Freitag, 21. Dezember 2007
Im Land der Revolutionsgardisten
Der Berg Ararat
Die türkisch-iranische Grenze zieht sich durch eine kahle Gebirgslandschaft; da kann es Ende September schon recht kalt sein. Die erste persische Ortschaft liegt einige Kilometer hinter dem Grenzposten. Eine schier endlose Reihe schwerer Lastzüge auf türkischem und, vom Iran her kommend, auf iranischem Gebiet. Das ewiglange Warten im Regen, im Wind. Am Grenzposten selbst gibt es keine Verpflegungsmöglichkeit, nicht einmal die Gelegenheit, einen heissen Kaffee oder Tee zu trinken. Uniformierte stehen herum. Felix und seine deutschen Freunde warten und frieren, wissen lange nicht, dass sie erst am nächsten Tag abgefertigt werden. Es wird Nacht, ihr Bus mit dem Gepäck ist versiegelt, neben der langen Kolonne von Lastwagen kochen die persischen und türkischen Fernfahrer in rauchigen Unterständen Kaffee. Wieder einmal kommen die Mitteleuropäer in den Genuss orientalischer Gastfreundschaft. Und sie erfahren, dass sie, wenn sie irgendwo im Trockenen übernachten wollen, schon in den ersten Ort hinter der iranischen Grenze müssen: da gibt es Pensionen, und es gibt Taxis, die zwischen der Grenze und der Ortschaft verkehren. Offenbar ist das grenztechnisch kein Problem.
Die Strassen dieser Ortschaft sind menschenleer, die Pension, in der sie schliesslich unterkommen, ist ein Dreckloch, das sie mit einem dicken Iraner jüdischer Herkunft zu teilen haben, der Felix schon unterwegs im Bus wortreich seine geschäftlichen Misserfolge, seinen Ärger mit der Gattin und seine Umstände mit der neuen Regierung Khomeinis beklagt hat. In einer leeren Kneipe serviert ihnen ein mürrischer Wirt Rührei mit Brot und Coca Cola, im Iran trotz islamischer Revolution – und obwohl die USA der Todfeind sind – das Nationalgetränk Nummer eins.
Anderntags wieder im Bus auf der über tausend Kilometer langen Strecke über Täbris nach Teheran. Wolfgang ist krank, hat sich im kalten Regen an der Grenze eine Halsinfektion geholt, fiebert jetzt: sie füttern ihn mit Codeintabletten, aber das hilft wenig. Dreimal im Tag hält der Bus bei einer Art Motel. Sie kriegen gegen Lebensmittelchips das immer gleiche Menu vorgesetzt: Reis, Hühnchen, einen Teller mit Zwiebeln, mit Wasser verdünntes Joghurt und natürlich die unvermeidliche Cola. Sie werden – als Ungläubige – konsequent immer erst als letzte bedient: Jetzt ist es vorbei mit der orientalischen Gastfreundschaft, die sie sich von der Türkei her gewohnt waren. Oder doch nicht ganz. In einem dieser Motels bietet ihnen ein Iraner an ihrem Tisch zum Tee ein kleines Kügelchen in Zeitungspapier gewickeltes Irgendwas an, das sie schlucken sollen, das sei die reinste Medizin; es ist Roh-Opium, und die nächsten paar Stunden der Reise werden ganz angenehm.
In Teheran kommen sie an einem frühen Sonntagmorgen an, weit ausserhalb des Stadtzentrums. Ein Taxi fährt sie zu einem übersetzten Preis in die Nähe des Khomeini-Squares, in die Gegend der Billighotels, in der sich auch das früher in der Travellerszene auf dem Hippie Trail legendäre, jetzt geschlossene Hotel Kabir befindet.
Aber sie haben Mühe, ein Zimmer zu bekommen. Man empfängt sie meist mit abweisenden Mienen, behauptet, man sei ausgebucht. Die Leute scheinen Angst zu haben, sie zu beherbergen. Fremde sind offiziell unerwünscht in der neuen islamischen Republik. Doch dann kommen sie doch noch irgendwo unter.
Teheran mutet auf den ersten Blick westlich an und ist nach der «Rückständigkeit» Anatoliens eine geradezu «moderne» Stadt. An diesem Sonntag wirkt sie etwas leblos, auf der Strasse sieht man nur wenige Menschen, es gibt in dieser Gegend auch relativ wenig Verkehr und sie suchen lange nach einem offenen Teehaus. Die Perser trauen sich nicht so recht, mit den Fremdlingen Kontakt aufzunehmen, obwohl es den Anschein hat, als ob viele dies gern tun würden. Unsere drei Freunde, die alle blondschopfig (und damit visuell äusserst exotisch) sind, fühlen sich etwas verloren in dieser Stadt.
Am Abend die Schwulen vor dem Hauptpostgebäude, das den Khomeini-Square abschliesst; sie versuchen, die drei jungen Fremden anzumachen, und Felix kommt mit einigen von ihnen ins Gespräch. Sie sind allesamt kreuzunglücklich über die neue Situation in ihrem Heimatland, sie fühlen sich unter der Herrschaft der Mullahs nicht nur noch eingeschränkter als vorher schon, sondern sogar bedroht, und sie vermissen Whisky und anderes Feuerwasser, von dem sie heute nur noch träumen können.
(Die Menschenrechtsorganisation «Human Rights Watch» beschreibt – viele Jahre später – die Strafen, die in der Islamischen Republik bei Homosexualität verhängt werden: Demnach steht laut Paragraf 111 des Strafgesetzbuches auf Sex zwischen zwei Männern die Todesstrafe. Die Paragrafen 121 und 122 bestrafen das «Vorspiel» ohne Penetration mit 100 Peitschenhieben für beide Partner. Nach dem vierten Vergehen wartet die Exekution. Nach Paragraf 123 gibt es 99 Peitschenhiebe für nicht verwandte Männer, die «nackt unter demselben Laken liegen, ohne dass dies nötig wäre». Die Paragrafen 127 bis 134 regeln lesbische Beziehungen, die mit bis zu 100 Hieben geahndet werden. Auch hier gibt es beim vierten Urteil die Todesstrafe. Inwiefern diese Strafen im Verlauf der Geschichte der islamischen Republik angewandt wurden und werden, ist natürlich eine andere Frage und änderte sich auch immer wieder. Unter Chatami war die Situation, zum Beispiel im Vergleich zur Situation unter Khomeini oder auch wieder unter dem heutigen Präsidenten Ahmadinedschad, relativ liberal. Auch scheint es so, dass die Lage von Schwulen in der Stadt viel besser ist als von Schwulen in der Provinz, was ja anderswo tendenziell auch nicht anders ist. Wenn man im Internet recherchiert, stösst man auf widersprüchliche Informationen. Sicher ist, dass es in Teheran trotz der desolaten gesetzlichen Lage immer eine mehr oder weniger versteckt agierende Gay Scene gegeben hat. Befragt man iranische Schwule, sagen sie, es sei in der iranischen Männergesellschaft relativ leicht, sich zu tarnen, da es in ihr auch unter Heteros durchaus nicht unüblich sei, Hand in Hand durch die Stadt zu flanieren oder sich mit einem Küsschen zu begrüssen. Wie da wohl die aggressive Schwulenfeindlichkeit der iranischen Gesetze mit der unterschwelligen Homoerotik der iranischen Gesellschaft zusammenhängen mag?).
Nach zwei Tagen in Teheran macht unser Trio sich auf zum grossen Busbahnhof, weil sie weiterkommen müssen. Felix hat bloss ein Transitvisum von einer Woche, um den Iran diagonal von Nordwest nach Südost zu durchqueren und es liegen noch über tausend Kilometer bis Zahedan, der letzten Station vor der pakistanischen Grenze, vor ihnen. Dieser Busbahnhof ist überfüllt mit Menschen; sobald jemand mit Felix und seinen Freunden Kontakt aufnehmen will, wird er von einem der überall anwesenden Revolutionsgardisten scharf zurechtgewiesen. Einer dieser Gardisten tritt schliesslich mit der Absicht auf sie zu, sie auf Drogen oder Pornographie oder sonstige Anstössigkeiten zu filzen. Sie müssen ihm in einen fensterlosen Raum folgen, wo er ihr Gepäck äusserst gründlich durchsucht. Felix hat wieder einmal einen metallischen Geschmack im trockenen Mund und Adrenalin im Blut, und eine unsichtbare Faust hält seine Eier umklammert. Anfangs ist der Revolutionsgardist, ein junger bärtiger Kerl mit kohlenrabenschwarzen Augen, sehr grob und unfreundlich; als er aber nichts Belastendes findet, wird er plötzlich sehr zudringlich, will sie umarmen und küssen und wohl noch ganz anderes mit ihnen anstellen, aber jetzt ist die Reihe an unseren Reisenden, energisch zu werden, und zwar im abweisenden Sinn. Was bildet sich dieser heuchlerische Kerl bloss ein? Oder ist dieser «Annäherungsversuch» nur ein Trick, um sie reinzulegen? Niemand wird es je erfahren. Schliesslich lässt er sie jedenfalls anstandslos ziehen, was sie denn auch mit ein wenig zitterigen Knien tun, froh, wenig später in einem ganz komfortablen Reisebus zu sitzen, unterwegs nach Belutschistan und neuen Abenteuern entgegen. Einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag soll diese Etappe der Reise dauern, vorbei an Quom, an Isfahan, vor allem aber durch kahles Steppen- oder Wüstengebiet, in dem am meisten die komplette Abwesenheit der Farbe Grün auffällt. Die Welt scheint nur noch aus Trockenheit, Monotonie, Hitze und Staub zu bestehen. Felix schläft oder döst die meiste Zeit vor sich hin; neben ihm sitzen abwechselnd zwei hübsche, vielleicht sechzehnjährige Jungs, deren Farsi einen erregend weichen Tonfall hat, wobei die Endsilben lange gedehnt werden (so stammen sie zum Beispiel aus Kernaaaan). In der Nacht lehnt der Kopf des einen schlafend an seiner Schulter, dann ruht die Wange von Felix auf dessen schwarzglänzendem Haar; durch sein Dösen zieht sich ein träger Reigen erotischer Bilder, die ihn in einen eigenartig entrückten, beinahe tranceähnlichen Zustand versetzen.
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Die Wüste Belutschistan
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In Zahedan, der südpersischen Stadt am Rande der Wüste Belutschistan, haben sie wiederum Mühe, eine Unterkunft zu finden. Man behandelt sie überaus frostig und verlangt horrende Preise für schäbigste Zimmerchen. Das verstärkt ihren Wunsch, den ungemütlichen Iran so rasch wie möglich zu verlassen. Es trennen sie auch nur noch wenig mehr als hundert Kilometer von der Grenze zu Pakistan.
Es gibt keinen geregelten Busverkehr und auch keine asphaltierten Strassen zwischen Zahedan und dem iranisch-pakistanischen Grenzposten; aber es fahren in Japan fabrizierte Kleinlastwagen dorthin, sie transportieren Waren in die grenznahen Dörfer und nehmen Reisende gegen ein Entgelt auf der Ladefläche mit. Felix, Wolfgang und Christian vermummen also ihre Gesichter mit Tüchern gegen den herumwirbelnden Sand in der Luft und fahren ein paar Stunden über holprige Sandpisten in der Hitze und im Staub – das ist zwar ziemlich unbequem, verpasst ihnen aber als kostenlose Zugabe das perfekte Marlboro-Indiana-Jones-Feeling von Freiheit und Abenteuer. Auch Karl May kommt Felix in den Sinn, Felix hat als Kind sämtliche Karl May-Bücher gelesen, Reminiszenzen an die Lektüre von «Im wilden Kurdistan» und «Der Schut» klingen in ihm an. Jetzt gibt es gar kein Grün mehr in der Umgebung, selbst die paar wenigen kümmerlichen Bäume sind gelblich und schmutziggrau, die Dörfer, die sie durchqueren, liegen vertrocknet und von der Sonne völlig ungeschützt in der Wüste, die Leute, die hier wohnen, leben, wie es Felix scheint, in einem Kaff am Rand der Hölle. Selbst jetzt, im Herbst, ist es unerträglich heiss; im Sommer muss es hier nicht bloss wie am Rand, sondern wie mitten im Zentrum der Hölle sein.
Schliesslich der Grenzposten, ein paar vereinzelte, niedrige Gebäude, ein paar buntbemalte Fahrzeuge, ein Zeltlager, kein Baum, kein Strauch. Die Grenzformalitäten verlaufen denn auch entsprechend unkompliziert – das ist offenbar kein wichtiger und eigentlich auch kein richtiger Grenzübergang, obwohl er eine sehr einschneidende kulturelle Grenze markiert. Jedermann könnte problemlos von der einen auf die andere Seite dieser imaginären Grenzlinie spazieren. Hier tragen die Männer Turbane und Pluderhosen, hier ist es endgültig vorbei mit der westlichen Zivilisation, hier, an diesem unbedeutenden Grenzposten, liegt der Schnittpunkt zu der so völlig anderen südasiatischen Welt. Lastwagenfahrer und andere Männer hocken auf Matten und trinken Tee, Busse warten, und zwar überaus prachtvoll bemalte und mit falschem Silber verzierte Museumsmodelle, einzelne davon geschmückt wie ein Tannenbaum an Weihnachten. Es gibt hier immerhin eine Teestube und einen Stand, an dem man sich mit Melonen verpflegen kann. Es wird Abend und schnell Nacht, Felix und seine Freunde rollen ihre Schlafsäcke aus und übernachten im Sand unter einem wolkenlosen Himmel, der einen Vollmond trägt. Männer liegen auf Bettgestellen im Freien, der Duft von gebratenem Fleisch hängt in der Luft, ein Hauch von Musik weht herüber. Hektik ist an diesem Ort absolut unvorstellbar: wenn man hier etwas im Überfluss hat, dann ist es Zeit.
Sehr früh am Morgen, noch vor Anbruch der Dämmerung, fährt ihr Bus, eines dieser geschmückten Museumsmodelle, los, überaus vollgepackt mit Menschen, Hühnern, Schafen, Warenballen und Krügen. Die Passagiere quetschen sich nicht nur im Wageninnern zusammen, sondern hängen auch in Trauben auf dem Dach. So quält sich das Gefährt mühsam und kaum schneller als im Schritttempo schlingernd über die Sandpiste, und wenn es auch «nur» etwas über sechshundert Kilometer sind, die unsere Freunde von Quetta, der ersten grösseren Stadt auf pakistanischem Boden, trennen, so wissen sie doch: da wartet eine ebenso lange wie unbequeme Fahrt auf sie, aber auch eine Fahrt, die sie nie mehr vergessen werden. Bald tut der Hintern weh und wenig später der ganze Körper und dann auch an Stellen, von denen sie bisher nicht wussten, dass sie überhaupt im eigenen Körper existieren, denn das altertümliche Fahrzeug hat keine Federung. Es ist heiss und eng und stickig und es quält sie der Durst. Manchmal hält der Bus in einem Wüstendorf oder an einer Wasserstelle mit Ziehbrunnen, längs der Eisenbahnstrecke, die einst Quetta mit Zahedan verbinden sollte; da trinken sie brackiges, lauwarmes Wasser, was vielleicht keine besonders gute Idee ist, aber immer noch besser, als zu verdursten. Immer mal wieder muss am Bus ein Rad ausgewechselt werden, das dauert jeweils, zwei, drei oder auch vier Stunden; geschieht es des Nachts, dann werfen sich die Leute neben dem Bus auf mitgebrachte Decken, um augenblicklich einzuschlafen, und auch Felix und seine Freunde versuchen, sich trotz Erschöpfung, Durst und schmerzenden Gliedern – irgendwann gesellt sich bei Felix dann auch noch ein Dünnpfiff dazu – zu entspannen. Niemand murrt, dass es zu wenig rasch vorwärts gehe: der Fahrer, dessen Augen vor Anstrengung und Erschöpfung rot entzündet sind, und seine Helfer geben ihr bestes, da lernen auch die Mitteleuropäer, sich dem Schicksal zu ergeben.
Das Zeitmass dieser Fahrt lässt sich nicht in Worte fassen; irgendwann verliert Felix jedes Zeitgefühl, er existiert quasi nur noch auf einer vegetativen Ebene, vielleicht ähnlich wie die Schafe und Hühner auf dem Dach. Als sie endlich, endlich in Quetta ankommen – sie haben schon nicht mehr daran geglaubt, und die Stadt taucht wie eine Vision aus einem alten Western vor ihren Augen aus der Wüste auf –, sind sie so erschöpft, so erregt, so glücklich und so berauscht, dass sie es fast wie eine Heimkehr empfinden. Die Bettler, die fliegenden Händler, die Rikscha- und Tongafahrer drängen sich im Busbahnhof um sie, als wären sie die Radschas. So gleichgültig sind sie, dass sie ohne weiteres Feilschen auf das Angebot des erstbesten Tongafahrers eingehen, sie in ein Hotel in der Stadt zu fahren. Auf dieser Fahrt offeriert ihnen aus einem anderen Gefährt heraus jemand den Rest eines Joints, der jedem von ihnen einen einzigen tiefen Zug erlaubt, was aber bei allen drei sogleich die Hirnzellen explodieren lässt.
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