Sonntag, 23. Dezember 2007

Hotel «City Belutschistan»




Das Hotel, zu dem sie gekarrt werden, ist das Hotel «City Belutschistan» und sieht aus, als hätte es sich aus einem Wildwestfilm über das letzte Jahrhundert materialisiert. Es handelt sich dabei um einen Familienbetrieb, geführt von sechs oder sieben Brüdern, jungen Burschen mit intelligenten Gesichtern, lebhaftem Temperament und schwarzglühenden Augen. Der älteste von ihnen nimmt sich ihrer sofort an und quartiert sie im besten Zimmer des Hotels ein. Dies ist sicher keine luxuriöse Unterkunft, aber immerhin ein gemütlicher und grosser Raum zu einem sehr günstigen Preis. Der junge Hotelier bringt ihnen sofort einen Kasettenrekorder und Kassetten mit westlicher Rockmusik: Doors, Jimmy Hendrix, J.J. Cale. Ungeachtet des grossen Warnschilds in der Rezeption («Please no no no smoking Hash here») präpariert er sogleich auf pakistanische Art eine Zigarette mit bestem schwarzem ölgepresstem Afghanen, von dem unsere Freunde nach wenigen Zügen total flachliegen – so starkes Haschisch wie in jener Gegend haben sie alle noch nie geraucht.

Die folgende Woche verbringen die Reisenden sehr angenehm und faul. Ihr Gastgeber besucht sie oft und erzählt viel vom Leben in Belutschistan, von seinen Beziehungen zur Polizei und von seiner weltumspannenden Dealertätigkeit per Postversand, indem er «Geschenksendungen» fachgerecht präpariert. Er zeigt ihnen die Shops, wo das Haschisch billig und gut ist – und «gut» heisst in diesem Zusammenhang von absolut hirnzertrümmernder Wahnsinnsqualität. Im Gegenzug dazu müssen unsere Freunde ein «Liquor-Permit» erwerben, das im muslimischen Land nur für Westler ausgestellt wird und es diesen erlaubt, in einem dubiosen Laden einen abscheulichen Whisky-Verschnitt zu beziehen. Auf diesen Fusel sind der Gastgeber von Felix und dessen Freunde ganz scharf: Das Verbotene ist halt immer das Interessante. Während es in Pakistan gang und gäbe ist, dass die Menschen oder wohl eher die Männer aller Altersklassen Haschisch und Rohopium konsumieren (wobei die Jungen eher Haschisch und die Alten eher Rohopium, wobei auch Formen des Mischkonsums nicht selten sind), ist Alkohol eine absolute Tabudroge.

Felix, Wolfgang und Christian hängen viel herum, in der Stadt, in einem der zahlreichen Musikcafés, bei einer Gruppe von Musikern, bei ihren Freunden im Hotel – meist verladen und Felix geschwächt vom Dünnschiss. Er hat Mühe mit dem Essen in dieser Stadt, bringt von den meisten Gerichten, die ihm aufgetischt werden, scharf und übel schmeckend, wie er sie empfindet, kaum einen Bissen herunter; er ernährt sich die meiste Zeit von Bananen und Joghurt und manchmal gönnt er sich ein hartes Ei. Zu den Grundnahrungsmitteln gehören für ihn aber immer Kohletabletten und Mexaform (1985 wird von der Firma Ciba-Geigy der Vertrieb dieses bei Durchfallerkrankungen verwendeten clioquinolhaltigen Präparates eingestellt. Es erlangt traurige Berühmtheit, als es in Japan zur SMON-Katastrophe kommt, bei der Hunderte von Patienten an schweren neurologischen Erscheinungen erkranken).
Unsere Reisenden aus Europa brauchen in Quetta nichts zu tun, ja, sie können nichts tun. Das passive Aufnehmen der fremden Bilder, der Gerüche, der ganzen exotischen Atmosphäre, das ist den Sinnen und den Nerven in dieser ersten wahrhaft asiatischen Stadt mehr als genug. Und den Kopf fast immer voll von Haschisch, so dass das Erleben sich auf die Sinneswahrnehmung verdichtet und zu einem fantastischen Traum aus tausendundeiner Nacht verwoben wird. Das Staunen. Die Entkleidung und Reduzierung und Relativierung des eigenen kleinen Ichs. Zu fühlen, fast so, wie ein Seismograph, das Eigenleben fast ausgelöscht. Und dann wieder die übermässige Bedrohung, die dieses Ich empfindet angesichts des überwältigend Fremden, in dem es sich an nichts Altgewohntem mehr orientieren kann, sodass es sich ins Monströse aufbläht. Und die Hinfälligkeit, das Zart-Verletzliche des Körpers so deutlich wahrzunehmen, in dieser Umgebung, der der Körper und vielleicht auch die Psyche nicht gewachsen zu sein scheinen. Wie da die Angst vor dem Kranksein des Körpers aufblüht, wie Felix sich den Stuhlgang beschaut und die Augäpfel im Spiegel misstrauisch nach Anzeichen des Verfalls befragt. Rausch in der überwältigenden Glückseligkeit, die einem das befreiend Fremde schenkt, und Rausch auch in der Panik, man könnte als Person, als die Person, die man kennt, die man zu sein meint, wie von einem Sog in dieses Fremde hineingesaugt und dabei komplett aufgelöst werden wie in einem ätzenden Säurebad. In einer Welt, in der ganz andere Werte herrschen, werden die eigenen Werte, die man sich gesetzt und gegen die man sich aufgelehnt hat, durcheinandergewirbelt. Wie oft erzählen Christian und Wolfgang in dieser Zeit von ihrem Jazzkeller in Hofheim und von ihrer alten Clique, immer verzweifelt darum bemüht, das Un-Begreifliche mit dem Bekannten zu verbinden.

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Pakistan Railway
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Von Quetta aus gelangen sie auf einer langen Zugsfahrt nach Lahore, das liegt schon an der paktistanisch-indischen Grenze im pakistanischen Punjab. Im Zug treffen sie ein französisches Hippiepaar mit zwei kleinen Kindern, das sich, wie sie erfahren, auf der Flucht vor den französischen Fürsorgebehörden befindet, die ihnen die Kinder wegnehmen wollen, um sie in ein Heim zu stecken. Sie sind auf dem Weg in die ehemals französisch besetzte indische Provinz Pondicherry. Die Mutter hockt mit dem kleineren der Kinder im Arm in sich zusammengesunken am Boden, mit übermüdetem, stumpfem Gesicht, das verweint aussieht, während sie das grössere Kind, das schreit, weint, quengelt, krank und unglücklich wirkt, bald durch Schmeichelworte, bald durch Worte der Zurechtweisung zu «beruhigen» versucht. Sie ignoriert das «Gespräch unter Männern» total, lebt in ihrer eigenen Welt. Anders der Vater, der vielleicht vierzig ist und dessen zerfurchtes Gesicht eine lange Geschichte erzählt – er ist munter, aufgekratzt und sichtlich froh, Gesprächspartner gefunden zu haben. Was ihn auf Trab hält, sind die schwarzen Kügelchen aus Rohopium, die er schluckt. Er bietet auch Felix, Christian und Wolfgang von seiner Reiseration an, meint, sie würden die Fahrt so besser überstehen – ohne drückendes Sitzfleisch, rumorende Mägen und übermüdete Köpfe. Sie lassen sich leicht dazu überreden, und bald fühlen sie sich wach, entspannt und bei bester Laune, während die Kinder im Schlaf wimmern und die Mutter sowohl ihren Ehegatten als auch dessen neue Kumpel wie Luft behandelt und während die behemdeten Pakistani verkrümmt auf Holzbänken liegend in sich hineinträumen. An den Bahnsteigen bieten junge Burschen in einem klagenden Singsang Tee und Gebäck an. Das Opium entrückt unsere Reisenden von allem, weil es sie schmerzfrei macht, auf der seelischen und auf der körperlichen Ebene, und völlig immun gegen jede Form der Anfechtung und der Angst.
Gegen Morgen wird es Felix schlecht, er wird still und kämpft gegen das Erbrechen. Mit der schwindenden Wirkung des Opiums meldet sich der Dünnpfiff zurück. In Lahore kann Felix wieder nichts essen; er würde aber auch nichts essen wollen, nur schon der scharfe Geruch dieses Essens stösst ihn ab, er spürt schon beim Riechen das scharfe Brennen im Mund, im Hals, im Magen. Es ekelt ihn vor diesem Geruch, der stechend scharf und gleichzeitig süsslich ist. Lahore empfindet Felix als eine unendlich schmutzige Stadt, geprägt von einem Schmutz, der in der Luft hängt und auf der Strasse liegt und in alle Ritzen kriecht. Die ganze westeuropäische Vergangenheit von Felix lehnt sich dagegen auf; die ungeschminkte Armut der Menschen, die vor seinen Augen in wildem Chaos durcheinanderwirbelt, erschreckt ihn zutiefst und verstärkt noch das Gefühl der Erschöpfung und Ohnmacht, das von ihm Besitz ergriffen hat.



Lahore

Sie lassen die Franzosen im Zug zurück, der nach Rawalpindi weiterfährt. Vor dem Bahnhof hängt sich unseren drei Freunden eine jener klebrigen Gestalten an die Fersen, einer jener tausend Schlepper, die Felix auf dieser Reise trifft, ein schmutziger Mann mit schlechten Zähnen und von Betelsaft gerötetem Mund. Gegen seine Ausdauer und Zähigkeit, erworben im harten Kampf ums Überleben, haben sie nur ihre Müdigkeit und Erschöpfung ins Feld zu führen, und ausserdem will er ihnen ja bloss ein Hotel zeigen.
Ja, er führt sie tatsächlich zu einem Hotel, und das Zimmer, das sie in diesem Hotel bekommen, ist nicht einmal das schlechteste auf dieser Reise. Sie sind, wie gesagt, müde und erschöpft, auch sind sie schmutzig und riechen nicht gut. Felix kann endlich seine Füsse pflegen, sie sind wundgekratzt und eitern bös. Von der Stadt sieht Felix an diesem Tag nicht mehr viel, er und auch seine Freunde können heute keine neuen Eindrücke mehr aufnehmen.
In diesem verdammten Scheisshotel in Lahore werden Felix 140 Dollar geklaut, und zwar in der Zeitspanne von ungefähr fünf Minuten, während er wieder mal mit seinem Durchfall beschäftigt ist. Das Geld wird aus dem Zimmer entwendet, in welchem seine Freunde schlafen, aus einem Geldgurt, in dem der Dieb oder die Diebe zur Tarnung die Ein-Dollar-Noten lassen und nur die 20-Dollar-Scheine mitnehmen. Felix ärgert sich natürlich schon ein bisschen, als er den Schwund seines Kapitals bemerkt, vor allem über sich selber, findet sich jedoch bald mit dem Verlust ab, da der ja ohnehin nicht mehr ungeschehen zu machen ist. Felix hat schlicht und einfach nicht genug Energie, um sich richtig zu nerven. So langsam beginnt der orientalische Fatalismus also auf ihn abzufärben.



Rawalpindi

Von Lahore aus fahren sie mit dem Zug nach Rawalpindi; Felix muss sich in Islamabad, der Schwesterstadt von Rawalpindi, nämlich noch ein Visum für Indien besorgen. In Pindi die übliche Armut, der gewohnte Dreck, die Menschenmassen in den Strassen, die Rikschas, die Ochsenkarren, die Fahrräder, das vergammelte Hotel mit den vollgeschissenen Toiletten ohne Spülung, Felix hat mal wieder oder noch immer den obligaten Dünnpfiff und es gibt nur das übliche überscharfe Essen – Felix hat eigentlich immer Dünnpiff, die Frage lautet nicht ob, sondern wie akut. Haschisch ist hingegen immer im Überfluss vorhanden. Islamabad liegt nur wenige Kilometer von Rawaldpindi entfernt und ist eine künstlich aus dem Boden gestampfte Gartenstadt, wie es Felix scheinen will, eine Beamtenstadt, aus der das «gemeine Volk» weitgehend ausgeschlossen ist, ausser als Diener und Hausangestellte der hier wohnenden Privilegierten. In Islamabad gibt es keine Armut, keine stinkenden Strassen, kein Bettlervolk, dafür Polizisten, Parkanlagen und ein zwanzigstöckiges Holiday-Inn mit allen Schikanen.
Felix muss ein wenig anstehen in der indischen Botschaft. Er hat jedoch inzwischen ein ziemlich entspanntes Verhältnis zur Zeit entwickelt. Er muss anstehen und warten und das Visum ist auch nicht gerade gratis, aber was soll’s. Nach seiner dritten Fahrt von Rawalpindi nach Islamabad hat er sein Visum schliesslich in der Tasche, ein Dreimonatevisum notabene, auf sechs Monate verlängerbar. Nicht schlecht. Felix hat inzwischen gelernt, was solche Papiere bedeuten, wenn man unterwegs ist: Papiere und Stempel sind lebenswichtig, ohne die richtigen Papiere und Stempel geht es dir auf Reisen wie dem bedauernswerten Seemann in B. Travens Roman «Das Totenschiff».

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In den «Alpen» des indischen Subkontinents
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Aber unsere Freunde wollen ja noch gar nicht nach Indien, sie wollen zuerst noch ein bisschen näher ran und tiefer rein ins hohe Gebirge, näher ran an die Achttausender und rein in die Bergwildnis zu den wilden Bergstämmen. Also nehmen sie wieder einmal in einem sowohl farbenprächtigen als auch klapprigen Bus Platz, der sie in Richtung Swat-Valley führt. In diesem Tal beginnt erneut eine ganz andere Zeit: die biblische Zeit.




Mingora ist ein kleines Städtchen aus der Zeit um Christi Geburt mit unzähligen Geschäften und Geschäftchen, die der Strasse entlang aufgereiht sind. In Mingora fehlen der Schmutz und das Gedränge der grossen Städte in der Ebene. Auch die Luft lässt sich hier leichter atmen. Und auch nicht ganz unwichtig: das Essen ist im Bergland viel besser und viel bekömmlicher als das Essen in der Ebene, weniger scharf und hygienisch einwandfrei. Die Leute sind freundlich, ohne aufdringlich zu sein. Die Menschen scheinen hier oben viel glücklicher zu sein als die Leute unten im Tal und in der Ebene. Die biblischen Greise, den Turban um den Kopf geschlungen, haben immer noch das Feuer der Jugend in den Augen, gepaart mit der listigen Weisheit des Alters. Da ist nichts tot und abgestorben an ihnen wie bei vielen Alten in unseren Breitengraden, die, entledigt aller Würde und Nützlichkeit, nur noch vor sich hin vegetieren. Diese Alten stehen, denkt Felix, als Respektspersonen noch voll im Leben.

Aber sie wollen noch höher hinaus, bis dorthin, wo die Buslinie endet, und das ist in Kalam. Weiter geht es nur noch per Kamel. Kalam, das sind ein paar Häuschen, die am Berghang kleben. In Kalam pfeift der Wind nachts kalt um die Ecken. Sie wohnen in einer farbig bemalten Herberge am Kopf der Brücke, die über den Bergbach gespannt ist und über die manchmal eine Kamelkarawane zieht oder langsam ein Lastwagen fährt. Die Bergler sind ruhige, unaufdringliche und freundliche Leute. Ihr Wirt, ein würdiger Alter mit langem Bart, verrichtet mehrmals täglich auf einem der Tische des Teehauses, das zur Herberge gehört, seine Gebete. Die Bergler sprechen kaum Englisch. Polizei gibt es keine in diesem Dorf, dafür patrouillieren nachts Männer mit geschulterten Flinten würdig durch den Ort.



In der Bergluft von Kalam kann Felix sich richtig erholen: die eiternden Wunden schliessen sich, die Verdauung beruhigt sich, der Schlaf des Nachts ist tief und fest. Tagsüber unternehmen sie Wanderungen durch die grossartige Gebirgslandschaft, nachts, wenn es dunkel und kalt wird, sitzen sie im Teehaus ihrer Lodge oder wickeln sich oben auf ihrem Zimmer in dicke Decken, reden und kommen sich vor wie in einer Geschichte von Tolkien, lesen, spielen Schach und rauchen von dem erstklassigen Haschisch, das sie für einen minimalen Betrag ganz offiziell im Dorfladen kaufen können, in Streifen geschnittene Eingrammportionen für umgerechnet weniger als zehn Rappen pro Gramm.

Nach gut einer Woche zieht es sie weiter; auch wird es im Herbst ziemlich kalt hier oben in den Bergen. Wieder besteigen sie klapprige, fantastisch bemalte Busse, nur geht es dieses Mal abwärts – das heisst: in einem ziemlich rasanten Fahrtempo, was nicht gerade zu einem stresslosen Fahrerlebnis beiträgt. In halsbrecherischem Tempo fliegt der Bus mehr als er fährt, und zwar über Strassen, die mit zuweilen krassen Schlaglöchern glänzen und in Abgründe abfallen, deren Ende nur zu erahnen ist. Die Pakistani sind so freundlich gewesen, Felix vor der Fahrt einen Joint anzubieten, was seine Paranoia natürlich nun noch verstärkt. Auch ihr Fahrer befindet sich, den roten und etwas irre blickenden Augen nach zu urteilen, nicht gerade in dem allernüchternsten Zustand. Er ist vielmehr in der Stimmung, sich mit anderen Fahrzeugen auf der Strasse Verfolgungsrennen zu liefern. Und das tut er denn auch. Geht es in vollem Tempo auf eine Brücke oder sonst eine enge Stelle zu, schicken die Passagiere und der Fahrer unisono ein laut ausgesprochenes Stossgebet gen Himmel, Allahu akbar und noch etwas Kehliges, auf dass Allah sie beschützen möge. Und tatsächlich, wie durch ein Wunder überleben sie auch diese Fahrt und langen heil in Peshawar an, wo sie ebenfalls ein paar Tage verbringen. Jede Geschichte hat unendlich viele Abzweigungen. Diese hier ist eine. Angenommen, wir würden den Bus, in dem unsere drei Freunde sitzen, tatsächlich in einen Unfall verwickeln. Ab genau hier würden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ganz andere Sätze lesen als die, die jetzt folgen. Da dem aber nicht so ist, folgt jetzt das hier: Danach fahren sie mit dem Zug zurück nach Lahore und direkt weiter nach Amritsar, ihrer ersten Station im heutigen Indien.

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