Montag, 3. Dezember 2007
Felix schwimmt weiter ab
Syntagma-Platz in Athen: er stand im "Spartacus"; Antonius (der mit der Kleopatra; die mit den Schlangen und der Eselsmilch)
Jetzt also in Athen. Ernst hält Felix weiterhin in der Schülerrolle fest (und dieser verharrt weiterhin in ihr), aber gerade sehr wohl ist es beiden nicht dabei. Es gelingt Felix einfach nicht, seine Bedürfnisse Ernst gegenüber frei und geradeheraus zu äussern. Er verharrt in Bravheit und vermeidet Widerspruch und Konflikte – und inzwischen stauen sich bei ihm Aggressionen und brechen dann irgendwann sozusagen irrational aus. Felix ist zwar nicht gerade unglücklich im Moment, aber ziemlich verunsichert. Diese Reise ist alles andere als eine Vergnügungsreise. So richtig ausgelassen ist Felix eigentlich nur einmal – am Strand, am Abend, als er mit Griechen zusammen sitzt; sie plaudern und tanzen dann sogar Sirtaki, und da ist Ernst eben gerade nicht mit dabei. Die Abende, die Felix mit Ernst verbringt, bestehen hauptsächlich aus tief schürfenden Diskussionen, aus «Therapiestunden» gewissermassen (wenigstens begleitet von Wein und Ouzo, was aber die Kopflastigkeit nur wenig lindert), und die Tage verbringen sie meistens entweder mit Fahren oder mit Kulturprogramm. Felix fühlt sich dazu ja auch verpflichtet, schliesslich bezahlt ihm Ernst den grössten Teil der Reise und Felix ist quasi als sein Begleiter engagiert. Ernst ist Felix in vielem überlegen – kein Wunder, ist er doch fünfzehn Jahre älter als unser Held – und das lässt er Felix auch spüren. Vielleicht gerade deshalb, weil Felix nicht mit ihm schmusen mag. Und Felix gibt überall nach, damit er in diesem Punkt nicht nachgeben muss – so etwa funktioniert das. Felix hat einen körperlichen Widerwillen gegen Ernst. Nicht nur, dass Felix sich von Ernst erotisch überhaupt nicht angezogen fühlt – er findet den Körper von Ernst lächerlich. Felix weiss nicht, wieso das so ist, da müsste man einen Psychologen fragen. Das ist alles sehr kompliziert.
«Das ist alles sehr kompliziert» – verdächtige Wendung, die Felix häufig in seinem Tagebuch gebraucht. Sie ist oft blosser Vorwand, sich um eine Entscheidung herumzudrücken. Am Mittag hat Felix einen Traum (während der Siestazeit ist es zu heiss für etwas anderes als zum Schlafen), der ihm deutlich zeigt, dass er eine infantile Grundeinstellung zum Leben hat: er wartet passiv, bis etwas geschieht (und beeinflusst es nur insofern, als er das Schicksal manchmal ein klein wenig provoziert), um keine Verantwortung dafür übernehmen zu müssen und je nach Gegebenheit dieses sein Schicksal preisen, anklagen oder verfluchen zu können. Wenn etwas schief geht, hat ihm eben das Schicksal übel mitgespielt. Nie ist er die Instanz, die entscheidet, diese Instanz wird immer nach aussen verlegt. Ähnlich ist es mit seinem sexuellen Verhalten: er hat zwar starke sexuelle Triebe in sich, aber er kann selten genug aus sich selbst heraus sexuell sein, sondern braucht immer irgendwie den Vorwand des Überwältigtwerdens, um die Lust voll zuzulassen.
Im Land des pädagogischen Eros
Jetzt, nach zweieinhalb Wochen ununterbrochenen Zusammenseins, wird ihre Beziehung immer problematischer. Felix ist überzeugt, dass Ernst sauer auf ihn ist, weil er bei Felix erotisch nicht auf seine Rechnung kommt – und weil Felix sich damit auch nicht bedingungslos seinen Konzepten unterwirft. Ernst geht davon aus, dass es ein Segen für Felix wäre, von ihm, Ernst, therapiert (man könnte auch sagen: manipuliert) zu werden. Klar ist für Ernst auch, dass Felix primär ein defizitäres Wesen (oder auch ein primär defizitäres Wesen) ist. Da Ernst tendenziell eher ein Pedant und Kontrollfreak ist und Felix eher ein Chaot, fühlt Ernst sich von Felix (und Felix sich von Ernst) natürlich herausgefordert. Es geht letztlich um Macht. Der Meister ist unglücklich darüber, dass der Sinn der von ihm geschaffenen Strukturen vom Adlaten nicht nur nicht verstanden wird, sondern dass diese Strukturen dem Adlaten sogar nicht selten ganz schrecklich zum Hals heraushängen. Felix findet ja manchmal ganz interessant, was Ernst erzählt, aber es hat alles seine Grenzen. Felix hat es immer öfter gründlich satt, dass bei allem etwas herausschauen soll. Felix ist halt eher für das spielerische Sein und manchmal sehr für das zwecklose Tun und manchmal auch für das simple Nichtstun, das heisst, er ist mitunter ein fauler Sack. Ernst hingegen ist ein ernster Mensch, ein Mensch, der eine Mission hat, auf einem festen Standpunkt steht und von diesem Standpunkt aus seine genau kalkulierten Fortschritte macht, ohne dabei nach rechts oder links zu schauen, aber Felix steht nun mal irgendwo da rechts oder links, man könnte auch sagen: er steht irgendwie schräg in der Landschaft herum. Um Felix zu sehen und um vielleicht Nähe mit Felix zu erleben (was Ernst sich ja eigentlich wünscht), müsste er nach rechts oder links schauen und vielleicht sogar einmal von seinem Weg abweichen, aber dazu kann er sich nicht überwinden, das wagt er nicht, sondern ist lieber enttäuscht von Felix, enttäuscht davon, dass es ihm nicht gelingt, Felix nach seinem Willen zu formen, er ist enttäuscht darüber, dass ihre Beziehung immer wieder, nach jedem neuen Ansatz klärenden Gesprächs, an eine Grenze stösst – sichtbar als die Grenze des erotischen Kontakts, so, als müsste Felix mit dieser Grenze verhindern, dass Ernst ganz in ihn eindringt, dass er ihn vereinnahmt, dass er ihm den letzten Rest Freiheit raubt. Ein Gedanke, den Ernst immer wieder äussert, ist, dass man eigene Bedürfnisse frei aussprechen und wenn nötig auch mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit durchsetzen soll – aber welches die Bedürfnisse (die wahren, verborgenen) von Felix sind, glaubt Ernst besser zu wissen als Felix selbst (fast wie ein schlechter Psychiater, ein fanatischer Priester oder ein tyrannischer Gott). Ernst will, dass Felix Widerstand leiste, aber in der ihm, Ernst, genehmen Form usw. Felix ist sich durchaus bewusst, dass er in dieser Hinsicht seine Defekte hat, zum Beispiel den, dass er immer wieder in einen Autoritätskonflikt mit Ernst hineingerät, dass er eben wirklich zu passiv ist, dass er Spontanausbrüche zurückhält und Aggressionen anstaut, statt sie zu äussern, dass immer wieder sein Minderwertigkeitskomplex durchschlägt etc. Vielleicht ist es ja sogar ein Defekt, dass er Ernst nicht begehren kann. Aber bloss seine Schuld allein ist es nicht, findet Felix dann doch, dass sie nicht so gut zusammen klarkommen. Genau darauf läuft es aber bei jeder ernsten Diskussion heraus: Felix soll dieses ändern und er soll jenes anders machen, denn Ernst muss es ja wissen, er ist ja so viel erfahrener und reifer als Felix, also braucht Felix es doch bloss zu begreifen, und wenn er es nicht begreift, ist das eben seine Schuld.
Wenn es nach Ernst ginge, bräuchten sie überhaupt niemanden kennen zu lernen auf dieser Reise, sondern sollten ganz sich selbst genügen. Und sie lernen auch keine Leute kennen. Das frustriert Felix ziemlich, weil für ihn zum Reisen auch das Kennenlernen von Leuten gehört. Die ganze Reise dient nur als Kulisse für ihre «Auseinandersetzung» und sonst zu nichts. Damit hatte Felix nicht gerechnet, als er sich auf diese Reise einliess.
Ernst und Felix sind inzwischen ganz im Süden, im Peloponnes, angelangt, wieder am Meer, es ist natürlich inzwischen nicht weniger heiss, aber Felix hat zum Schreiben für den Moment ein schattiges Plätzchen gefunden. Jetzt sind sie also schon fast drei Wochen unterwegs auf dieser komischen Reise aus Landschaftskulissen, antiken Ruinen, griechischer Küche, Ouzo und Rezina, tief schürfenden Diskussionen und Machtkämpfchen – ein komisches Paar ist da auf der Reise, das muss man schon sagen, ein nicht mehr ganz junger Mann einerseits, der etwas von einem Studienrat der klassischen Art an sich hat, und ein Jüngling mit viel naivem Charme, eine «pädagogische Beziehung» ist da gewissermassen als wandelndes Klischee unterwegs, bezeichnenderweise in Griechenland, dem Land des pädagogischen Eros, und der Lehrer will seinen Schützling Lebensbewältigung lehren – aber ach! Wenn das alles nur so einfach wäre! Doch davon haben wir ja schon einiges erfahren. Da der pädagogische Führer hauptberuflich Lehrer für Latein und Altgriechisch ist, hat er natürlich in dieser Eigenschaft auch ein leidenschaftliches Interesse an Ruinen, packt ihn manchmal regelrecht der Ruinenfetischismus, was übrigens eine verbreitete Krankheit unter Griechenlandtouristen ist, und so will er seinem Schützling auch gleich noch die ganze griechische Antike erklären – von einem historisch-materialistischen Standpunkt aus natürlich, denn nach dreissigjähriger enthaltsamer bürgerlicher Existenz (samt Gymnasiallehrer- und Offizierskarriere) konvertierte Ernst vor einigen Jahren zum Marxismus und brach seine Militärkarriere abrupt ab, indem er als einer der ersten den Dienst verweigernden Offiziere in die schweizerische Militärgeschichte einging. Gleichzeitig zog er in eine WG, die man damals beinahe noch Kommune nannte, und verliebte sich in die sexualrevolutionären Theorien des Doktor Wilhelm Reich, dessen glühender Anhänger er wurde. Er baute sich einen Orgon-Akkumulator, eine Art mit Alufolie isolierten Sarg, in den man sich aber nicht nach Vampirart legen musste, sondern immerhin setzen konnte, eine Art Energie-Auflade-Maschine, in der Ernst sich täglich so für ein, zwei Stündchen aufhielt, wenn er nicht gerade auf Reisen war. Und er machte sich gleichzeitig an das Projekt, seine verklemmte Sexualität zu befreien. Auf dieser Reise scheint nun eben auch Felix ein wenig, wie man bereits weiss, in dieses Projekt eingebunden worden zu sein.
Felix trägt an seinem schattigen Plätzchen in seinem schwarzen Notizbuch die äusserlichen Stationen dieser Reise nach. Die erste Griechenland-Station war also jener Campingplatz in der Nähe von Katerini, wo Felix die Griechen kennenlernte und sich im Sirtakitanz übte. Nach zwei Tagen fuhren sie weiter in Richtung Larissa, aber auf dieser Etappe versagten plötzlich die Bremsen von Ernsts alter Ente, dem Deux-chevaux, dem Ernst aus irgendwelchen unerfindlichen altphilologischen Gründen den Namen Antonius gegeben hatte, ihren Dienst, worauf Ernst sie – oder ihn – in eine Citroen-Garage brachte, in der man sich aber ausserstande sah, innert nützlicher Frist die Bremsen zu flicken und ihnen deshalb riet, ohne Bremsen bis Athen weiterzufahren und da ihr Glück zu versuchen (Antonius, der geneigte Leser, die geneigte Leserin erinnert sich vielleicht noch schwach daran, war übrigens der mit der Cleopatra und Cleopatra war die in Ägypten mit der Eselsmilch und der goldenen Schlange an der Brust oder so). Das war zwar angesichts der Verhältnisse auf den griechischen Strassen ein nicht ungefährlicher Vorschlag, aber was blieb ihnen anderes übrig? Anderntags fuhren sie also bremsenlos nach Athen, wo sie für sechs Nächte im Hotel Poseidon residierten: die Frist für ihre Autoreparatur, die auch in der Metropole einige Zeit in Anspruch nehmen würde. So verbrachten sie die Tage inmitten der bekannten Sehenswürdigkeiten wie der Akropolis und so und in der Hitze und den Abgasen der griechischen Hauptstadt; über Mittag (etwa von ein Uhr bis fünf Uhr nachmittags) legten sie im Hotel eine lange Siesta ein, die sie meist schlafend respektive dösend und träumend verbrachten, und am Abend gab es das obligate, mehr oder weniger opulente griechische Essen und Rezina und ein bisschen Herumsumpfen und meist erregte Gespräche – wie gehabt. Zweimal drehte Felix nachts seine Runden um den Syntagma-Platz (einmal mit Ernst, einmal allein). Dieser Platz ist laut Gay-Guide ein Cruising-Platz für Schwule. Es hatte auch viele Einzel- und Pärchenschwule da, meist der touristischen Art, offensichtlich solche, die wie Felix den Gay-Guide zu Rate gezogen hatten, während die Griechen diesen wahrscheinlich nicht kannten. Das erste Mal mit Ernst war natürlich nichts mit Aufreissen, da wirkte Felix, chemisch gesprochen, schon gesättigt und war insofern uninteressant. Es hatte einen jungen, etwas weiblichen, aber Felix trotzdem ganz genehmen Österreicher da, der ein wenig herumstreunte und sich dann ans Nachbartischchen setzte, aber da Felix von Kurt immer wieder in ein Gespräch verwickelt wurde, konnte er sich zu wenig intensiv um die Causa Austria kümmern und schliesslich schnappte ein grosser blonder Engländer, Amerikaner oder Australier den Österreicher Felix weg. Das zweite Mal ging Felix allein hin, hatte aber wieder kein Glück. Es hatte zwar wieder Schwule da, aber entweder solche, die ihm nicht gefielen, oder solche, die ihn nicht beachteten, oder solche, die gar keine waren und nur wie Schwule aussahen oder von denen Felix sich wünschte, dass sie wie Schwule aussahen, und überhaupt, er fand das alles plötzlich nur noch deprimierend, wurde müde und musste sich des Öfteren zu einem Ouzo hinsetzen und wurde entsprechend langsam besoffen und fluchte ein wenig vor sich hin und war ein wenig traurig und trotzig und trotzdem irgendwie wurstig und kehrte etwa um zwei Uhr zum Hotel und einem schnarchenden Ernst zurück und begrub damit seine Hoffnungen, auf dieser Griechenland-Reise ein Sexabenteuer zu erleben und machte sich mit dem Gedanken vertraut, sich die fünf Wochen lang halt in Gottes Namen wie schon so oft mit Mutter Faust und ihren fünf Töchtern, wie Truman Capote zu sagen pflegte, über Wasser zu halten.
Kurz hinter Korinth ereignet sich ein ziemlich schlimmer Unfall, ein PKW ist mit einem Lastwagen zusammengeknallt, und ein Mann mit zerbreitem Gesicht liegt blutüberströmt am Boden. Diese Szene bringt Felix ziemlich auf den Horror und er sitzt ganz verkrampft im Autositz und stellt sich vor, dass ihrem Antonius jeden Moment ein Reifen platzen kann; später verblasst dann der Eindruck, den der Unfall bei Felix hinterlassen hat, obwohl Felix beim Autofahren nie ganz gelöst ist. Sie schaffen es an diesem Tag über Delfi noch bis Itea, wo sie wieder zelten und anderntags an der Sonne braten, ob sie wollen oder nicht, denn die griechische Sonne ist gnadenlos und überall.
Und jetzt sind sie in Preveza oder wie dieses Kaff heisst, man kommt an so vielen Orten vorbei, dass man die Namen nur schwer behalten kann. Sie haben eine Tour de Peloponnes hinter sich, Felix fühlte sich körperlich allmählich ein bisschen reduziert, die Hitze und das schwere, fettige Essen hatten bei ihm zu einer Verstopfung geführt, und für einen Tag wurde er richtig krank mit Fieber und Bauchkrämpfen, aber inzwischen hat sich der Zustand seines Magens wieder etwas normalisiert. Jedenfalls mussten sie in Mili einen Tag Pause machen, Felix lag herum und las einen Roman von Paul Scheerbart, eine Art mystischen Science-Fiction-Roman aus den Zwanzigerjahren mit dem Titel «Lésabendio», sehr kurios. In diesem so genannten Asteroïden-Roman kommen die folgenden Personen vor: Biba ist ein sehr alter Pallasianer, der sich besonders für die Sonne interessiert und philosophische Bücher schreibt. Bombimba ist ein sehr jugendlicher Pallasianer, dessen Entstehung geschildert wird. Dex ist einer der Führer auf dem Stern Pallas, sein Hauptanliegen ist die Heraufbeförderung und Bearbeitung des Kaddimohnstahls. Labu, ein künstlerischer Führer, interessiert sich fast nur für Formen mit gekrümmten Linien. Die Hauptfigur, Lesabéndio, ist ein Führer, der mehr technische als künstlerische Interessen hat und dem die Erbauung eines grossen Turmes am Herzen liegt. Manesi, ein gärtnerisch veranlagter Führer, der sich für Rankengewächse begeistern kann, hat mehrere Pilzwiesen anlegt – auch in den Höhlen des Sterns Pallas. Nax, ein Bewohner des Sterns Quikko, kommt mit neun andern Quikkoïanern durch Vermittlung von Lesabéndio und Biba auf den Pallas. Nuse ist der Erbauer von Lichttürmen. Der künstlerische Führer Peka will nur mit geraden Kanten und Flächen arbeiten und schätzt die kristallinischen Formen höher als alle anderen Formen ein. Sofanti hingegen ist Fachmann für die Hautfabrikation. Wie gesagt, sehr kurios.
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