteuerlust, so dass sich seine bisherige Mutlosigkeit gänzlich verliert. Sie erzählen von Syrien, wo sie auf dieser Reise auch schon waren, und von Deutschland, von ihrem Zivildienstjahr, von exzessiven Festen, vom Hofheimer Jazzkeller, von zurückgebliebenen Freunden – den Hofheimer Freaks –, Geschichten, wie Felix sie in den nächsten Wochen und Monaten noch oft zu hören bekommen wird, sodass ihm der Lebensraum, aus dem seine neuen Freunde kommen, schliesslich fast zur Selbstverständlichkeit wird, so, als hätte er deren Vergangenheit persönlich miterlebt (als Felix eine geraume Zeit später dann Hofheim einmal besucht, wird ihm allerdings klar, wie subjektiv eingefärbt diese Erinnerungen waren, an denen er so intensiv teilgenommen hat).
Nach ein paar Tagen müssen sie sich bereits von Erzurum losreissen, und so ist es eigentlich immer auf dieser Reise: hat Felix sich mit einer Stadt, einer Landschaft ein bisschen vertraut gemacht, so bedeutet das in dieser Fremde immer schon ein Stück Heimat und jeder erneute Aufbruch erfordert wieder den Mut des erneuten Abschiednehmens, das eine Konzentration der Kräfte bedingt. Das Aufbrechen bringt das bittersüsse Gefühl des erneuten Sichpreisgebens und Loslassens mit sich.
Östlich von Erzurum wird die steppenartige Landschaft immer zivilisationsärmer und menschenleerer; endlos kämpft sich der Bus mit dem halbdefekten Motor durch die Weite und die Haarnadelkurven am Fuss des schneebedeckten Ararat; in der letzten Ortschaft vor der persischen Grenze, einem erbärmlichen, sandwinddurchtosten Kaff, müssen sie den Bus wechseln und steigen in ein mit angeheiterten Persern reichlich gefülltes Gefährt, das sie weiter bis zur Grenze bringt.
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Was war da eigentlich los?
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1975 wurde der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Bülent Ecevit vom Vorsitzenden der Gerechtigkeitspartei (AP), Süleyman Demirel im Amt des Ministerpräsidenten abgelöst. Er ging mit der fundamentalistisch ausgerichteten MSP und der rechtsradikalen MHP eine Dreiparteienkoalition der «Nationalistischen Front» ein. Bei den Neuwahlen von 1977 konnte sich weder die CHP noch die AP durchsetzen. Zunächst konnte Demirel seine Koalition der «Nationalen Front» fortführen. 1978 gelang es Ecevit, nun durch Parteiwechsler gestärkt, die Koalition zu stürzen und selber eine Koalitionsregierung zu bilden. 1979 kam wiederum Demirel an die Macht. Das Bild der Türkei ist Ende der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts geprägt durch fehlende politische Stabilität, ungelöste wirtschaftliche und soziale Probleme, Streiks und Gewalt links- und rechtsextremer Gruppen. Die Politik und die Sicherheitskräfte scheinen ausserstande, die Gewalt zu bekämpfen. Den Kämpfen zwischen «Links» und «Rechts», aber auch zwischen linken Gruppierungen, die bürgerkriegsähnliche Züge annehmen, fallen mehr als 5000 Menschen zum Opfer.
In dieser Situation putscht sich das Militär am 12. September 1980 zum dritten Mal an die Macht. Putschistenführer General Kenan Evren verhängt über das Land das Kriegsrecht und verbietet alle politischen Parteien. Die Regierung wird des Amtes enthoben, Gewerkschaften, Vereine und Stiftungen werden verboten und ihre Funktionäre vor Gericht gestellt. Der Putsch richtet sich vornehmlich gegen die aufkeimende kurdische Befreiungsbewegung sowie gegen linke und kommunistische Kräfte. Tausende von politischen Gefangenen werden gefoltert und zum Tode verurteilt. Die Meldung in Cumhuriyet vom 12. September 1980 (auch zu finden auf der türkischen Seite zum Militärputsch vom 12. September 1980) spricht von 650000 politischen Festnahmen, 7000 beantragten, 571 verhängten und 50 vollstreckten Todesstrafen und dem nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen. amnesty international nennt die Zahl von 47 nachgewiesenen Todesfällen unter Folter (40 davon von der damaligen türkischen Regierung zugegeben) und weiteren 159 Fällen, in denen der Verdacht auf Folter als Todesursache nicht ausgeräumt werden kann. Die PKK zieht sich schon ein Jahr zuvor teilweise aus der Osttürkei in den Libanon zurück, nach dem Putsch werden alle Gruppen ins Ausland gerufen. Türkische oppositionelle Gruppen gehen ebenfalls ins Exil, die meisten nach Europa.
Die These, dass der Putsch von der NATO und den USA unterstützt wird, stützt sich auf drei Argumente. Im Rahmen der OECD leisten verschiedene NATO-Länder in den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts eine umfangreiche Militär- und Wirtschaftshilfe an die Türkei. Es wird ein türkisch-amerikanischer Verteidigungsrat gegründet, mit dem die USA die Stationierung der Spezialeinheit schnelle Eingreiftruppe (Rapid Deployment Force = RDF) besonders in Ostanatolien forcieren will. In dem Buch von M. Ali Birand, «12. September, 4 Uhr» (1984) wird beschrieben, wie der Berater des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Paul Henze, der zwischen 1965 und 1970 bei der US-Botschaft in Ankara tätig ist, die Nachricht vom Militärputsch in der Türkei an den Präsidenten der USA, Jimmy Carter, der sich im Kennedy-Center das Musical «Fiedler auf dem Dach» anschaut, mit den Worten «Unsere Jungs (in Ankara) haben es getan» («Our boys did it») überbringt. Dies wird im Juni 2003 von Paul Henze bestritten, aber kurz darauf veröffentlicht M. Ali Birand eine Kassette mit einem Interview von Paul Henze in Washington im Jahre 1997 im Fernsehsender CNN Türk, wo Paul Henze lediglich bestreitet, dass er die sinngemäss korrekt wieder gegebene Nachricht selber überbracht habe.
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