Montag, 3. Dezember 2007

Der Beginn einer therapeutischen Reise




Die Krk-Brücke, die die Insel mit Rjeka verbindet, wird erst 1980 dem Verkehr übergeben; Titograd

Jetzt steht das Küstengebirge im Gegenlicht, dafür ist die felsige Masse der Insel Krk näher gerückt, erscheint plastischer, greifbarer. Es ist Morgen, etwas nach sieben, Felix ist es im Zelt schon zu heiss geworden und er sitzt am Quai der kleinen Bucht, an der sich ihr Zeltplatz befindet. Er schreibt in sein schwarzes kleines Notizbuch. Es ist der vierte Tag seiner diesjährigen Sommerreise. Er reist, wie gesagt, mit Ernst, den man auf Berndeutsch auch Aschi nennt, und wie das herauskommt, die gemeinsame Reiserei, meinen wir, steht noch in den Sternen. Sie sind sehr verschieden, die beiden, auch in ihren Ansprüchen, und Ernst tendiert ernsthaft dazu, Felix ganz in Beschlag zu nehmen. Wenn es nach Ernst geht, soll dies eine «therapeutische Reise» werden – natürlich mit Ernst als Therapeut und Felix als Patient.

Nachdem Felix in der Nacht noch als Portier im Hotel Pergola gearbeitet hat, fahren sie am Morgen in Ernsts altem, klapprigen, weinroten Deux-chevaux über Thun, Interlaken, den Grimsel, die Furka, den Gotthard, das Tessin hinunter bis nach Como. Am nächsten Tag sind sie lange Stunden unterwegs auf einer langweiligen Autobahn bis kurz vor Triest. Das Autofahren macht Felix körperlich und psychisch Mühe. Nicht, dass er ein prinzipieller Autogegner oder gar Autohasser wäre, aber die Abgase der Autos in der warmen Luft und eine unbestimmte Unfallangst schnüren ihm den Atem ab. Doch dann sehen sie das Meer, und die Brust von Felix weitet sich wieder. Sie übernachten auf einem Zeltplatz in Sistiana, wo sie bei Wein ziemlich heftig über Theorie und Praxis diskutieren. Der gute Ernst ist, wie dem aufmerksamen Publikum bestimmt nicht entgangen sein dürfte, so ziemlich das pure Gegenteil von Peter, zumindest, was die Debatierlust angeht.
Sie passieren die jugoslawische Grenze. Grossartige Wildwestlandschaften, eine zerklüftete, bizarr geformte Küste. Das Verkehrschaos in Rjeka. Die unfreundlichen Kellner. Im Gegensatz zu Italien gibt es in Jugoslawien ganz scheusslichen Kaffee. Auf den Strassen sieht man vor allem deutsche Autos. Und jetzt sind sie eben auf diesem Zeltplatz zwischen Rjeka und Zadar, unmittelbar am Meer. Ein paradiesischer Fleck Erde, eine Meditationslandschaft, touristisch noch nicht ganz erschlossen.

Eins ist klar: Felix hat körperlich Mühe mit Ernst. Ernst möchte manchmal zärtlich sein mit Felix und dieser wehrt dann ab. Nein, Felix glaubt nicht, dass Ernst mit ihm schlafen will, er glaubt, dass Ernst sich vor dem Sex fürchtet, aber da irrt er gewaltig, wie wir als gottgleiche Autoren mit dem Adlerblick oder zumindest der Vogelperspektive gleich anführen müssen, es ist eher Felix, der sich vor dem Sex fürchtet, und zwar vor dem Sex mit Ernst.

Eine halbe Woche später. Felix ist momentan in der richtigen Siesta-Stimmung, obwohl es jetzt nach griechischer Zeitrechnung schon vier Uhr nachmittags ist, aber das ist eben auch die heisseste Tageszeit. Ja, es ist sehr heiss in der Gegend von Katerini im Juli, und Felix hat sich heute Morgen am Strand einen kleinen Sonnenbrand geholt. Im Übrigen hat er in dieser Hitze keinen allzu grossen Drang nach Aktivitäten, sondern fühlt sich eher zur Kontemplation geneigt (oder zum «Abschwimmen», wie Ernst es tadelnd nennt). Im Hier und Jetzt zu leben, das ist ein kategorischer Imperativ! Wer ihm nicht folgt, wird geteert und gefedert! Es wird also im Hier und im Jetzt gelebt und es wird auch nicht in die Zukunft geträumt, etwa dahin gehend, dass man sich als Felix vielleicht einen dunkelhäutigen braungebrannten und hoffentlich nicht allzu behaarten Griechen zu Gemüte führen könnte, was natürlich nicht im Sinn von Ernst wäre. Laut Spartacus, dem schwulen Reiseführer, sollen viele Griechen bisexuelle Neigungen haben; vielleicht erscheint das jedoch auch nur so, weil die Männer hier – ähnlich wie in Nordafrika – manchmal zärtlich miteinander sind. Felix will es jedenfalls nicht dem Zufall überlassen und sich dann in Athen mal ein bisschen bemühen, auch wenn Ernst das möglicherweise nicht passen wird.

Felix will ja eigentlich in seinem schwarzen Büchlein die Reise erzählend nachvollziehen, wird aber immer wieder abgelenkt, jetzt von zwei griechischen Jungen, die beieinander hocken und ein bisschen schwul tun, der eine hat den Arm um die Schultern des anderen gelegt, sie reden miteinander und streicheln sich dabei zwischendurch, legen die Hand auf die Oberschenkel des anderen etc. Felix zwingt sich zurück zu seinen Aufzeichnungen, er ist in Jugoslawien stehen geblieben, irgendwo zwischen Rjeka und Split. In Split unterbrechen sie ihre Reise, um die in den ehemaligen Diokletianspalast hinein gebaute Stadt zu besichtigen – Ernst ist Lateinlehrer und kann Felix alles bestens erklären. Am Abend sind sie wieder auf einem Zeltplatz (oder diesmal wohl eher an einem «Zelthang»), aber später kommt stürmischer Wind auf, sodass sie die Nacht schliesslich im Freien verbringen. Vorher essen sie am Strand, trinken Wein und Bier, Felix spielt Gitarre und gibt falsch und laut einige Lieder zum besten, da er sich zwar gerne, aber mit wenig Talent der Musik hingibt. Dann liest er auch noch, da besoffen, eine Geschichte vor, über die Eintönigkeit des Lebens, irgend so ein buddhistisches Zeug. Wieder einmal fühlt sich Ernst von der fast noch pubertären Naivität und exhibitionistischen Lebensfreude von Felix angezogen. Anderntags fahren sie weiter durch späteres Kriegsgebiet über Dubrovnic nach Montenegro hinein und übernachten in einem Hotel hinter Titograd (heute, 2007, seit 1992, wenn wir uns richtig erinnern, heisst Titograd wieder, wie früher, Podgorica). Titograd ist sehr fröhlich, mit autofreier Innenstadt und so vielen Menschen auf der Strasse, darunter auch etlichen Hand in Hand spazierenden Männern, dass Ernst meint, es müsse hier wohl ein Fest stattfinden. Aber da gibt es offenbar kein Fest, und in Titograd ist es manchmal einfach so an einem schönen Sommertag. Zwischen Titograd und Skopje Berge, Täler, Schluchten, dazwischen grüne Ebenen, japanische, spanische, schweizerische Landschaften, ein ganzer Film: ein Stück Albanien, ein Stück Orient, für Felix auch ein Stück Erinnerung an Nordafrika. Verschleierte Frauen in türkischen Pluderhosen, beturbante Männer auf Ochsenkarren, Moscheen. In Titograd haben Ernst und Felix einen Krach, aber darauf kommen wir später zurück. In Skopje wieder eine Zeltplatznacht, dann noch der Rest auf jugoslawischem Staatsgebiet, Fahrt an den ersten griechischen Strand dieser Reise.

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