Montag, 31. Dezember 2007
Auf dem Weg in den Süden
In zwei Tagen ist es Weihnachten, aber davon merkt Felix in Goa, Gott seis gedankt, nicht viel. Hier herrscht eher Karnevalstimmung – Felix hat den Eindruck, ganz Goa sei ein grosses Jugendzentrum (allerdings mit ein paar reichlich angejahrten Jugendlichen). Anjuna-Beach, Vagator-Beach, Calangute-Beach: die kleinen, im Palmenwald versteckten Stranddörfer sind voll von jungen Westlern, die ihrerseits wieder voll von Drogen sind. Da kommen allerhand Leute zusammen: Sannyasins aus Poona, die hier Ferien vom spirituellen Alltag machen, Rumtreiber, die schon jahrelang auf Achse sind, Jet-Setter, die von Europa oder den USA direkt hierher geflogen sind… Und Goa bietet so allerhand: das Essen ist gut und günstig – zumindest für die Touristen –, da gibt es jede Menge frischen Fisch, Früchte und sehr schmackhaften Coconut-Cake. Ferner bietet Goa ein ideales Klima, eine herrliche Landschaft sowie jeden Abend irgendwo eine Beachparty…
Ja, diese Beachpartys sind eine Sache für sich. Natürlich sind diese Partys nichts anderes als Business, nichts fehlt, nicht die perfekte Openair-Disco, nicht die Bar mit den überhöhten Preisen für Wodka-Orange, nicht die vielen, ärmlichen Verkaufsstände der Inder, die auf ihren Matten Tee, Kuchen, Kleider und Schmuck anbieten. Und in dieser Szene drin hängen nun so hundert, zweihundert Leute herum, alle ziemlich stoned, einige ganz hinüber. Goa ist schon ein seltsamer Platz.
Trotzdem gefällt es Felix im Moment ganz gut hier. Das Klima ist so angenehm, dass er sich nur schon dadurch viel entspannter fühlt. Und er liebt es, nackt im Sand zu liegen und den Wind am Körper zu spüren (allerdings lieben es auch die Inder, die in ganzen Busladungen an die so genannte Hippie-Beach gekarrt werden, um die nackten Europäer zu besichtigen). Ausserdem ist Felix ich etwas müde von der Herumreiserei, vom Trommelfeuer immer neuer Eindrücke. Indien ist so gross, dass man sich darin wortwörtlich verlieren kann. Ausserdem wird die Welt für Felix, und je mehr er in ihr herumkommt, nicht kleiner, sondern grösser. Und immer fremder. Goa dagegen ist ihm vertraut, und wenn auch vieles an der Szene hier kaputt ist, so ist es doch zumindest eine Kaputtheit, in der Felix sich einigermassen auskennt. Indien und die Inder hingegen wird er nie, nie, nie verstehen.
In Pokhara trennt Felix sich von den beiden Hofheimern, mit denen er fast drei Monate lang zusammen war, weil sie nach Kathmandu zurück wollen, um da einen Freund zu treffen. Felix fährt stattdessen mit einem anderen Freund, den sie in Delhi das erste Mal getroffen haben, nach Indien zurück. Der ist ebenfalls Deutscher, ein Taxifahrer und gelegentlicher Koksdealer aus Hannover mit dem Aussehen von Frank Zappa, ein ruhiger, sympathischer Typ. Sie fahren zunächst nach Varanasi, der heiligsten Stadt der Hindus und der ältesten Stadt Indiens am Ganges, dem Shiva, Gott der Zerstörung, der Leidenschaft und Ekstase gewidmete Pilgerstätte seit 2500 Jahren. Ein unglaublicher und beängstigender Ort, wie Felix ihn sich nie hätte vorstellen können – ein Ort wie aus einem Alptraum, wenigstens für ein zartbesaitetes westliches Gemüt, das es nicht gewohnt ist, mit dem ungeschminkten Leben – und somit auch dem ungeschminkten Tod – so direkt konfrontiert zu werden.
Als besonders erstrebenswert gilt es für strenggläubige Hindus, in Varanasi im von Kolibakterien, Cholera- und Typhuskeimen völlig verseuchten Ganges zu baden sowie dort einmal zu sterben an seinen Ufern und verbrannt zu werden. Entlang des Flusses ziehen sich kilometerlange stufenartige Uferbefestigungen hin, die Ghats, an denen auf der einen Seite die Gläubigen im Wasser des für sie heiligen Flusses baden und nur wenige Meter weit entfernt die Leichen der Verstorbenen verbrannt werden. Die Asche wird anschliessend ins Wasser gestreut. Dazwischen wird ungeniert Wäsche gewaschen. Ein Bad im Ganges soll von Sünden reinigen; in Varanasi zu sterben und verbrannt zu werden, vor einer Wiedergeburt schützen. Deshalb darf auch nicht verwundern, dass man hier auf Schritt und Tritt allem nur denkbaren Elend der Welt begegnet. Verstümmelte Bettler ohne Arme und Beine versuchen mühsam über die Strasse zu robben. Rechts und links neben ihnen rollt der Verkehr. Aber niemand nimmt Rücksicht auf die Unglücklichen. Hunderte von Obdachlosen recken Felix ihre Hände entgegen und grinsen ihn zahnlos an. Derweil meditieren überall mit Asche eingeriebene heilige Männer. Dazwischen sitzen langhaarige Europäer und Amerikaner und rauchen ihre Joints. Gurus versuchen, Westlern Meditations- und Yoga-Kurse zu verkaufen. Hunderte von Schulen vermitteln in Varanasi das heilige Wissen Indiens.
Dann Agra, eine hässliche und bei diesem nebligen Herbstwetter eher deprimierende Stadt (ja, auch Nebel gibt es in Indien, obwohl es vergleichsweise warm ist). Natürlich, da gibt es den weltberühmten Taj Mahal. Der Grossmogul Shah Jahan liess ihn zum Gedenken an seine 1631 verstorbene Hauptfrau Mumtaz Mahal erbauen. Der Bau des Taj Mahal wurde kurz nach dem Tod Mumtaz Mahals im Jahr 1631 begonnen und bis 1648 fertig gestellt. Beteiligt waren über 20000 Handwerker aus ganz Süd- und Zentralasien.
Eine weit verbreitete Legende besagt, es sei ursprünglich noch ein gleiches Bauwerk aus schwarzem Marmor als Mausoleum für Shah Jahan selbst auf der anderen Seite des Flusses Yamuna geplant gewesen, das aber nicht verwirklicht wurde. Diese Geschichte geht davon aus, dass der Mogul zuvor von seinem Sohn Muhammad Aurangzeb Alamgir entmachtet worden sei und den Rest seines Lebens als Gefangener verbracht habe. 1666 wurde er neben seiner Gattin beigesetzt.
Wieder eine Fahrt im Zug, von Agra nach Bombay (die Stadt wird 1995 in Mumbai umbenannt und gilt heute mit 12,9 Millionen Einwohnern als die bevölkerungsreichste Stadt der Welt). Diese Fahrten sind immer ein Erlebnis – wenn auch ein strapaziöses – und die indischen Bahnhöfe machen Felix immer halb wirr im Kopf (das heisst: wirrer, als er es sowieso schon ist); aber diese Fahrt ist besonders, also speziell speziell. Erstens hat Felix am Morgen warme Milch getrunken, weil er dachte, das würde ihm gut tun, ihm aber bloss eine weitere (und besonders heftige) Dünnschissattacke eintrug, zweitens ist der Zug brechend voll (das sind zwar alle indischen Züge, aber der hier ist extrem brechend voll), und drittens ereignet sich auch noch diese lästige Geschichte mit den indischen Polizisten in Jahnsi. Felix hat ein wenig Haschisch in der Tasche und denkt sich nichts dabei, da Drogen in Indien extrem leicht erhältlich sind; auch scheint ihm die Rechtslage bezüglich Drogen äusserst verwirrlich zu sein, weil offenbar jeder Teilstaat, vielleicht jeder Distrikt, jeder Ort oder sogar jeder einzelne Richter ein eigenes Drogengesetz hat, dann sind Drogen ja auch etwas Heiliges, die Sadhus jedenfalls kiffen ganz offen und ungeniert, und gerade im Umfeld von Tempeln sind Drogen besonders wohlfeil, also kurz, es herrscht eine grosse Unübersichtlichkeit in dieser Frage und deshalb scheint es Felix völlig risikofrei zu sein, ein wenig Ganja, wie Haschisch in Indien heisst, in der Tasche herumzutragen.
Das scheint Felix jedenfalls so lange so, bis sie im Bahnhof von Jahnsi einfahren. Da steigen ein paar Polizisten ein und halten gezielt Ausschau nach Westlern wir Felix, und wie immer in solchen Situationen ist er der, den es erwischt – er scheint da eine gewisse magische Ausstrahlung zu haben. Etwa drei oder vier Uniformierte befehlen ihm, mit ihnen auf die Toilette zu kommen. Toiletten in indischen Zügen sind in der Regel recht unwirtliche Orte, an denen man sich nur im Notfall aufhält (wobei der Notfall bei Felix, angesichts seines Hangs zu dünnpfiffartigen Abgängen, relativ oft eintritt. Es ist dabei jedoch zu bedenken, dass man in Indien normalerweise keine öffentlichen und auch in Hotels und Restaurants der für Felix erschwinglichen Kategorie kaum brauchbare Toiletten findet, sondern gefälligst die Strasse benutzt. Deshalb ist Felix als zartbesaitetem europäischem Gemüt eine wenn auch unwirtliche Zugstoilette schon fast wieder willkommen). Wie dem auch sei, an diesem Ort kehren die Hüter des Gesetzes ihm die Taschen und stossen so, ohne viel kriminalistischen Scharfsinn aufwenden zu müssen, auf das Corpus Delicti. Darüber sind sie aber nicht etwa verärgert oder so, sondern ganz im Gegenteil sehr erfreut; fehlt nur noch, dass sie Felix anerkennend auf die Schulter klopfen. Auf jeden Fall schlagen sie ihm unverzüglich ein Geschäft vor, auf das er mangels Alternativen natürlich sofort eingeht, worauf er nicht nur eines Teils seines Geldes (allerdings handelt es sich um keinen allzu hohen Betrag), sondern natürlich auch seines Stückchens Ganja verlustig geht, an dem sich nun die fidelen Polizisten von Jahnsi verlustieren können. Dann wünschen sie ihm noch eine gute Reise und das wars.
Als Felix wieder zu seinem Frank Zappa und den anderen Fahrgästen in sein Zugsabteil zurückkehrt, wollen die Mitreisenden natürlich brennend gern wissen, was denn war. In Indien gerät man mit den anderen Zugspassagieren leicht ins Gespräch. Felix erzählt der Wahrheit gemäss, was sich ereignet hat, worauf eine lebhafte Debatte über die Korruption der indischen Polizei in Gang kommt. Einer meint sogar, Felix solle die Polizisten bei ihrer Ankunft in Bombay anzeigen. Felix hält sich mit seiner Meinung, dass er das eventuell nicht für eine so gute Idee hält, zurück. Bei wem sollte er die Polizisten anzeigen, bei der Polizei etwa? Und was, wenn er im Rechtsempfinden dieser hypothetischen Beamten einen drogenmitsichtragenden Verbrecher darstellt? Da könnte er leicht vom Regen in die Traufe geraten. Na ja, eine halbe oder eine Stunde später ist die Sache sowieso vergessen, und Felix sucht die Toilette wieder nur noch auf, weil, wie gesagt, siehe oben.
Mumbai, Victoria Station
Mumbai Skyline
In Bombay bleiben sie für drei Tage. Hier entnimmt Felix am 8. Dezember den riesigen Schlagzeilen der hiesigen Zeitungen, dass John Lennon von seinem Fan Mark Chapman mit fünf Schüssen ermordet wurde. John Lennon und seine Musik scheinen also auch in Indien populär zu sein. In diesem Teil der Welt relativiert sich die Bedeutung eines Menschenlebens allerdings, auch des Lebens eines Mannes wie John Lennon. Trotzdem ist Felix schockiert und betroffen; selbstverständlich hat er den Musiker nicht persönlich gekannt, aber immerhin ist dieser ihm in seinen Träumen mehrere und sehr eindrückliche Male erschienen.
Es war einmal John Lennon
In Bombay geben unsere beiden Weltenbummler an einem Tag mehr Geld aus als vorher in einer Woche; dafür haben sie jetzt ein Zimmer, das bloss 4 Rupien die Nacht kostet. Auf diese Bleiben stossen sie erst nach langem Suchen: es ist wahrscheinlich der letzte Raum, der in Anjuna-Beach noch frei ist. Ein längliches Haus mit zwei Räumen; im vorderen Teil wohnt die Besitzer-Familie, der hintere Raum ist ziemlich gross und vollkommen leer. Anderntags fahren Frank und Felix nach Calangute-Beach, um einzukaufen: Bastmatten, buntes Crêpe-Papier und ein schönes Tuch für an die Wand, Kerzen, ein Wasserkübel… Jetzt sieht der Raum echt gemütlich aus. Einmal nicht dieses Hotelzimmer-Gefühl zu haben, ist schon sehr angenehm.
Sie leben hier fast wie ein Ehepaar zusammen, Felix und der Zappa; sie haben alles hier (ausser Sex – in dieser Hinsicht führt Felix nun schon seit über vier Monaten ein mönchisches Leben; es hat sich einfach keine Gelegenheit dazu ergeben, aber Felix vermisst den Sex nicht allzu sehr, weil er eben sonst nicht frustriert ist).
Sonntag, 30. Dezember 2007
Donnerstag, 27. Dezember 2007
Der Gott der Komplexität
Trauer, ja Verzweiflung sind angesichts der Komplexität, auf der natürlich auch die menschliche Existenz gründet, völlig angemessene Gefühle, wenn daneben Freude und sogar Glück ihren Platz haben. Mit diesem Satz erwacht er, auf einen Schlag hellwach – aus einem Traum, der ihn völlig aufwühlt. Immer sind es die Träume, die ihn inspirieren und ihn der Wahrheit, falls die für die menschlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgane überhaupt auch nur annähernd fassbar sein sollte, ein winzig kleines Stück näher bringen – nicht so, dass er sie sich dann aneignen könnte, aber doch in einer Weise, die ihn gewissermassen verändert zurücklässt. Es ist ein Erlebnis, das ihn erschüttert und den Tränen nahe bringt, von einer Intensität und Tiefe, die kaum zu ertragen sind. Dabei ist das Traumgeschehen die Oberfläche, der Schein, und die soeben angetönte «Wahrheit» die Tiefe, das Sein. Denn nicht: Oberfläche und Tiefe, Sein und Schein gehören ja irgendwie zusammen, bilden die komplexe Struktur dessen, was wir als Wirklichkeit empfinden. Da ist es wieder, dieses Wort: Komplexität. Das führt zum Kern der Empfindungen, die ihn nach dem Traum überschwemmen: Die Komplexität des Seins ist das, was wir als das Göttliche empfinden, oder umgekehrt: Das Göttliche im Sein ist dessen Komplexität, wir sind also umfangen und durchtränkt vom Göttlichen, und dass wir es nicht wahrnehmen, macht unsere Verblendung aus, aus der denn auch die moralische Verkommenheit des Menschen folgt. Die Schlechtigkeit des Menschen ist Verblendung, nichts als Verblendung! Machtmissbrauch ist Verblendung, Gier ist Verblendung, Eifersucht ist Verblendung, Hass sowieso. So, wie aus unschuldigen Kindern erwachsene Monster werden können, so ist der Kern aller menschlichen Regungen die Unschuld, seien diese nun auf Sexualität, Lust, Vergnügen, Neugier, Erkenntnisdrang, Geltenwollen oder was auch immer ausgerichtet. Pervertiert werden sie durch die menschliche Verblendung, den fatalen Hang des Menschen zur Vereinfachung und zur Abkürzung. Wahrscheinlich ist es ein Teil der menschlichen Entwicklung, den Weg dieser Abkürzungen und Vereinfachungen zu gehen und an den Hässlichkeiten und der Beschmutzung des Göttlichen, das daraus entsteht, zu leiden, um dann bewusst die Komplexität oder das Göttliche ersehnen, entdecken, erahnen zu können – wie er es tut in manchen seiner Träume, weil in den Träumen Vereinfachungen und Abkürzungen nicht so leicht möglich sind, vielleicht. Das Unschuldige, das am Anfang steht, der Samen, und das komplexe Ganze, das sich daraus entfaltet hat – auch ein wieder fast religiöses Bild. Die Religionen selbst sind ja ein Sinnbild dieser Entwicklung, sie haben sich aus der Unschuld heraus – ihrem mystischen Kern – zu gewaltigen Theologien, Lehrgebäuden voller Abgrenzungen, Verbote und moralischer Verurteilung entwickelt, sie arbeiten mit Simplifizierungen und nach dem Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip, um ihre Schäfchen bei der Stange zu halten. Ganz auf die Spitze getrieben wird diese Pervertierung bei den Sekten aller Ausrichtung und aller Art, seien sie nun so genannt «religiöser» oder «politischer» Natur. Ihr Hauptzweck besteht geradezu darin, die Komplexität des Seins, also seine Göttlichkeit, zu leugnen und zu verneinen. Aus Angst und Verblendung bringen sich ihre Anhängerinnen und Anhänger um die grossartige Möglichkeit, durch das wirbelnde Chaos der menschlichen Existenz hindurch die unglaubliche Grösse und Schönheit des Göttlichen zu erahnen und dadurch anzubeten, denn dann – Allahu akbar – kann man gar nicht anders.
Es ist ihm unmöglich, den Inhalt des Traums zu rekonstruieren, der diese Gedanken und Gefühle in ihm ausgelöst hat, wahrscheinlich würde das auf dem Papier, in Worte und Sätze gepresst, auch keinen Sinn machen, er erinnert sich nur ganz deutlich noch daran, dass eine alte Frau, seine Mutter vielleicht, darin vorkam, eine gelassene und weise Person, die sich ihm zeigt, wie sie als kleines Mädchen war, dessen Lebensfreude und Unschuld ihm die Tränen in die Augen treibt, an denen er dann erwacht.
Erlauben Sie uns, liebe Leserin, lieber Leser, noch ein Wort in diesem Zusammenhang zur Kunst. Kunst scheint uns heute das wesentlich probatere Mittel als die (institutionelle) Religion, sich dieser Komplexität anzunähern. Deshalb ist und war wahre Kunst nie ein Job, eine Fertigkeit oder ein Handwerk, sondern viel eher ein Gottesdienst. Kunst ist die Annäherung an die Komplexität, das Ringen mit der Komplexität, die Sehnsucht, als Teil mit dem Ganzen der Komplexität zu verschmelzen. Natürlich gibt es auch in der Kunst viel Scharlatanerie, und wir möchten hier auch nicht einer sozusagen esoterischen oder anthroposophischen Kunstrichtung das Wort reden, ganz im Gegenteil. Wir glauben aber, dass wahre Kunst darin besteht, die Komplexität erfahrbar oder zumindest erahnbar zu machen, weil Kreativität aus dem gleichen Reservoir schöpft wie zum Beispiel die mystische Verzückung und aus dem auch gewisse Träume stammen.
Dienstag, 25. Dezember 2007
Pokhara, im Jahr 2037
Dies hier ist zwar beinahe auch schon kein Paradies mehr (und in Pokhara gibt es inzwischen ein Swiss Restaurant und jede Menge Business), aber das Leben erscheint ihm hier doch viel viel interessanter und entspannter als in der Schweiz. Zudem glaubt Felix zu bemerken, dass er mit der Dauer dieser Reise viel gelassener wird und das Leben, trotz gelegentlicher körperlicher Unpässlichkeit, in vollen Zügen zu geniessen beginnt. Dieses Lebensgefühl ist schwer zu beschreiben, weil es eben weit über das Denken und die Sprache hinausgeht. In Pokhara nimmt Felix gelegentlich zum Frühstück eine Magic Omlet zu sich (eine Omelette mit Psilocibin-Pilzen) und wandert dann in eine wunderbare, halb dschungelartige, halb gebirgige Landschaft hinein. Pokhara liegt an einem See und in unmittelbarer Nähe der Himalaya-Achttausender, die manchmal unwahrscheinlich hoch in der Abendsonne ins Blickfeld ragen. Das ist die Landschaft, die man in Tolkiens «Herr der Ringe» findet, genau die richtige Kulisse, in die Felix, berauscht von magischen Pilzen, hineingeraten möchte, um dann für Stunden in einer wirklich ganz anderen Welt zu leben, aber eben nicht wie im Film, sondern sozusagen mit Haut und Haar und ganz und gar. Diese Pilze, die Landschaft, die Menschen, die Tiere, die dazugehören, das alles empfindt Felix als das stärkste Erlebnis seiner bisherigen Existenz, zum Niederknien ergreifend und bis ins Mark und in die Knochen gehend schön. Noch nie hat er so deutlich gespürt – und das ist einfach, nicht kompliziert –, was wichtig ist und was nicht und in welche Richtung er gehen muss und was er getrost alles aus seinem Kopf entfernen und mit einem befreiten Lachen in den Mülleimer werfen kann, weil es nämlich Scheisse ist (Frank Zappa: «What is the ugliest part of your body? You think it’s your feet? You think it’s your nose? I think it’s your MIND.»).
Jetzt sind diese Überklarheit und dieses Empfinden einer Lebenstotalität natürlich wieder vorbei, Felix hat heute keine Pilze konsumiert, und der vollmonartige «hässlichste Teil seines Körpers» sitzt wieder ziemlich sicher im Sattel resp. fest auf seinem (mit den Jahren kürzer werdenden und schliesslich ganz verschwindenden) Hals. Aber etwas bleibt zurück und verhindert vorläufig, dass er wieder ganz in jenem Gefühlsbrei versinkt, der ihn üblicherweise die Rolle des Häschens spielen lässt (es sieht ganz so aus, als sei Felix im Begriff, ein Hase zu werden).
Hier noch ein paar Stichworte zu den Ereignissen vor der Ankunft von Felix im Pokhara-Paradies: Zuerst die Fahrt nach Delhi, bis Jammu zwölf Stunden im überfüllten Bus, der Bahnhof von Jammu, dieses unglaubliche Gewimmel, die ohren- und augenbetäubenden und gehirnvernebelnden Menschenmassen Indiens, dieses wogende Auf und Ab von Farben, Geräuschen, Gerüchen, dieser alles überrollende Lebensstrom, in dem auch der Westler einfach mitschwimmen muss, wenn er den Verstand nicht ganz verlieren will – dann Delhi, Old Delhi mit dem Chandni Chowk-Bazar, der grossen Moschee, dieser Mahlstrom aus Ochsenkarren, Fahrradrikschas, Vespas, auf denen fette Sikhs hocken, Tongas, Elefanten, alten englischen Taxis usw. in den Strassen, in denen man bloss zwei Stunden zu gehen braucht, um innerlich zerschlagen zu sein vom Seriefeuer der Sinneseindrücke, die auf dich einprasseln, Blitzlichter rasen durch deinen Kopf, Bild nach Bild nach Bild in nie verminderter Geschwindigkeit; New Delhi mit seinen breiten alleenartigen Strassen, dem noblen Caunnaught-Place und dem Main Bazar (wo die ganzen Freaks rumhängen und wo in den Cafés die Songs von Frank Zappa gespielt werden).
Die Hauptgeschäftsstrasse, der Platz des Mondscheins, ist stets verstopft, belegt mit kugelbäuchigen Basarhändlern und noch kugelbäuchigeren Götterbildern, mit Autobatterien, Seidenschals, Plastikbadewannen, Kuhfladen, Goldschmuck und spitzkegelig aufgehäuften Curry-Pyramiden. In Seiteneingängen, Durchgängen, Nebenstrassen werden geköpfte Hühner und Silberschmuck verschoben. Auch bieten Ohrenputzer hier ihre Dienste an und zeigen fettige Pfropfen als Referenzobjekte nebst Dankesschreiben in vielen Sprachen. Ein Sandwich-Mann lobt sich selbst als bester Rattenkiller. Ein Dentist breitet Dutzende Gebisse, Zahnfeilen und einige rostige Zangen am Boden aus. Einmal Ausprobieren ist gratis.
Einer der Heiler und Quacksalber Old Delhis, der Figur nach ein ehemaliger Ringer, lässt jeden Sonnentag im Meena-Basar zur Ader. Allah und die Erfahrung verraten ihm wohl die richtige Schnittstelle. Hunderte kommen, vor allem die hoffnungslosen Fälle. Flugs werden die Venen abgeschnürt, ein schneller Ritz, schwarzes Blut fliesst über den Boden. Wunde mit Wasser abspülen, Zementpuder drauf, fertig.
In Delhi bleibt Felix fast zehn Tage hängen, lernt in dieser Zeit wieder viele neue Leute kennen, raucht grosse Mengen gutes Manali-Haschisch und lässt sich vom pulsierenden Leben dieser Stadt umtosen. Die Tage vergehen viel zu schnell, viel zu schnell. In Delhi lässt Felix zudem seine ganze fünfundzwanzigjährige Konditionierung auf schweizerische Ordentlichkeit, Sauberkeit und Reinlichkeit endgültig hinter sich. Und es ist lustvoll – wenigstens für eine Weile –, wie eine Ratte im Dreck zu hausen. Sie haben sich zu dritt ein ohnehin schon schmutziges Zimmer gemietet und schlafen alle auf dem gleichen Bett, das wie eine Insel aus einem Meer von Unrat, Dreck und Abfall ragt. Sie werfen einfach alles auf den Boden und lassen es da liegen, Papierfetzen, Essensreste, schmutzige Socken, Tabakkrümmel, Zigarettenstummel usw. Sie hausen wie die Hottentotten, wie die Eltern von Felix es ausdrücken würden. Sie waschen sich nicht, sie stinken, ihre Kleider starren vor Dreck, ihre langen Haare sind verfilzt. Es ist eine Art Therapie für sie alle, und auf dieser Reise ist es vielleicht auch eine Überlebensstrategie.
Seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag feiert Felix an einem Strassenrand hockend, indem er mit seinen Freunden und einem alten – wie sie etwas heruntergekommen wirkenden – Sadhu die Chillums stopft; eine Flasche Whisky haben sie auch dabei. Abends fahren sie dann in einem bis zum geht nicht mehr überfüllten Zug nach Lucknow und dann in einem ebenso überfüllten Zug weiter nach Gorakpur.
Über Zugfahren in Indien liesse sich echt ein Buch füllen. Nur schon die Vorbereitungen sind kompliziert und an ein Ticket und eine Sitzplatzkarte zu kommen, ist eine spirituelle Lektion (vor allem in Geduld und Höflichkeit respektive Durchsetzungsvermögen). Kafka kommt Felix dabei in den Sinn – dass die Bürokratie einen Hang zum Absurden hat, beweist sich definitiv in Indien. Das Zugfahren selbst ist jedoch immer ein tolles Erlebnis – der wahre Film, aber in Echt! Am Abend schaffen sie es noch bis zur nepalesischen Grenze, wo sie übernachten.
Kathmandu ist das einzigartigste Durcheinander von Schönheit und Hässlichkeit, das man sich vorstellen kann, ein Durcheinander von Mittelalter und 20. Jahrhundert, von Kindlichkeit und Dekadenz (für Letzteres sind vor allem die Westler verantwortlich), Kathmandu ist ein dermassen widersprüchlicher Ort, dass es einem den Kopf verbläst. Nepal hat seine Grenzen erst 1956 für Fremde geöffnet, aber der Tourismus hat zumindest Kathmandu schon völlig überrannt. Jetzt gibt es nicht bloss Freaks, die anreisen, nein, schon rollen die ersten Neckermann-Busse an. Da stören die «Hippies» bloss. Infolgedessen hat sich das Visum verteuert, fast wie von selbst, infolgedessen findet man in den Restaurants Tafeln mit schon fast beschwörenden Aufrufen: «No Smoking Hashish Ganja please!» (in Pokhara ist es noch nicht so weit und das Dope noch frei erhältlich: vom kleinen Mädchen bis zum zahnlosen Greis, alle bieten sie Fresh Mushrooms an, Pilzkonfiture, Magic Jam genannt, und «Best Charras»: es ist Erntezeit, das Haschisch frisch gepresst, und es ist auch Pilzsaison). Touristen aller Arten auf der einen Seite, Nepali auf der anderen Seite stehen sich völlig fremd gegenüber, einzig verbunden durch den Umstand, dass die einen Geld haben und die anderen nicht. Die Nepali, zumindest die auf dem Land, meistens Bauern, hatten bisher noch nicht viel mit Geldwirtschaft zu tun; das ändert sich erst jetzt, 1980, mit dem Tourismus, und es ist für die Leute schwer zu begreifen, was Geld überhaupt ist und dass diese abstrakte, anonyme Grösse nun auch ihre Welt regiert (die kleinen Jungen haben es am schnellsten begriffen: sie werden einst grosse Geschäftsleute werden – sie werden ganz nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage begreifen, dass man die 20 Pilze, die es für eine gute Magic Omlet braucht, auch für 50 statt für 5 Rupien verkaufen kann).
Und trotzdem ist Kathmandu für Felix ein extrem faszinierender Platz: die Umgebung, die Landschaft, die Tempel, die Szenen um die Tempel – es ist einfach die ganze Atmosphäre, die ihn umhaut und die bewirkt, dass er sich einmal mehr fragt, ob all das «wirklich» sei. Die Altstadt ist geprägt von hinduistischen Tempeln und buddhistischen Stupas und Heiligtümern. Kathmandu war neben Patan und Bhaktapur eine der drei rivalisierenden Königsstädte des Kathmandutales. Die Altstadt hat eine extrem hohe Bebauungsdichte, verfügt aber weitgehend noch über die ursprüngliche Blockstruktur mit der für die Stadt typischen Innenhofbebauung. Die ruhigen, grossen Innenhöfe sind in der Regel nur durch schmale, unscheinbare Zugänge zu erreichen und bilden einen starken Kontrast zum dichten Gedränge und Lärm in den Gassen. Das Tal mit den drei Königsstädten wird von der UNESCO seit 1979 als Weltkulturerbe eingestuft.
Und jetzt Pokhara, dieser Höhepunkt, diese Landschaft und eben die Pilze. Im Moment fühlt Felix sich ein wenig ausgelaugt und psychisch breitgetreten, von den letzten sechs Tagen waren drei Pilztage. Das geht nur deshalb, weil Pokhara eben der ideale Platz für den Konsum dieser Pilze ist, die übrigens mit Vorliebe auf den manierlich platzierten Scheisshaufen der hiesigen Wasserbüffel wachsen. In Bern auf diesen Pilzen – das kann Felix sich schlecht vorstellen.
Es ist schwierig, liebe Leserin, lieber Leser, die oder der du vielleicht noch nie von solchen speziellen Pilzen genascht haben magst, etwas über die Wirkung dieser Pilze zu sagen; sie ist bei jedem Menschen und auch jedes Mal wieder anders. Die Wirkung ist nicht zu vergleichen mit der von Haschisch; Haschisch kratzt bloss an der Oberfläche, während die Pilze fast bis ins Zentrum gehen, bis dahin, wo sich dein Ich aufzulösen beginnt und wo du verströmst und eins wirst mit dem, was dich umgibt – aber was heisst «dich umgibt», da gibt es keine Trennung mehr, kein Innen und Aussen – und dich ein so grosses Glücksgefühl durchströmt, dass du es fast nicht aushalten kannst. Aber vor dieser totalen Ich-Auflösung steht eine Angstmauer, die aus genau dem besteht, was DU bist, was deine Individualität ausmacht, dein Charakter, deine Vergangenheit, alles, was du bisher gemeint hast, zu sein. Du siehst auf Pilzen: du bist das nicht. Du willst es wegwerfen, aber es gelingt nicht, weil wieder DU es bist, der sich wegwerfen will. Zu kompliziert, wir wissen es.
Du fühlst dich so, als ob du ein Haus wärst mit vielen Zimmern, und du hast immer nur in einem oder zweien dieser Zimmer gelebt und entdeckst nun plötzlich all die anderen Zimmer, die vielleicht auch noch oder schon nicht mehr zu dem gehören, was du als «dein» Haus bezeichnen würdest, das heisst, es machen hier keine Eigentumsverhältnisse mehr Sinn und es könnte gut sein, dass du dich in der Weitläufigkeit dieses wuchernden Gebäudes oder Gebildes verlaufen und nicht mehr in die relative Vertrautheit des einen oder der zwei Zimmer zurückfinden könntest, von denen du bisher angenommen hast, dass es sich dabei um deine «Wohnung», deine Persönlichkeit handelt. Auch zu kompliziert, wir wissen es.
Du merkst im Zustand der Pilzbesessenheit viel, erkennst aber nicht mit deinem Intellekt, sondern mit deinem ganzen Sein, mit der Innenhaut deiner Seele, und was du erkennst, leuchtet dir unmittelbar ein, es fällt dir buchstäblich wie Schuppen von den Augen. Und dann kommst du an einen Punkt, wo du das alles gar nicht mehr – oder vielleicht eher: noch nicht – wissen willst. Du willst wieder zurück in dein kleines Sein. Du willst nicht verrückt werden, sondern «normal» (normal beschränkt, normal behindert, normal neurotisch, normal verrückt) weiterleben. Und so kommst du wieder runter und lässt dich wieder in dein kleines Gehäuse sperren. Aber das ist okay. Du hast ja Zeit, jede Menge Zeit, und es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich weiterzuentwickeln.
Der innerste Kern dessen, was man gemeinhin als seine Persönlichkeit bezeichnen würde, ist Angst. Und doch ist Felix das nicht. Er ist Nichts. Er ist Nirgendwo. Er will nirgendwo sein, um überall zu sein. Er will nichts sein, um alles sein zu können. Das, was wie Bescheidenheit erscheint, trügt: Es verdeckt bloss einen masslosen Hunger nach dem Absoluten. Er will alles wissen und muss deshalb alles vergessen. Je mehr er von der Welt entdeckt, desto grösser und fremder wird sie. Je näher ihm die Wirklichkeit auf den Pelz rückt, desto unwirklicher erscheint sie ihm. Nein, sie erscheint ihm nicht einmal so, denn Felix und seine Umgebung sind eins, verschmolzen in einem Leben, verschmolzen in einem Tanz. Er ist ein Tropfen, der sich mit dem Ozean vereint. Er ist der Ozean, er ist die Welle, die ins Meer zurücksinkt.
Und auch das ist er: ein bestimmtes Individuum im Fadenkreuz von Raum und Zeit. Der Nullpunkt seines Wesens ist das Tor zur Befreiung: meistens verpasst er diesen Angelpunkt und lässt sich aufs Leidenskreuz von Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod, Liebe und Hass, Freude und Leid schlagen. Da hängt er dann, mit erstarrten Gliedern, zitternden Nerven und einem wie wahnsinnig rotierenden Hirn. Das ist es, wenn wir sagen: der innerste Kern seiner Persönlichkeit ist Angst.
Der, der am Kreuz hängt, ist ein Herr von Anderswo, ein Heimatloser. Der Schauplatz der Illusionen, die Theaterbühne: die Welt, dieser Zirkus, der 24 Stunden dauert, und zwar pro Tag. Die Darstellerinnen und Darsteller: wir alle, inkl. Tiere, Pflanzen, Flüsse, Steine, Menschen und die Geister der Ahnen. Die Handlung ist zwar eine Variation des immer gleichen Themas, wird aber trotzdem nicht eintönig, so, wie auch Musik nicht eintönig wird, obwohl sie die immer gleichen Töne variiert; die Handlung läuft in Zyklen ab, in kleineren oder grösseren Kreisen mit gelegentlichen Schnörkeln. Es sieht nur so aus, als wälze sich diese Handlung vorwärts auf der Strasse der Zeit – es sieht nur so aus. Die Handlung ist fantastisch, gelegentlich barock überladen, auch denkt man zuweilen an schlechten Stil – immer dieser Hang zur Übertreibung –, doch alles in allem überzeugt diese seltsame Mischung aus Erhabenem und Lächerlichem, Komischem und Tragischem, Langweiligem und Interessantem eben doch – einzig deshalb, weil es ist, wie es ist. Kataraktartig schäumt ein Strom aus Schicksal über die Felsen des Seins...
Montag, 24. Dezember 2007
Zwölf Stunden im Bus mit Dünnpfiff
In Amritsar ist ein religiöses Fest im Gang. Die Tempel in der ganzen Stadt sind überfüllt und es geht lustig und geradezu ausgelassen zu und her, es wird getanzt und Musik gemacht und die Luft ist erfüllt von tausend Wohlgerüchen. Auch als Nicht-Hindu oder Nicht-Sikh darf man diese Tempel ohne weiteres besuchen, bloss die Schuhe muss man ausziehen. Amritsar wurde im fünfzehnten Jahrhundert erbaut und hat derzeit etwa eine Million Einwohner. Der Goldene Tempel befindet sich in der Altstadt, die mit ihren vielen engen Gassen und zahlreichen Bazaren immer noch mittelalterliches Ambiente vermittelt, sodass sich Felix in eine Szene aus dem Roman «Palast der Winde» von Mary Kaye versetzt fühlt. Der Goldene Tempel, der in Indien «Hari Mandir» genannt wird, wurde 1603 vollendet. Guru Amar Das wollte anfangs nur einen Schrein zum Beten errichten. Sein Nachfolger Guru Ram Das erweiterte die Gebetsstätte und eine richtige Tempelanlage entstand. Um dieses Bauwerk herum entwickelte sich eine Stadt, die ihren Namen dem Tempelteich «Amrit Sarovar» verdankt. In diesem Gewässer, das den Hari Mandir umgibt, können und sollen die Gläubigen sich waschen. Das Eingangstor der Anlage wird von einem Sikh mit Schwert bewacht. Es ist aber nicht seine Aufgabe, Besuchende abzuschrecken, gehört es doch zur Pflege der Tradition, jedem Besucher Eintritt zu gewähren, egal welcher Religion er sich verpflichtet fühlt. Allerdings müssen erst die Schuhe abgegeben, die Füsse gewaschen und der Kopf abgedeckt werden. Auch erlauben die strengen Vorschriften keinen Alkohol- und Zigarettenkonsum im Tempelbereich, wobei das Rauchen sogar im Umkreis von 500 Metern verboten ist.
Der Goldene Tempel selbst ist über einen Steg zu erreichen und hat vier Eingangstüren, die den freien Zutritt für alle vier Hauptgruppen des hinduistischen Kastensystems symbolisieren. Seit 1604 wird an diesem Gebetsort das heilige Buch der Sikhs, «Granth Sahib», aufbewahrt. Das Buch wird jeden Morgen um fünf Uhr früh in einer Art Prozession vom Parlament der Stadt zum Tempel und abends um 21 Uhr wieder dorthin zurückgebracht. Tagsüber sitzen neben dem Granth sogenannte «Ragis», Sänger, die pausenlos aus dem Buch rezitieren. Über Lautsprecher sind ihre Gesänge auf dem ganzen Gelände zu hören.
Der Goldene Tempel vereinigt in seiner Bauweise moslemische und hinduistische Elemente und stellt ein einzigartiges Zusammenspiel verschiedener Künste dar. Wohl am aufffälligsten an dem Bauwerk ist das vergoldete Kupferdach, das den Tempel erst im neunzehnten Jahrhundert durch Spenden zu dem Wahrzeichen machte, das er heute ist.
Auf dem Gelände befinden sich auch mehrere Gebäude mit Speisesälen, in denen etwa zweitausend Pilger pro Tag mit kostenlosem Essen versorgt werden. Aber nicht nur Gläubige können sich hier stärken, sondern auch Touristen werden freundlich willkommen geheissen.
In Amritsar beginnt für Felix wieder einmal eine böse Dünnpfiffattacke, da hilft auch der Besuch im Goldenen Tempel nicht. Wie gesagt: Dünnpfiff ist der Normalzustand, kein Dünnpfiff geradezu die Ausnahme. Deshalb ist Felix vor allem auf langen Busfahrten geradezu gezwungen, Opiumkügelchen zu essen. Nur diese Kügelchen stellen den Dünnpfiff wirkungsvoll ab. Hocke mal einer mit Dünnpfiff zwölf Stunden im Bus, und der Bus hält bloss alle paar Stunden zum Austreten; und im Bus hat es selbstverständlich kein WC. Dass das mörderisch ist, leuchtet wohl jeder und jedem ein. Auf der Fahrt von Amritsar nach Jammu und von Jammu nach Srinagar im Kaschmirtal hat Felix kein Opium intus, da sitzt er stundenlang gekrümmt auf seinem Sitz und wendet alle Energie dazu auf, seinen Schliessmuskel geschlossen zu halten, während sein Gedärm explodieren will. Er ist schwach, fiebrig, sämtliche Glieder tun ihm weh, aber das geht ja noch, das nimmt er noch klaglos hin. Schlimmer sind die Krämpfe, schlimmer ist, wenn du bei dir behalten musst, was unbedingt rauswill. Du kannst ja nicht in die Hosen scheissen, und nur, weil du wieder mal musst, hält der Bus auch nicht alle zehn Minuten an. Der Bus hält ja nicht einmal an, als ein paar Moslems auf Wallfahrt beten wollten. Der Fahrer ist wahrscheinlich ein Hindu, und es gibt ein grosses Palaver. In Kashmir ist ein Grossteil der Bevölkerung muslimisch, deshalb wollen die Kaschmiri auch die Unabhängigkeit oder den Anschluss an Pakistan. Andererseits verdienen sie an den meist hinduistischen Touristen, die in Kaschmir der mörderischen Hitze des Tieflandes entkommen wollen, nicht schlecht.
Zurück zu den Busreisen: Wie gesagt, mit dem Opium ist das Ganze ein Hochgenuss. Nach dem Verzehr eines Opiumkügelchens fühlt Felix sich normalerweise fabelhaft und kann die Landschaft so richtig geniessen. Allerdings kann man auch zu viel von dem Stoff erwischen – und dann wird einem schlecht. Kotzen im Bus ist, wie man sich vorstellen kann, auch nicht ideal.
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Traumleben in Srinagar…
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Das Tal – mit der Stadt Srinagar im Mittelpunkt – ist Kaschmirs fruchtbares Herzstück mit einer Kulisse grüner Berge. Dichte Fichten- und Kiefernwälder, Felder voller kostbarer Safrankrokusse, Reisterrassen, Maulbeerhaine, Gärten mit Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Walnussbäumen prägen das Landschaftsbild. Der Dal-See (umgeben von den hohen Gipfeln des Himalayas und den Kämmen des Pir Pandschal), der Fluss Dschelam und ein mäandernder Kanal, der die beiden verbindet, machen aus dem geschäftigsten Viertel der Stadt eine Insel. Von den etwa zwei Dutzend Brücken, die sich über Fluss und Kanal wölben, kann man beobachten, wie die Kaschmiris mit kleinen Holzbooten an den alten Häusern vorbeistaken.
Unsere Reisenden haben sich ein Hausboot gemietet und so auf dem Wasser des Dal-Sees eine ganze Wohnung samt Hausdiener zur Verfügung. Das Ganze kostet sie – aus ihrer Warte – fast nichts. Das Hausboot ist etwa vierzig Meter lang und besteht aus einer Lounge, einem Esszimmer, dem Sonnendeck und verschiedenen Schlafzimmern mit je zwei oder drei Betten. Hergestellt ist dieses Hausboot aus poliertem Zedernholz mit fantasievoll geschnitzten orientalischen Mustern im Geschmack der Dreissigerjahre. Es ist Herbst, Nachsaison in der «Schweiz Indiens», und die Hausboothändler auf ihren Booten reissen sich um jede Kundin und jeden Kunden. Im Sommer, wenn die wohlhabenden Inder vor dem Monsun im Süden hierher in die Berge flüchten, hätte ihr Gastgeber für dieses Hausboot wohl ein Mehrfaches verlangt. Jetzt, gegen Ende Oktober, sind die Nächte auf dem Wasser schon recht kühl, immerhin liegt Srinagar etwa auf gleicher Höhe wie Sankt Moritz.
Am späteren Morgen hängen sie auf dem Dach ihres Hausboots herum, trinken Tee, plaudern, lesen oder schreiben, kaufen den in Booten vorbeifahrenden fliegenden Händlern Esswaren ab, Andenken, Gras und Opium, bekiffen sich und träumen in der milden Sonne vor sich hin. Zeit spielt keine Rolle, davon haben sie genug. Felix ist jetzt schon so lange unterwegs, dass er sein vergangenes Leben fast vergessen hat. Da er mit seinen Freunden Hochdeutsch und mit allen anderen Englisch spricht, fühlt sich das Schweizerdeutsche allmählich fremdartig an in seinem Mund und seinem Hirn. Er ist glücklich und fühlt sich frei. Am Nachmittag lassen sie sich per Shikara, einer Art Gondel, hinüber aufs Festland fahren, um im Abendnebel durch diese unwahrscheinliche Stadt zu spazieren, in der Teppiche, Kupfer- und Silberwaren, Leder und Seide hergestellt werden, meist umringt von Kindern, die lachend und frohlockend Paisa, paisa! rufen. Oder sie machen eine ausgedehnte Velotour durch die Dörfer in der Umgebung. Und dann gehen sie mit Beschir, dem Sohn des Bootsbesitzers, ins Kino, um sich einen jener unendlich kitschigen Bollywood-Filme anzusehen, in denen von wunderschönen und natürlich unendlich reichen Protagonisten so inbrünstig gesungen, getanzt, geliebt und gelitten wird.
(Die Region Kaschmir ist seit fast einem halben Jahrhundert Streitobjekt zwischen Indien und Pakistan. Seit der Abspaltung Pakistans von Indien im Jahre 1947 führten die beiden Staaten zwei Kriege um das Kaschmirtal, das unter Vermittlung der UNO 1949 aufgeteilt wurde. Ein Drittel des Gebietes ging an Pakistan, zwei Drittel erhielt Indien. Ende der achtziger Jahre wird der Kaschmir-Konflikt wieder aufflammen. Dann werden im indischen Teil Kaschmirs moslemische Rebellengruppen um die Loslösung des überwiegend von Moslems bevölkerten Gebiets kämpfen. Wen wundert es da, dass Kaschmir als einer der gefährlichsten Explosionsherde der Welt gilt. Im Januar 2004 werden die beiden Atommächte allerdings einen Friedensprozess einleiten.)
Sonntag, 23. Dezember 2007
Hotel «City Belutschistan»
Das Hotel, zu dem sie gekarrt werden, ist das Hotel «City Belutschistan» und sieht aus, als hätte es sich aus einem Wildwestfilm über das letzte Jahrhundert materialisiert. Es handelt sich dabei um einen Familienbetrieb, geführt von sechs oder sieben Brüdern, jungen Burschen mit intelligenten Gesichtern, lebhaftem Temperament und schwarzglühenden Augen. Der älteste von ihnen nimmt sich ihrer sofort an und quartiert sie im besten Zimmer des Hotels ein. Dies ist sicher keine luxuriöse Unterkunft, aber immerhin ein gemütlicher und grosser Raum zu einem sehr günstigen Preis. Der junge Hotelier bringt ihnen sofort einen Kasettenrekorder und Kassetten mit westlicher Rockmusik: Doors, Jimmy Hendrix, J.J. Cale. Ungeachtet des grossen Warnschilds in der Rezeption («Please no no no smoking Hash here») präpariert er sogleich auf pakistanische Art eine Zigarette mit bestem schwarzem ölgepresstem Afghanen, von dem unsere Freunde nach wenigen Zügen total flachliegen – so starkes Haschisch wie in jener Gegend haben sie alle noch nie geraucht.
Die folgende Woche verbringen die Reisenden sehr angenehm und faul. Ihr Gastgeber besucht sie oft und erzählt viel vom Leben in Belutschistan, von seinen Beziehungen zur Polizei und von seiner weltumspannenden Dealertätigkeit per Postversand, indem er «Geschenksendungen» fachgerecht präpariert. Er zeigt ihnen die Shops, wo das Haschisch billig und gut ist – und «gut» heisst in diesem Zusammenhang von absolut hirnzertrümmernder Wahnsinnsqualität. Im Gegenzug dazu müssen unsere Freunde ein «Liquor-Permit» erwerben, das im muslimischen Land nur für Westler ausgestellt wird und es diesen erlaubt, in einem dubiosen Laden einen abscheulichen Whisky-Verschnitt zu beziehen. Auf diesen Fusel sind der Gastgeber von Felix und dessen Freunde ganz scharf: Das Verbotene ist halt immer das Interessante. Während es in Pakistan gang und gäbe ist, dass die Menschen oder wohl eher die Männer aller Altersklassen Haschisch und Rohopium konsumieren (wobei die Jungen eher Haschisch und die Alten eher Rohopium, wobei auch Formen des Mischkonsums nicht selten sind), ist Alkohol eine absolute Tabudroge.
Felix, Wolfgang und Christian hängen viel herum, in der Stadt, in einem der zahlreichen Musikcafés, bei einer Gruppe von Musikern, bei ihren Freunden im Hotel – meist verladen und Felix geschwächt vom Dünnschiss. Er hat Mühe mit dem Essen in dieser Stadt, bringt von den meisten Gerichten, die ihm aufgetischt werden, scharf und übel schmeckend, wie er sie empfindet, kaum einen Bissen herunter; er ernährt sich die meiste Zeit von Bananen und Joghurt und manchmal gönnt er sich ein hartes Ei. Zu den Grundnahrungsmitteln gehören für ihn aber immer Kohletabletten und Mexaform (1985 wird von der Firma Ciba-Geigy der Vertrieb dieses bei Durchfallerkrankungen verwendeten clioquinolhaltigen Präparates eingestellt. Es erlangt traurige Berühmtheit, als es in Japan zur SMON-Katastrophe kommt, bei der Hunderte von Patienten an schweren neurologischen Erscheinungen erkranken).
Unsere Reisenden aus Europa brauchen in Quetta nichts zu tun, ja, sie können nichts tun. Das passive Aufnehmen der fremden Bilder, der Gerüche, der ganzen exotischen Atmosphäre, das ist den Sinnen und den Nerven in dieser ersten wahrhaft asiatischen Stadt mehr als genug. Und den Kopf fast immer voll von Haschisch, so dass das Erleben sich auf die Sinneswahrnehmung verdichtet und zu einem fantastischen Traum aus tausendundeiner Nacht verwoben wird. Das Staunen. Die Entkleidung und Reduzierung und Relativierung des eigenen kleinen Ichs. Zu fühlen, fast so, wie ein Seismograph, das Eigenleben fast ausgelöscht. Und dann wieder die übermässige Bedrohung, die dieses Ich empfindet angesichts des überwältigend Fremden, in dem es sich an nichts Altgewohntem mehr orientieren kann, sodass es sich ins Monströse aufbläht. Und die Hinfälligkeit, das Zart-Verletzliche des Körpers so deutlich wahrzunehmen, in dieser Umgebung, der der Körper und vielleicht auch die Psyche nicht gewachsen zu sein scheinen. Wie da die Angst vor dem Kranksein des Körpers aufblüht, wie Felix sich den Stuhlgang beschaut und die Augäpfel im Spiegel misstrauisch nach Anzeichen des Verfalls befragt. Rausch in der überwältigenden Glückseligkeit, die einem das befreiend Fremde schenkt, und Rausch auch in der Panik, man könnte als Person, als die Person, die man kennt, die man zu sein meint, wie von einem Sog in dieses Fremde hineingesaugt und dabei komplett aufgelöst werden wie in einem ätzenden Säurebad. In einer Welt, in der ganz andere Werte herrschen, werden die eigenen Werte, die man sich gesetzt und gegen die man sich aufgelehnt hat, durcheinandergewirbelt. Wie oft erzählen Christian und Wolfgang in dieser Zeit von ihrem Jazzkeller in Hofheim und von ihrer alten Clique, immer verzweifelt darum bemüht, das Un-Begreifliche mit dem Bekannten zu verbinden.
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Pakistan Railway
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Von Quetta aus gelangen sie auf einer langen Zugsfahrt nach Lahore, das liegt schon an der paktistanisch-indischen Grenze im pakistanischen Punjab. Im Zug treffen sie ein französisches Hippiepaar mit zwei kleinen Kindern, das sich, wie sie erfahren, auf der Flucht vor den französischen Fürsorgebehörden befindet, die ihnen die Kinder wegnehmen wollen, um sie in ein Heim zu stecken. Sie sind auf dem Weg in die ehemals französisch besetzte indische Provinz Pondicherry. Die Mutter hockt mit dem kleineren der Kinder im Arm in sich zusammengesunken am Boden, mit übermüdetem, stumpfem Gesicht, das verweint aussieht, während sie das grössere Kind, das schreit, weint, quengelt, krank und unglücklich wirkt, bald durch Schmeichelworte, bald durch Worte der Zurechtweisung zu «beruhigen» versucht. Sie ignoriert das «Gespräch unter Männern» total, lebt in ihrer eigenen Welt. Anders der Vater, der vielleicht vierzig ist und dessen zerfurchtes Gesicht eine lange Geschichte erzählt – er ist munter, aufgekratzt und sichtlich froh, Gesprächspartner gefunden zu haben. Was ihn auf Trab hält, sind die schwarzen Kügelchen aus Rohopium, die er schluckt. Er bietet auch Felix, Christian und Wolfgang von seiner Reiseration an, meint, sie würden die Fahrt so besser überstehen – ohne drückendes Sitzfleisch, rumorende Mägen und übermüdete Köpfe. Sie lassen sich leicht dazu überreden, und bald fühlen sie sich wach, entspannt und bei bester Laune, während die Kinder im Schlaf wimmern und die Mutter sowohl ihren Ehegatten als auch dessen neue Kumpel wie Luft behandelt und während die behemdeten Pakistani verkrümmt auf Holzbänken liegend in sich hineinträumen. An den Bahnsteigen bieten junge Burschen in einem klagenden Singsang Tee und Gebäck an. Das Opium entrückt unsere Reisenden von allem, weil es sie schmerzfrei macht, auf der seelischen und auf der körperlichen Ebene, und völlig immun gegen jede Form der Anfechtung und der Angst.
Gegen Morgen wird es Felix schlecht, er wird still und kämpft gegen das Erbrechen. Mit der schwindenden Wirkung des Opiums meldet sich der Dünnpfiff zurück. In Lahore kann Felix wieder nichts essen; er würde aber auch nichts essen wollen, nur schon der scharfe Geruch dieses Essens stösst ihn ab, er spürt schon beim Riechen das scharfe Brennen im Mund, im Hals, im Magen. Es ekelt ihn vor diesem Geruch, der stechend scharf und gleichzeitig süsslich ist. Lahore empfindet Felix als eine unendlich schmutzige Stadt, geprägt von einem Schmutz, der in der Luft hängt und auf der Strasse liegt und in alle Ritzen kriecht. Die ganze westeuropäische Vergangenheit von Felix lehnt sich dagegen auf; die ungeschminkte Armut der Menschen, die vor seinen Augen in wildem Chaos durcheinanderwirbelt, erschreckt ihn zutiefst und verstärkt noch das Gefühl der Erschöpfung und Ohnmacht, das von ihm Besitz ergriffen hat.
Lahore
Sie lassen die Franzosen im Zug zurück, der nach Rawalpindi weiterfährt. Vor dem Bahnhof hängt sich unseren drei Freunden eine jener klebrigen Gestalten an die Fersen, einer jener tausend Schlepper, die Felix auf dieser Reise trifft, ein schmutziger Mann mit schlechten Zähnen und von Betelsaft gerötetem Mund. Gegen seine Ausdauer und Zähigkeit, erworben im harten Kampf ums Überleben, haben sie nur ihre Müdigkeit und Erschöpfung ins Feld zu führen, und ausserdem will er ihnen ja bloss ein Hotel zeigen.
Ja, er führt sie tatsächlich zu einem Hotel, und das Zimmer, das sie in diesem Hotel bekommen, ist nicht einmal das schlechteste auf dieser Reise. Sie sind, wie gesagt, müde und erschöpft, auch sind sie schmutzig und riechen nicht gut. Felix kann endlich seine Füsse pflegen, sie sind wundgekratzt und eitern bös. Von der Stadt sieht Felix an diesem Tag nicht mehr viel, er und auch seine Freunde können heute keine neuen Eindrücke mehr aufnehmen.
In diesem verdammten Scheisshotel in Lahore werden Felix 140 Dollar geklaut, und zwar in der Zeitspanne von ungefähr fünf Minuten, während er wieder mal mit seinem Durchfall beschäftigt ist. Das Geld wird aus dem Zimmer entwendet, in welchem seine Freunde schlafen, aus einem Geldgurt, in dem der Dieb oder die Diebe zur Tarnung die Ein-Dollar-Noten lassen und nur die 20-Dollar-Scheine mitnehmen. Felix ärgert sich natürlich schon ein bisschen, als er den Schwund seines Kapitals bemerkt, vor allem über sich selber, findet sich jedoch bald mit dem Verlust ab, da der ja ohnehin nicht mehr ungeschehen zu machen ist. Felix hat schlicht und einfach nicht genug Energie, um sich richtig zu nerven. So langsam beginnt der orientalische Fatalismus also auf ihn abzufärben.
Rawalpindi
Von Lahore aus fahren sie mit dem Zug nach Rawalpindi; Felix muss sich in Islamabad, der Schwesterstadt von Rawalpindi, nämlich noch ein Visum für Indien besorgen. In Pindi die übliche Armut, der gewohnte Dreck, die Menschenmassen in den Strassen, die Rikschas, die Ochsenkarren, die Fahrräder, das vergammelte Hotel mit den vollgeschissenen Toiletten ohne Spülung, Felix hat mal wieder oder noch immer den obligaten Dünnpfiff und es gibt nur das übliche überscharfe Essen – Felix hat eigentlich immer Dünnpiff, die Frage lautet nicht ob, sondern wie akut. Haschisch ist hingegen immer im Überfluss vorhanden. Islamabad liegt nur wenige Kilometer von Rawaldpindi entfernt und ist eine künstlich aus dem Boden gestampfte Gartenstadt, wie es Felix scheinen will, eine Beamtenstadt, aus der das «gemeine Volk» weitgehend ausgeschlossen ist, ausser als Diener und Hausangestellte der hier wohnenden Privilegierten. In Islamabad gibt es keine Armut, keine stinkenden Strassen, kein Bettlervolk, dafür Polizisten, Parkanlagen und ein zwanzigstöckiges Holiday-Inn mit allen Schikanen.
Felix muss ein wenig anstehen in der indischen Botschaft. Er hat jedoch inzwischen ein ziemlich entspanntes Verhältnis zur Zeit entwickelt. Er muss anstehen und warten und das Visum ist auch nicht gerade gratis, aber was soll’s. Nach seiner dritten Fahrt von Rawalpindi nach Islamabad hat er sein Visum schliesslich in der Tasche, ein Dreimonatevisum notabene, auf sechs Monate verlängerbar. Nicht schlecht. Felix hat inzwischen gelernt, was solche Papiere bedeuten, wenn man unterwegs ist: Papiere und Stempel sind lebenswichtig, ohne die richtigen Papiere und Stempel geht es dir auf Reisen wie dem bedauernswerten Seemann in B. Travens Roman «Das Totenschiff».
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In den «Alpen» des indischen Subkontinents
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Aber unsere Freunde wollen ja noch gar nicht nach Indien, sie wollen zuerst noch ein bisschen näher ran und tiefer rein ins hohe Gebirge, näher ran an die Achttausender und rein in die Bergwildnis zu den wilden Bergstämmen. Also nehmen sie wieder einmal in einem sowohl farbenprächtigen als auch klapprigen Bus Platz, der sie in Richtung Swat-Valley führt. In diesem Tal beginnt erneut eine ganz andere Zeit: die biblische Zeit.
Mingora ist ein kleines Städtchen aus der Zeit um Christi Geburt mit unzähligen Geschäften und Geschäftchen, die der Strasse entlang aufgereiht sind. In Mingora fehlen der Schmutz und das Gedränge der grossen Städte in der Ebene. Auch die Luft lässt sich hier leichter atmen. Und auch nicht ganz unwichtig: das Essen ist im Bergland viel besser und viel bekömmlicher als das Essen in der Ebene, weniger scharf und hygienisch einwandfrei. Die Leute sind freundlich, ohne aufdringlich zu sein. Die Menschen scheinen hier oben viel glücklicher zu sein als die Leute unten im Tal und in der Ebene. Die biblischen Greise, den Turban um den Kopf geschlungen, haben immer noch das Feuer der Jugend in den Augen, gepaart mit der listigen Weisheit des Alters. Da ist nichts tot und abgestorben an ihnen wie bei vielen Alten in unseren Breitengraden, die, entledigt aller Würde und Nützlichkeit, nur noch vor sich hin vegetieren. Diese Alten stehen, denkt Felix, als Respektspersonen noch voll im Leben.
Aber sie wollen noch höher hinaus, bis dorthin, wo die Buslinie endet, und das ist in Kalam. Weiter geht es nur noch per Kamel. Kalam, das sind ein paar Häuschen, die am Berghang kleben. In Kalam pfeift der Wind nachts kalt um die Ecken. Sie wohnen in einer farbig bemalten Herberge am Kopf der Brücke, die über den Bergbach gespannt ist und über die manchmal eine Kamelkarawane zieht oder langsam ein Lastwagen fährt. Die Bergler sind ruhige, unaufdringliche und freundliche Leute. Ihr Wirt, ein würdiger Alter mit langem Bart, verrichtet mehrmals täglich auf einem der Tische des Teehauses, das zur Herberge gehört, seine Gebete. Die Bergler sprechen kaum Englisch. Polizei gibt es keine in diesem Dorf, dafür patrouillieren nachts Männer mit geschulterten Flinten würdig durch den Ort.
In der Bergluft von Kalam kann Felix sich richtig erholen: die eiternden Wunden schliessen sich, die Verdauung beruhigt sich, der Schlaf des Nachts ist tief und fest. Tagsüber unternehmen sie Wanderungen durch die grossartige Gebirgslandschaft, nachts, wenn es dunkel und kalt wird, sitzen sie im Teehaus ihrer Lodge oder wickeln sich oben auf ihrem Zimmer in dicke Decken, reden und kommen sich vor wie in einer Geschichte von Tolkien, lesen, spielen Schach und rauchen von dem erstklassigen Haschisch, das sie für einen minimalen Betrag ganz offiziell im Dorfladen kaufen können, in Streifen geschnittene Eingrammportionen für umgerechnet weniger als zehn Rappen pro Gramm.
Nach gut einer Woche zieht es sie weiter; auch wird es im Herbst ziemlich kalt hier oben in den Bergen. Wieder besteigen sie klapprige, fantastisch bemalte Busse, nur geht es dieses Mal abwärts – das heisst: in einem ziemlich rasanten Fahrtempo, was nicht gerade zu einem stresslosen Fahrerlebnis beiträgt. In halsbrecherischem Tempo fliegt der Bus mehr als er fährt, und zwar über Strassen, die mit zuweilen krassen Schlaglöchern glänzen und in Abgründe abfallen, deren Ende nur zu erahnen ist. Die Pakistani sind so freundlich gewesen, Felix vor der Fahrt einen Joint anzubieten, was seine Paranoia natürlich nun noch verstärkt. Auch ihr Fahrer befindet sich, den roten und etwas irre blickenden Augen nach zu urteilen, nicht gerade in dem allernüchternsten Zustand. Er ist vielmehr in der Stimmung, sich mit anderen Fahrzeugen auf der Strasse Verfolgungsrennen zu liefern. Und das tut er denn auch. Geht es in vollem Tempo auf eine Brücke oder sonst eine enge Stelle zu, schicken die Passagiere und der Fahrer unisono ein laut ausgesprochenes Stossgebet gen Himmel, Allahu akbar und noch etwas Kehliges, auf dass Allah sie beschützen möge. Und tatsächlich, wie durch ein Wunder überleben sie auch diese Fahrt und langen heil in Peshawar an, wo sie ebenfalls ein paar Tage verbringen. Jede Geschichte hat unendlich viele Abzweigungen. Diese hier ist eine. Angenommen, wir würden den Bus, in dem unsere drei Freunde sitzen, tatsächlich in einen Unfall verwickeln. Ab genau hier würden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ganz andere Sätze lesen als die, die jetzt folgen. Da dem aber nicht so ist, folgt jetzt das hier: Danach fahren sie mit dem Zug zurück nach Lahore und direkt weiter nach Amritsar, ihrer ersten Station im heutigen Indien.
Freitag, 21. Dezember 2007
Im Land der Revolutionsgardisten
Der Berg Ararat
Die türkisch-iranische Grenze zieht sich durch eine kahle Gebirgslandschaft; da kann es Ende September schon recht kalt sein. Die erste persische Ortschaft liegt einige Kilometer hinter dem Grenzposten. Eine schier endlose Reihe schwerer Lastzüge auf türkischem und, vom Iran her kommend, auf iranischem Gebiet. Das ewiglange Warten im Regen, im Wind. Am Grenzposten selbst gibt es keine Verpflegungsmöglichkeit, nicht einmal die Gelegenheit, einen heissen Kaffee oder Tee zu trinken. Uniformierte stehen herum. Felix und seine deutschen Freunde warten und frieren, wissen lange nicht, dass sie erst am nächsten Tag abgefertigt werden. Es wird Nacht, ihr Bus mit dem Gepäck ist versiegelt, neben der langen Kolonne von Lastwagen kochen die persischen und türkischen Fernfahrer in rauchigen Unterständen Kaffee. Wieder einmal kommen die Mitteleuropäer in den Genuss orientalischer Gastfreundschaft. Und sie erfahren, dass sie, wenn sie irgendwo im Trockenen übernachten wollen, schon in den ersten Ort hinter der iranischen Grenze müssen: da gibt es Pensionen, und es gibt Taxis, die zwischen der Grenze und der Ortschaft verkehren. Offenbar ist das grenztechnisch kein Problem.
Die Strassen dieser Ortschaft sind menschenleer, die Pension, in der sie schliesslich unterkommen, ist ein Dreckloch, das sie mit einem dicken Iraner jüdischer Herkunft zu teilen haben, der Felix schon unterwegs im Bus wortreich seine geschäftlichen Misserfolge, seinen Ärger mit der Gattin und seine Umstände mit der neuen Regierung Khomeinis beklagt hat. In einer leeren Kneipe serviert ihnen ein mürrischer Wirt Rührei mit Brot und Coca Cola, im Iran trotz islamischer Revolution – und obwohl die USA der Todfeind sind – das Nationalgetränk Nummer eins.
Anderntags wieder im Bus auf der über tausend Kilometer langen Strecke über Täbris nach Teheran. Wolfgang ist krank, hat sich im kalten Regen an der Grenze eine Halsinfektion geholt, fiebert jetzt: sie füttern ihn mit Codeintabletten, aber das hilft wenig. Dreimal im Tag hält der Bus bei einer Art Motel. Sie kriegen gegen Lebensmittelchips das immer gleiche Menu vorgesetzt: Reis, Hühnchen, einen Teller mit Zwiebeln, mit Wasser verdünntes Joghurt und natürlich die unvermeidliche Cola. Sie werden – als Ungläubige – konsequent immer erst als letzte bedient: Jetzt ist es vorbei mit der orientalischen Gastfreundschaft, die sie sich von der Türkei her gewohnt waren. Oder doch nicht ganz. In einem dieser Motels bietet ihnen ein Iraner an ihrem Tisch zum Tee ein kleines Kügelchen in Zeitungspapier gewickeltes Irgendwas an, das sie schlucken sollen, das sei die reinste Medizin; es ist Roh-Opium, und die nächsten paar Stunden der Reise werden ganz angenehm.
In Teheran kommen sie an einem frühen Sonntagmorgen an, weit ausserhalb des Stadtzentrums. Ein Taxi fährt sie zu einem übersetzten Preis in die Nähe des Khomeini-Squares, in die Gegend der Billighotels, in der sich auch das früher in der Travellerszene auf dem Hippie Trail legendäre, jetzt geschlossene Hotel Kabir befindet.
Aber sie haben Mühe, ein Zimmer zu bekommen. Man empfängt sie meist mit abweisenden Mienen, behauptet, man sei ausgebucht. Die Leute scheinen Angst zu haben, sie zu beherbergen. Fremde sind offiziell unerwünscht in der neuen islamischen Republik. Doch dann kommen sie doch noch irgendwo unter.
Teheran mutet auf den ersten Blick westlich an und ist nach der «Rückständigkeit» Anatoliens eine geradezu «moderne» Stadt. An diesem Sonntag wirkt sie etwas leblos, auf der Strasse sieht man nur wenige Menschen, es gibt in dieser Gegend auch relativ wenig Verkehr und sie suchen lange nach einem offenen Teehaus. Die Perser trauen sich nicht so recht, mit den Fremdlingen Kontakt aufzunehmen, obwohl es den Anschein hat, als ob viele dies gern tun würden. Unsere drei Freunde, die alle blondschopfig (und damit visuell äusserst exotisch) sind, fühlen sich etwas verloren in dieser Stadt.
Am Abend die Schwulen vor dem Hauptpostgebäude, das den Khomeini-Square abschliesst; sie versuchen, die drei jungen Fremden anzumachen, und Felix kommt mit einigen von ihnen ins Gespräch. Sie sind allesamt kreuzunglücklich über die neue Situation in ihrem Heimatland, sie fühlen sich unter der Herrschaft der Mullahs nicht nur noch eingeschränkter als vorher schon, sondern sogar bedroht, und sie vermissen Whisky und anderes Feuerwasser, von dem sie heute nur noch träumen können.
(Die Menschenrechtsorganisation «Human Rights Watch» beschreibt – viele Jahre später – die Strafen, die in der Islamischen Republik bei Homosexualität verhängt werden: Demnach steht laut Paragraf 111 des Strafgesetzbuches auf Sex zwischen zwei Männern die Todesstrafe. Die Paragrafen 121 und 122 bestrafen das «Vorspiel» ohne Penetration mit 100 Peitschenhieben für beide Partner. Nach dem vierten Vergehen wartet die Exekution. Nach Paragraf 123 gibt es 99 Peitschenhiebe für nicht verwandte Männer, die «nackt unter demselben Laken liegen, ohne dass dies nötig wäre». Die Paragrafen 127 bis 134 regeln lesbische Beziehungen, die mit bis zu 100 Hieben geahndet werden. Auch hier gibt es beim vierten Urteil die Todesstrafe. Inwiefern diese Strafen im Verlauf der Geschichte der islamischen Republik angewandt wurden und werden, ist natürlich eine andere Frage und änderte sich auch immer wieder. Unter Chatami war die Situation, zum Beispiel im Vergleich zur Situation unter Khomeini oder auch wieder unter dem heutigen Präsidenten Ahmadinedschad, relativ liberal. Auch scheint es so, dass die Lage von Schwulen in der Stadt viel besser ist als von Schwulen in der Provinz, was ja anderswo tendenziell auch nicht anders ist. Wenn man im Internet recherchiert, stösst man auf widersprüchliche Informationen. Sicher ist, dass es in Teheran trotz der desolaten gesetzlichen Lage immer eine mehr oder weniger versteckt agierende Gay Scene gegeben hat. Befragt man iranische Schwule, sagen sie, es sei in der iranischen Männergesellschaft relativ leicht, sich zu tarnen, da es in ihr auch unter Heteros durchaus nicht unüblich sei, Hand in Hand durch die Stadt zu flanieren oder sich mit einem Küsschen zu begrüssen. Wie da wohl die aggressive Schwulenfeindlichkeit der iranischen Gesetze mit der unterschwelligen Homoerotik der iranischen Gesellschaft zusammenhängen mag?).
Nach zwei Tagen in Teheran macht unser Trio sich auf zum grossen Busbahnhof, weil sie weiterkommen müssen. Felix hat bloss ein Transitvisum von einer Woche, um den Iran diagonal von Nordwest nach Südost zu durchqueren und es liegen noch über tausend Kilometer bis Zahedan, der letzten Station vor der pakistanischen Grenze, vor ihnen. Dieser Busbahnhof ist überfüllt mit Menschen; sobald jemand mit Felix und seinen Freunden Kontakt aufnehmen will, wird er von einem der überall anwesenden Revolutionsgardisten scharf zurechtgewiesen. Einer dieser Gardisten tritt schliesslich mit der Absicht auf sie zu, sie auf Drogen oder Pornographie oder sonstige Anstössigkeiten zu filzen. Sie müssen ihm in einen fensterlosen Raum folgen, wo er ihr Gepäck äusserst gründlich durchsucht. Felix hat wieder einmal einen metallischen Geschmack im trockenen Mund und Adrenalin im Blut, und eine unsichtbare Faust hält seine Eier umklammert. Anfangs ist der Revolutionsgardist, ein junger bärtiger Kerl mit kohlenrabenschwarzen Augen, sehr grob und unfreundlich; als er aber nichts Belastendes findet, wird er plötzlich sehr zudringlich, will sie umarmen und küssen und wohl noch ganz anderes mit ihnen anstellen, aber jetzt ist die Reihe an unseren Reisenden, energisch zu werden, und zwar im abweisenden Sinn. Was bildet sich dieser heuchlerische Kerl bloss ein? Oder ist dieser «Annäherungsversuch» nur ein Trick, um sie reinzulegen? Niemand wird es je erfahren. Schliesslich lässt er sie jedenfalls anstandslos ziehen, was sie denn auch mit ein wenig zitterigen Knien tun, froh, wenig später in einem ganz komfortablen Reisebus zu sitzen, unterwegs nach Belutschistan und neuen Abenteuern entgegen. Einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag soll diese Etappe der Reise dauern, vorbei an Quom, an Isfahan, vor allem aber durch kahles Steppen- oder Wüstengebiet, in dem am meisten die komplette Abwesenheit der Farbe Grün auffällt. Die Welt scheint nur noch aus Trockenheit, Monotonie, Hitze und Staub zu bestehen. Felix schläft oder döst die meiste Zeit vor sich hin; neben ihm sitzen abwechselnd zwei hübsche, vielleicht sechzehnjährige Jungs, deren Farsi einen erregend weichen Tonfall hat, wobei die Endsilben lange gedehnt werden (so stammen sie zum Beispiel aus Kernaaaan). In der Nacht lehnt der Kopf des einen schlafend an seiner Schulter, dann ruht die Wange von Felix auf dessen schwarzglänzendem Haar; durch sein Dösen zieht sich ein träger Reigen erotischer Bilder, die ihn in einen eigenartig entrückten, beinahe tranceähnlichen Zustand versetzen.
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Die Wüste Belutschistan
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In Zahedan, der südpersischen Stadt am Rande der Wüste Belutschistan, haben sie wiederum Mühe, eine Unterkunft zu finden. Man behandelt sie überaus frostig und verlangt horrende Preise für schäbigste Zimmerchen. Das verstärkt ihren Wunsch, den ungemütlichen Iran so rasch wie möglich zu verlassen. Es trennen sie auch nur noch wenig mehr als hundert Kilometer von der Grenze zu Pakistan.
Es gibt keinen geregelten Busverkehr und auch keine asphaltierten Strassen zwischen Zahedan und dem iranisch-pakistanischen Grenzposten; aber es fahren in Japan fabrizierte Kleinlastwagen dorthin, sie transportieren Waren in die grenznahen Dörfer und nehmen Reisende gegen ein Entgelt auf der Ladefläche mit. Felix, Wolfgang und Christian vermummen also ihre Gesichter mit Tüchern gegen den herumwirbelnden Sand in der Luft und fahren ein paar Stunden über holprige Sandpisten in der Hitze und im Staub – das ist zwar ziemlich unbequem, verpasst ihnen aber als kostenlose Zugabe das perfekte Marlboro-Indiana-Jones-Feeling von Freiheit und Abenteuer. Auch Karl May kommt Felix in den Sinn, Felix hat als Kind sämtliche Karl May-Bücher gelesen, Reminiszenzen an die Lektüre von «Im wilden Kurdistan» und «Der Schut» klingen in ihm an. Jetzt gibt es gar kein Grün mehr in der Umgebung, selbst die paar wenigen kümmerlichen Bäume sind gelblich und schmutziggrau, die Dörfer, die sie durchqueren, liegen vertrocknet und von der Sonne völlig ungeschützt in der Wüste, die Leute, die hier wohnen, leben, wie es Felix scheint, in einem Kaff am Rand der Hölle. Selbst jetzt, im Herbst, ist es unerträglich heiss; im Sommer muss es hier nicht bloss wie am Rand, sondern wie mitten im Zentrum der Hölle sein.
Schliesslich der Grenzposten, ein paar vereinzelte, niedrige Gebäude, ein paar buntbemalte Fahrzeuge, ein Zeltlager, kein Baum, kein Strauch. Die Grenzformalitäten verlaufen denn auch entsprechend unkompliziert – das ist offenbar kein wichtiger und eigentlich auch kein richtiger Grenzübergang, obwohl er eine sehr einschneidende kulturelle Grenze markiert. Jedermann könnte problemlos von der einen auf die andere Seite dieser imaginären Grenzlinie spazieren. Hier tragen die Männer Turbane und Pluderhosen, hier ist es endgültig vorbei mit der westlichen Zivilisation, hier, an diesem unbedeutenden Grenzposten, liegt der Schnittpunkt zu der so völlig anderen südasiatischen Welt. Lastwagenfahrer und andere Männer hocken auf Matten und trinken Tee, Busse warten, und zwar überaus prachtvoll bemalte und mit falschem Silber verzierte Museumsmodelle, einzelne davon geschmückt wie ein Tannenbaum an Weihnachten. Es gibt hier immerhin eine Teestube und einen Stand, an dem man sich mit Melonen verpflegen kann. Es wird Abend und schnell Nacht, Felix und seine Freunde rollen ihre Schlafsäcke aus und übernachten im Sand unter einem wolkenlosen Himmel, der einen Vollmond trägt. Männer liegen auf Bettgestellen im Freien, der Duft von gebratenem Fleisch hängt in der Luft, ein Hauch von Musik weht herüber. Hektik ist an diesem Ort absolut unvorstellbar: wenn man hier etwas im Überfluss hat, dann ist es Zeit.
Sehr früh am Morgen, noch vor Anbruch der Dämmerung, fährt ihr Bus, eines dieser geschmückten Museumsmodelle, los, überaus vollgepackt mit Menschen, Hühnern, Schafen, Warenballen und Krügen. Die Passagiere quetschen sich nicht nur im Wageninnern zusammen, sondern hängen auch in Trauben auf dem Dach. So quält sich das Gefährt mühsam und kaum schneller als im Schritttempo schlingernd über die Sandpiste, und wenn es auch «nur» etwas über sechshundert Kilometer sind, die unsere Freunde von Quetta, der ersten grösseren Stadt auf pakistanischem Boden, trennen, so wissen sie doch: da wartet eine ebenso lange wie unbequeme Fahrt auf sie, aber auch eine Fahrt, die sie nie mehr vergessen werden. Bald tut der Hintern weh und wenig später der ganze Körper und dann auch an Stellen, von denen sie bisher nicht wussten, dass sie überhaupt im eigenen Körper existieren, denn das altertümliche Fahrzeug hat keine Federung. Es ist heiss und eng und stickig und es quält sie der Durst. Manchmal hält der Bus in einem Wüstendorf oder an einer Wasserstelle mit Ziehbrunnen, längs der Eisenbahnstrecke, die einst Quetta mit Zahedan verbinden sollte; da trinken sie brackiges, lauwarmes Wasser, was vielleicht keine besonders gute Idee ist, aber immer noch besser, als zu verdursten. Immer mal wieder muss am Bus ein Rad ausgewechselt werden, das dauert jeweils, zwei, drei oder auch vier Stunden; geschieht es des Nachts, dann werfen sich die Leute neben dem Bus auf mitgebrachte Decken, um augenblicklich einzuschlafen, und auch Felix und seine Freunde versuchen, sich trotz Erschöpfung, Durst und schmerzenden Gliedern – irgendwann gesellt sich bei Felix dann auch noch ein Dünnpfiff dazu – zu entspannen. Niemand murrt, dass es zu wenig rasch vorwärts gehe: der Fahrer, dessen Augen vor Anstrengung und Erschöpfung rot entzündet sind, und seine Helfer geben ihr bestes, da lernen auch die Mitteleuropäer, sich dem Schicksal zu ergeben.
Das Zeitmass dieser Fahrt lässt sich nicht in Worte fassen; irgendwann verliert Felix jedes Zeitgefühl, er existiert quasi nur noch auf einer vegetativen Ebene, vielleicht ähnlich wie die Schafe und Hühner auf dem Dach. Als sie endlich, endlich in Quetta ankommen – sie haben schon nicht mehr daran geglaubt, und die Stadt taucht wie eine Vision aus einem alten Western vor ihren Augen aus der Wüste auf –, sind sie so erschöpft, so erregt, so glücklich und so berauscht, dass sie es fast wie eine Heimkehr empfinden. Die Bettler, die fliegenden Händler, die Rikscha- und Tongafahrer drängen sich im Busbahnhof um sie, als wären sie die Radschas. So gleichgültig sind sie, dass sie ohne weiteres Feilschen auf das Angebot des erstbesten Tongafahrers eingehen, sie in ein Hotel in der Stadt zu fahren. Auf dieser Fahrt offeriert ihnen aus einem anderen Gefährt heraus jemand den Rest eines Joints, der jedem von ihnen einen einzigen tiefen Zug erlaubt, was aber bei allen drei sogleich die Hirnzellen explodieren lässt.
Mittwoch, 19. Dezember 2007
Der Militärputsch
Der Film Zincirbozan beleuchtet eine geschichtliche Episode, die mit der Ermordung des Journalisten Abdi Ipekci bagann sowie die Terrorvorgänge, die zum Militärputsch am 12. September 1980 führten. Der Umgang der Politik mit den Geschehnissen dieser Zeitperiode, der Militärputsch und wie die Parteiführer damals ins Exil getrieben wurden sind Themen von Zincirbozan, der von teilweise unbekannten Aspekten dieser Zeitgeschichte handelt. Die Hauptfiguren von Zincirbozan sind die wichtigen politischen bzw. militärischen Protagonisten der Jahre 1979 bis 1983, die als die bewegtesten der jüngsten türkischen Geschichte angesehen werden können. Der Titel basiert auf der Militäreinrichtung in Zincirbozan in der Provinz Canakkale, in der einige Politiker nach dem 12. September interniert wurden.
Es geschieht auf der Fahrt im Bus zwischen Alanya und Mersin. Wieder ist Felix der einzige Europäer im Bus. Um elf Uhr in der Nacht ist er losgefahren und jetzt entsprechend müde: anderntags um neun oder so soll Felix in Adana schon ziemlich im Osten der Türkei ankommen. Er dämmert so vor sich hin, aus dem Radio erklingen leise türkische Schlager und die anderen Fahrgäste, die Frauen mit ihren Kopftüchern, die Männer mit ihren imposanten Schnauzbärten und die Kinder mit ihren Schnudernasen dösen ebenfalls mit nach vorn oder hinten gefallenen oder durch die Fahrt über Schlaglöcher leicht hin- und herschwankenden Köpfen.
Plötzlich, irgendwann in dieser Nacht, Unruhe im Bus: das Radio bringt jetzt keine Schlagermusik mehr, stattdessen ist eindringlich und pathetisch eine harte, metallische, militärische Männerstimme zu hören, dann Marschmusik. Die Türken im Bus diskutieren erregt, jede Spur von Schläfrigkeit ist aus dem Fahrzeug hinweggefegt, und wenn Felix auch an Wortsinn nichts versteht, die Atmosphäre zeigt ihm an: etwas ist geschehen, etwas, dass das ganze Land aufwühlt, etwas Bedeutsames auf dem Gebiet der Staatsführung und Politik, ein Umsturz, denkt er, und erinnert sich daran, wie oft im Gespräch schon von der Möglichkeit eines solchen Umsturzes in letzter Zeit die Rede war.
Felix kümmert die Politik der Türkei zunächst einmal wenig, er ist aus persönlichen Gründen beunruhigt und auch ein wenig verärgert, denn er sieht Komplikationen auf sich zukommen, Verzögerungen seiner Reise.
Als sie in Mersin eintreffen, wird es bereits hell. Die Strassen der Stadt sind menschenleer, abgesehen von viel Militär, von Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag, von drohenden Panzern, von hin- und herfahrenden Armeejeeps. Die Geschäfte sind geschlossen, das öffentliche Leben der Stadt ist offenbar völlig zusammengebrochen. Bevor der Bus in die Stadt einfahren darf, werden die Passagiere ein erstes Mal von einer Militärpatrouille kontrolliert. Man will Pässe und Identitätskarten sehen und tastet sie nach Waffen ab; auch Koffer und Taschen werden geprüft.
Dann darf der Bus in den grossen Busbahnhof von Mersin einfahren. Inzwischen ist es heiss geworden, Felix würde gern einen Kaffee trinken, auch ist er hungrig. Und er würde natürlich gern wissen, was denn nun genau los ist. Jemand erklärt ihm in gebrochenem Deutsch, es handle sich um den seit langem erwarteten Militärputsch, General Evren habe die Macht ergriffen, um das Land von «Terrorismus» und «Anarchie» zu befreien. Es ist nicht zu ersehen, ob die Leute diesen Militärputsch begrüssen oder ablehnen, scheinbar gleichmütig fügen sie sich in das, was ihnen als Schicksal widerfährt. Und das heisst vorerst: warten – auch für Felix. Einfach warten, ohne zu wissen, ob und wann und wie es weitergeht.
Warten hat Felix schon immer nervös gemacht, und dieses Warten in Ungewissheit macht ihn fast verrückt. Wieder einmal verflucht er jene Antriebskraft, die ihn dazu verführt hat, diese Reise zu machen. Warum reist man überhaupt? Doch nur, um in Schwierigkeiten zu geraten! Er raucht eine Zigarette nach der anderen und ergeht sich hektisch zwischen den wartenden Autobussen und den gelassen im Schatten sitzenden Türkinnen und Türken – Frauen, Männer, Kinder, redend, rauchend, scherzend, essend. Das Warten dauert stundenlang.
Endlich fährt ihr Bus weiter nach Adana. Unterwegs auf den Strassen ein paar andere Busse, aber sonst kein nichtmilitärischer Verkehr. Felix ist müde und deprimiert.
In Adana angekommen, bleibt der Aktivitätsradius der Reisenden erneut auf das Areal des Busbahnhofs beschränkt, es herrscht Ausgangssperre total für die ganze Stadt, rund um die Uhr, Busse fahren jetzt keine mehr weg und es kommen bald auch keine mehr im Busbahnhof von Adana an. Die Getränke-, Früchte- und Lebensmittelstände, die zu diesem unglaublich hässlichen Busbahnhof gehören, sind schon bald leergekauft; trotzdem besorgen ein paar junge, durch die Ereignisse in ihrer Lebensfreude offenbar uneingeschränkte Türken für Felix irgendwo Käse, Brot, Trauben, Tee und Zigaretten – gratis und franko. Sie schwatzen mit Felix, auf Kisten hockend, fragen ihn aus über Europa, die Schweiz und natürlich über die Schweizer Mädchen – sie wollen alle, dass Felix ihnen Schweizer Mädchen vermittelt, die sie dann heiraten können. Über den Putsch äussern sie sich nur vage, sie haben offensichtlich keine eindeutige Meinung dazu, der Putsch scheint sie auch wesentlich weniger zu interessieren als die Frage der heiratswilligen Schweizer Mädchen, von deren Schönheit und Wohlhabenheit sie vage haben munkeln hören.
Adana
Es wird Abend und einer der neuen Freunde redet für Felix mit einem wachhabenden Soldaten, der es möglich macht, dass Felix in einem der Hotels an der Peripherie des Busbahnhofs übernachten kann. Felix hat sich selten so auf ein Bett gefreut. In diesem Hotel logieren auch einige andere Europäer, unter anderem ein Holländer, der Felix auf ein Glas Wein in sein Zimmer einlädt (in so einer Situation kommen sich Fremde, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, rasch näher); er ist Schriftsteller und arbeitet an einem Buch über die Kurden. Gestern noch sei er im nahe gelegenen Kurdengebiet gewesen und auf abenteuerlicher Fahrt nach Adana zurückgelangt; die Kurden würden unter dem Putsch besonders zu leiden haben, diese Autonomisten und ewigen Rebellen hätten von der Ruhe-und-Ordnung-Politik der Generäle nichts Gutes zu erwarten. Er kehre nach Istanbul und dann nach Holland zurück; er habe genug Material für sein Buch, er könne es auch daheim fertig schreiben. Nachdem er Felix nach dessen Reiseplänen gefragt hat, rät er ihm dringend, schleunigst die Reiserichtung zu wechseln und ebenfalls nach Hause zurückzureisen. Um wie geplant nach Erzurum zu kommen, müsse Felix durch Kurdengebiet fahren, Busse könnten überfallen werden, und auch der Iran sei, wie Felix bestimmt wisse, Krisengebiet, überall würden die Revolutionswächter des siegreichen Ayatollah Khomeini ihr Unwesen treiben, auch spitze sich der Konflikt mit dem Irak zu.
Felix ist total verunsichert. Er will weiter; eine Umkehr erscheint ihm wie eine Kapitulation. Aber er hat auch Angst oder besser gesagt: er hat die Hosen quasi bis unter den Kragen gestrichen voll. Nun, erschöpft genug ist er, das Ganze erst einmal zu überschlafen.
Felix muss zwei Tage in Adanas Busbahnhof und dem schäbigen Hotel an seiner Peripherie ausharren, dann nimmt der öffentliche Busverkehr im Osten der Türkei ihren Betrieb wieder auf. Noch immer ist Felix unentschieden darüber, wie es weitergehen soll: zurück nach Europa oder weiter nach Indien? Da bietet man ihm ein Ticket nach Erzurum an; Felix kann die Entscheidung also wieder einmal dem Schicksal überlassen. Er nimmt sich immerhin vor, die Türkei so schnell wie möglich zu verlassen. Viele Stunden fährt Felix durch Bergland Richtung Norden; in Elazig wechselt er den Bus, unterstützt von einem jungen Soldaten, der in Erzurum seinen Dienst anzutreten hat und Felix seine Freundschaft anbietet (wie sie ihm so oft auf dieser Reise von Türken angeboten wird). Wieder viele Kontrollen, vor, in und nach jeder Ortschaft, die sie passieren – Leibesvisitationen, Gepäck- und Ausweiskontrolle, Felix gewöhnt sich allmählich daran, und er wird nicht auch nur ein einziges Mal schlecht behandelt, im Gegenteil, man gewährt ihm als Fremdem in der Regel sogar eine Vorzugsbehandlung.
Elazig
Nach zwei Tagen und zwei Nächten unterwegs kommt Felix endlich im Busbahnhof von Erzurum an; er erwischt gerade noch ein Taxi, um vor der Ausgangssperre, die jetzt (oder in diesem Teil des Landes) auf 18 Uhr festgelegt ist, in einem Hotel unterzukommen. Erzurum liegt in karger Wüsten- und Steppenbergwelt und ist schon sehr viel mehr Asien als der westliche Teil Anatoliens; die Bräuche und das Aussehen der Menschen sind «orientalischer», das zwanzigste Jahrhundert hat hier noch nicht im selben Mass Einzug gehalten wie in der Westtürkei.
In seinem Hotel lernt Felix zwei junge Deutsche kennen, den Wolfgang und den Christian aus Hofheim bei Frankfurt, beide nach dem Abitur und einem Jahr Zivilschutz ebenfalls auf dem Weg nach Indien. Sie schliessen sich sofort ganz selbstverständlich zusammen und wollen gemeinsam weiterreisen. Aber vorerst bleiben sie noch für ein paar Tage in Erzurum. Tagsüber lassen sie sich durch die von buntem orientalischem Leben durchpulste Stadt treiben; nach achtzehn Uhr aber sind die Strassen auf einen Schlag leergefegt und Polizei und Militär dominieren den öffentlichen Raum. Also spielen sie in Teehäusern Tavla, das Brettspiel, oder unterhalten sich in Bierhallen mit Einheimischen: da merkt man eigentlich nicht viel von den politischen Umwälzungen. Nur Zigaretten werden zur Mangelware. Wird ein Kiosk mit den begehrten Glimmstängeln beliefert, hängen die türkischen Männer in Trauben davor und schon nach wenigen Minuten ist der Laden ausverkauft. Wenn Felix und seine neuen Freunde jetzt Zigaretten geschenkt bekommen, ist das schon ein besonderes Entgegenkommen. Weil sie Ausländer sind – und die drei scheinen die einzigen Ausländer in der Stadt zu sein – verkauft man ihnen in einem staatlichen Tabakbüro ein paar Extrapackungen extrastarke und extrakratzige Bafras und serviert ihnen Tee.
Erzurum
Am Abend sitzen sie inmitten einer Gruppe von Türken in der Teestube ihres Hotels und schauen wie die anderen in die Glotze, welche die Quadratschädel der nun regierenden Generale zeigt. General Evren hält eine ziemlich lange Rede, in der ziemlich oft von Terrörismus die Rede ist. Die Türken nehmen diese Rede zur Kenntnis und reagieren weder sichtlich zustimmend noch sichtlich ablehnend darauf.
Später in der Nacht sitzt Felix mit Christian und Wolfgang in einem ihrer Zimmer und hört ihnen zu, wie sie aus ihrem Leben erzählen, lauscht ihrem jugendlichen Lebensdurst, saugt ihre Neugierde auf und wird erneut angesteckt von und infiziert mit Abenteuerlust, so dass sich seine bisherige Mutlosigkeit gänzlich verliert. Sie erzählen von Syrien, wo sie auf dieser Reise auch schon waren, und von Deutschland, von ihrem Zivildienstjahr, von exzessiven Festen, vom Hofheimer Jazzkeller, von zurückgebliebenen Freunden – den Hofheimer Freaks –, Geschichten, wie Felix sie in den nächsten Wochen und Monaten noch oft zu hören bekommen wird, sodass ihm der Lebensraum, aus dem seine neuen Freunde kommen, schliesslich fast zur Selbstverständlichkeit wird, so, als hätte er deren Vergangenheit persönlich miterlebt (als Felix eine geraume Zeit später dann Hofheim einmal besucht, wird ihm allerdings klar, wie subjektiv eingefärbt diese Erinnerungen waren, an denen er so intensiv teilgenommen hat).
Nach ein paar Tagen müssen sie sich bereits von Erzurum losreissen, und so ist es eigentlich immer auf dieser Reise: hat Felix sich mit einer Stadt, einer Landschaft ein bisschen vertraut gemacht, so bedeutet das in dieser Fremde immer schon ein Stück Heimat und jeder erneute Aufbruch erfordert wieder den Mut des erneuten Abschiednehmens, das eine Konzentration der Kräfte bedingt. Das Aufbrechen bringt das bittersüsse Gefühl des erneuten Sichpreisgebens und Loslassens mit sich.
Östlich von Erzurum wird die steppenartige Landschaft immer zivilisationsärmer und menschenleerer; endlos kämpft sich der Bus mit dem halbdefekten Motor durch die Weite und die Haarnadelkurven am Fuss des schneebedeckten Ararat; in der letzten Ortschaft vor der persischen Grenze, einem erbärmlichen, sandwinddurchtosten Kaff, müssen sie den Bus wechseln und steigen in ein mit angeheiterten Persern reichlich gefülltes Gefährt, das sie weiter bis zur Grenze bringt.
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Was war da eigentlich los?
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1975 wurde der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Bülent Ecevit vom Vorsitzenden der Gerechtigkeitspartei (AP), Süleyman Demirel im Amt des Ministerpräsidenten abgelöst. Er ging mit der fundamentalistisch ausgerichteten MSP und der rechtsradikalen MHP eine Dreiparteienkoalition der «Nationalistischen Front» ein. Bei den Neuwahlen von 1977 konnte sich weder die CHP noch die AP durchsetzen. Zunächst konnte Demirel seine Koalition der «Nationalen Front» fortführen. 1978 gelang es Ecevit, nun durch Parteiwechsler gestärkt, die Koalition zu stürzen und selber eine Koalitionsregierung zu bilden. 1979 kam wiederum Demirel an die Macht. Das Bild der Türkei ist Ende der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts geprägt durch fehlende politische Stabilität, ungelöste wirtschaftliche und soziale Probleme, Streiks und Gewalt links- und rechtsextremer Gruppen. Die Politik und die Sicherheitskräfte scheinen ausserstande, die Gewalt zu bekämpfen. Den Kämpfen zwischen «Links» und «Rechts», aber auch zwischen linken Gruppierungen, die bürgerkriegsähnliche Züge annehmen, fallen mehr als 5000 Menschen zum Opfer.
In dieser Situation putscht sich das Militär am 12. September 1980 zum dritten Mal an die Macht. Putschistenführer General Kenan Evren verhängt über das Land das Kriegsrecht und verbietet alle politischen Parteien. Die Regierung wird des Amtes enthoben, Gewerkschaften, Vereine und Stiftungen werden verboten und ihre Funktionäre vor Gericht gestellt. Der Putsch richtet sich vornehmlich gegen die aufkeimende kurdische Befreiungsbewegung sowie gegen linke und kommunistische Kräfte. Tausende von politischen Gefangenen werden gefoltert und zum Tode verurteilt. Die Meldung in Cumhuriyet vom 12. September 1980 (auch zu finden auf der türkischen Seite zum Militärputsch vom 12. September 1980) spricht von 650000 politischen Festnahmen, 7000 beantragten, 571 verhängten und 50 vollstreckten Todesstrafen und dem nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen. amnesty international nennt die Zahl von 47 nachgewiesenen Todesfällen unter Folter (40 davon von der damaligen türkischen Regierung zugegeben) und weiteren 159 Fällen, in denen der Verdacht auf Folter als Todesursache nicht ausgeräumt werden kann. Die PKK zieht sich schon ein Jahr zuvor teilweise aus der Osttürkei in den Libanon zurück, nach dem Putsch werden alle Gruppen ins Ausland gerufen. Türkische oppositionelle Gruppen gehen ebenfalls ins Exil, die meisten nach Europa.
Die These, dass der Putsch von der NATO und den USA unterstützt wird, stützt sich auf drei Argumente. Im Rahmen der OECD leisten verschiedene NATO-Länder in den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts eine umfangreiche Militär- und Wirtschaftshilfe an die Türkei. Es wird ein türkisch-amerikanischer Verteidigungsrat gegründet, mit dem die USA die Stationierung der Spezialeinheit schnelle Eingreiftruppe (Rapid Deployment Force = RDF) besonders in Ostanatolien forcieren will. In dem Buch von M. Ali Birand, «12. September, 4 Uhr» (1984) wird beschrieben, wie der Berater des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Paul Henze, der zwischen 1965 und 1970 bei der US-Botschaft in Ankara tätig ist, die Nachricht vom Militärputsch in der Türkei an den Präsidenten der USA, Jimmy Carter, der sich im Kennedy-Center das Musical «Fiedler auf dem Dach» anschaut, mit den Worten «Unsere Jungs (in Ankara) haben es getan» («Our boys did it») überbringt. Dies wird im Juni 2003 von Paul Henze bestritten, aber kurz darauf veröffentlicht M. Ali Birand eine Kassette mit einem Interview von Paul Henze in Washington im Jahre 1997 im Fernsehsender CNN Türk, wo Paul Henze lediglich bestreitet, dass er die sinngemäss korrekt wieder gegebene Nachricht selber überbracht habe.
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