Montag, 31. Dezember 2007
Auf dem Weg in den Süden
In zwei Tagen ist es Weihnachten, aber davon merkt Felix in Goa, Gott seis gedankt, nicht viel. Hier herrscht eher Karnevalstimmung – Felix hat den Eindruck, ganz Goa sei ein grosses Jugendzentrum (allerdings mit ein paar reichlich angejahrten Jugendlichen). Anjuna-Beach, Vagator-Beach, Calangute-Beach: die kleinen, im Palmenwald versteckten Stranddörfer sind voll von jungen Westlern, die ihrerseits wieder voll von Drogen sind. Da kommen allerhand Leute zusammen: Sannyasins aus Poona, die hier Ferien vom spirituellen Alltag machen, Rumtreiber, die schon jahrelang auf Achse sind, Jet-Setter, die von Europa oder den USA direkt hierher geflogen sind… Und Goa bietet so allerhand: das Essen ist gut und günstig – zumindest für die Touristen –, da gibt es jede Menge frischen Fisch, Früchte und sehr schmackhaften Coconut-Cake. Ferner bietet Goa ein ideales Klima, eine herrliche Landschaft sowie jeden Abend irgendwo eine Beachparty…
Ja, diese Beachpartys sind eine Sache für sich. Natürlich sind diese Partys nichts anderes als Business, nichts fehlt, nicht die perfekte Openair-Disco, nicht die Bar mit den überhöhten Preisen für Wodka-Orange, nicht die vielen, ärmlichen Verkaufsstände der Inder, die auf ihren Matten Tee, Kuchen, Kleider und Schmuck anbieten. Und in dieser Szene drin hängen nun so hundert, zweihundert Leute herum, alle ziemlich stoned, einige ganz hinüber. Goa ist schon ein seltsamer Platz.
Trotzdem gefällt es Felix im Moment ganz gut hier. Das Klima ist so angenehm, dass er sich nur schon dadurch viel entspannter fühlt. Und er liebt es, nackt im Sand zu liegen und den Wind am Körper zu spüren (allerdings lieben es auch die Inder, die in ganzen Busladungen an die so genannte Hippie-Beach gekarrt werden, um die nackten Europäer zu besichtigen). Ausserdem ist Felix ich etwas müde von der Herumreiserei, vom Trommelfeuer immer neuer Eindrücke. Indien ist so gross, dass man sich darin wortwörtlich verlieren kann. Ausserdem wird die Welt für Felix, und je mehr er in ihr herumkommt, nicht kleiner, sondern grösser. Und immer fremder. Goa dagegen ist ihm vertraut, und wenn auch vieles an der Szene hier kaputt ist, so ist es doch zumindest eine Kaputtheit, in der Felix sich einigermassen auskennt. Indien und die Inder hingegen wird er nie, nie, nie verstehen.
In Pokhara trennt Felix sich von den beiden Hofheimern, mit denen er fast drei Monate lang zusammen war, weil sie nach Kathmandu zurück wollen, um da einen Freund zu treffen. Felix fährt stattdessen mit einem anderen Freund, den sie in Delhi das erste Mal getroffen haben, nach Indien zurück. Der ist ebenfalls Deutscher, ein Taxifahrer und gelegentlicher Koksdealer aus Hannover mit dem Aussehen von Frank Zappa, ein ruhiger, sympathischer Typ. Sie fahren zunächst nach Varanasi, der heiligsten Stadt der Hindus und der ältesten Stadt Indiens am Ganges, dem Shiva, Gott der Zerstörung, der Leidenschaft und Ekstase gewidmete Pilgerstätte seit 2500 Jahren. Ein unglaublicher und beängstigender Ort, wie Felix ihn sich nie hätte vorstellen können – ein Ort wie aus einem Alptraum, wenigstens für ein zartbesaitetes westliches Gemüt, das es nicht gewohnt ist, mit dem ungeschminkten Leben – und somit auch dem ungeschminkten Tod – so direkt konfrontiert zu werden.
Als besonders erstrebenswert gilt es für strenggläubige Hindus, in Varanasi im von Kolibakterien, Cholera- und Typhuskeimen völlig verseuchten Ganges zu baden sowie dort einmal zu sterben an seinen Ufern und verbrannt zu werden. Entlang des Flusses ziehen sich kilometerlange stufenartige Uferbefestigungen hin, die Ghats, an denen auf der einen Seite die Gläubigen im Wasser des für sie heiligen Flusses baden und nur wenige Meter weit entfernt die Leichen der Verstorbenen verbrannt werden. Die Asche wird anschliessend ins Wasser gestreut. Dazwischen wird ungeniert Wäsche gewaschen. Ein Bad im Ganges soll von Sünden reinigen; in Varanasi zu sterben und verbrannt zu werden, vor einer Wiedergeburt schützen. Deshalb darf auch nicht verwundern, dass man hier auf Schritt und Tritt allem nur denkbaren Elend der Welt begegnet. Verstümmelte Bettler ohne Arme und Beine versuchen mühsam über die Strasse zu robben. Rechts und links neben ihnen rollt der Verkehr. Aber niemand nimmt Rücksicht auf die Unglücklichen. Hunderte von Obdachlosen recken Felix ihre Hände entgegen und grinsen ihn zahnlos an. Derweil meditieren überall mit Asche eingeriebene heilige Männer. Dazwischen sitzen langhaarige Europäer und Amerikaner und rauchen ihre Joints. Gurus versuchen, Westlern Meditations- und Yoga-Kurse zu verkaufen. Hunderte von Schulen vermitteln in Varanasi das heilige Wissen Indiens.
Dann Agra, eine hässliche und bei diesem nebligen Herbstwetter eher deprimierende Stadt (ja, auch Nebel gibt es in Indien, obwohl es vergleichsweise warm ist). Natürlich, da gibt es den weltberühmten Taj Mahal. Der Grossmogul Shah Jahan liess ihn zum Gedenken an seine 1631 verstorbene Hauptfrau Mumtaz Mahal erbauen. Der Bau des Taj Mahal wurde kurz nach dem Tod Mumtaz Mahals im Jahr 1631 begonnen und bis 1648 fertig gestellt. Beteiligt waren über 20000 Handwerker aus ganz Süd- und Zentralasien.
Eine weit verbreitete Legende besagt, es sei ursprünglich noch ein gleiches Bauwerk aus schwarzem Marmor als Mausoleum für Shah Jahan selbst auf der anderen Seite des Flusses Yamuna geplant gewesen, das aber nicht verwirklicht wurde. Diese Geschichte geht davon aus, dass der Mogul zuvor von seinem Sohn Muhammad Aurangzeb Alamgir entmachtet worden sei und den Rest seines Lebens als Gefangener verbracht habe. 1666 wurde er neben seiner Gattin beigesetzt.
Wieder eine Fahrt im Zug, von Agra nach Bombay (die Stadt wird 1995 in Mumbai umbenannt und gilt heute mit 12,9 Millionen Einwohnern als die bevölkerungsreichste Stadt der Welt). Diese Fahrten sind immer ein Erlebnis – wenn auch ein strapaziöses – und die indischen Bahnhöfe machen Felix immer halb wirr im Kopf (das heisst: wirrer, als er es sowieso schon ist); aber diese Fahrt ist besonders, also speziell speziell. Erstens hat Felix am Morgen warme Milch getrunken, weil er dachte, das würde ihm gut tun, ihm aber bloss eine weitere (und besonders heftige) Dünnschissattacke eintrug, zweitens ist der Zug brechend voll (das sind zwar alle indischen Züge, aber der hier ist extrem brechend voll), und drittens ereignet sich auch noch diese lästige Geschichte mit den indischen Polizisten in Jahnsi. Felix hat ein wenig Haschisch in der Tasche und denkt sich nichts dabei, da Drogen in Indien extrem leicht erhältlich sind; auch scheint ihm die Rechtslage bezüglich Drogen äusserst verwirrlich zu sein, weil offenbar jeder Teilstaat, vielleicht jeder Distrikt, jeder Ort oder sogar jeder einzelne Richter ein eigenes Drogengesetz hat, dann sind Drogen ja auch etwas Heiliges, die Sadhus jedenfalls kiffen ganz offen und ungeniert, und gerade im Umfeld von Tempeln sind Drogen besonders wohlfeil, also kurz, es herrscht eine grosse Unübersichtlichkeit in dieser Frage und deshalb scheint es Felix völlig risikofrei zu sein, ein wenig Ganja, wie Haschisch in Indien heisst, in der Tasche herumzutragen.
Das scheint Felix jedenfalls so lange so, bis sie im Bahnhof von Jahnsi einfahren. Da steigen ein paar Polizisten ein und halten gezielt Ausschau nach Westlern wir Felix, und wie immer in solchen Situationen ist er der, den es erwischt – er scheint da eine gewisse magische Ausstrahlung zu haben. Etwa drei oder vier Uniformierte befehlen ihm, mit ihnen auf die Toilette zu kommen. Toiletten in indischen Zügen sind in der Regel recht unwirtliche Orte, an denen man sich nur im Notfall aufhält (wobei der Notfall bei Felix, angesichts seines Hangs zu dünnpfiffartigen Abgängen, relativ oft eintritt. Es ist dabei jedoch zu bedenken, dass man in Indien normalerweise keine öffentlichen und auch in Hotels und Restaurants der für Felix erschwinglichen Kategorie kaum brauchbare Toiletten findet, sondern gefälligst die Strasse benutzt. Deshalb ist Felix als zartbesaitetem europäischem Gemüt eine wenn auch unwirtliche Zugstoilette schon fast wieder willkommen). Wie dem auch sei, an diesem Ort kehren die Hüter des Gesetzes ihm die Taschen und stossen so, ohne viel kriminalistischen Scharfsinn aufwenden zu müssen, auf das Corpus Delicti. Darüber sind sie aber nicht etwa verärgert oder so, sondern ganz im Gegenteil sehr erfreut; fehlt nur noch, dass sie Felix anerkennend auf die Schulter klopfen. Auf jeden Fall schlagen sie ihm unverzüglich ein Geschäft vor, auf das er mangels Alternativen natürlich sofort eingeht, worauf er nicht nur eines Teils seines Geldes (allerdings handelt es sich um keinen allzu hohen Betrag), sondern natürlich auch seines Stückchens Ganja verlustig geht, an dem sich nun die fidelen Polizisten von Jahnsi verlustieren können. Dann wünschen sie ihm noch eine gute Reise und das wars.
Als Felix wieder zu seinem Frank Zappa und den anderen Fahrgästen in sein Zugsabteil zurückkehrt, wollen die Mitreisenden natürlich brennend gern wissen, was denn war. In Indien gerät man mit den anderen Zugspassagieren leicht ins Gespräch. Felix erzählt der Wahrheit gemäss, was sich ereignet hat, worauf eine lebhafte Debatte über die Korruption der indischen Polizei in Gang kommt. Einer meint sogar, Felix solle die Polizisten bei ihrer Ankunft in Bombay anzeigen. Felix hält sich mit seiner Meinung, dass er das eventuell nicht für eine so gute Idee hält, zurück. Bei wem sollte er die Polizisten anzeigen, bei der Polizei etwa? Und was, wenn er im Rechtsempfinden dieser hypothetischen Beamten einen drogenmitsichtragenden Verbrecher darstellt? Da könnte er leicht vom Regen in die Traufe geraten. Na ja, eine halbe oder eine Stunde später ist die Sache sowieso vergessen, und Felix sucht die Toilette wieder nur noch auf, weil, wie gesagt, siehe oben.
Mumbai, Victoria Station
Mumbai Skyline
In Bombay bleiben sie für drei Tage. Hier entnimmt Felix am 8. Dezember den riesigen Schlagzeilen der hiesigen Zeitungen, dass John Lennon von seinem Fan Mark Chapman mit fünf Schüssen ermordet wurde. John Lennon und seine Musik scheinen also auch in Indien populär zu sein. In diesem Teil der Welt relativiert sich die Bedeutung eines Menschenlebens allerdings, auch des Lebens eines Mannes wie John Lennon. Trotzdem ist Felix schockiert und betroffen; selbstverständlich hat er den Musiker nicht persönlich gekannt, aber immerhin ist dieser ihm in seinen Träumen mehrere und sehr eindrückliche Male erschienen.
Es war einmal John Lennon
In Bombay geben unsere beiden Weltenbummler an einem Tag mehr Geld aus als vorher in einer Woche; dafür haben sie jetzt ein Zimmer, das bloss 4 Rupien die Nacht kostet. Auf diese Bleiben stossen sie erst nach langem Suchen: es ist wahrscheinlich der letzte Raum, der in Anjuna-Beach noch frei ist. Ein längliches Haus mit zwei Räumen; im vorderen Teil wohnt die Besitzer-Familie, der hintere Raum ist ziemlich gross und vollkommen leer. Anderntags fahren Frank und Felix nach Calangute-Beach, um einzukaufen: Bastmatten, buntes Crêpe-Papier und ein schönes Tuch für an die Wand, Kerzen, ein Wasserkübel… Jetzt sieht der Raum echt gemütlich aus. Einmal nicht dieses Hotelzimmer-Gefühl zu haben, ist schon sehr angenehm.
Sie leben hier fast wie ein Ehepaar zusammen, Felix und der Zappa; sie haben alles hier (ausser Sex – in dieser Hinsicht führt Felix nun schon seit über vier Monaten ein mönchisches Leben; es hat sich einfach keine Gelegenheit dazu ergeben, aber Felix vermisst den Sex nicht allzu sehr, weil er eben sonst nicht frustriert ist).
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