Der Chefarzt war ein altmodischer Herr von leptosomer Gestalt mit einem in die Länge gezogenen Gesicht, in dem sich würdige Zuversicht mit einem abgeklärtem Fatalismus paarte. Wieder so einer, der dem guten Don Quichotte bis an die Nasenspitze glich. Der hohe Herr bot seinem Gast als erstes einen Cognac an.
«Wer auch immer Sie sind», eröffnete der Chefarzt das Gespräch, «und woher auch immer Sie kommen und was auch immer Sie wollen, ich begrüsse Sie als eine angenehme Auswechslung im misericordianischen Alltag. Man muss mit der Welt da draussen in Kontakt bleiben, schliesslich, als der oberste Chef aller Misericordianer. Prost!» – «Aber Ihren Untertanen scheinen Sie diesen Kontakt nicht zubilligen zu wollen, Herr Professor, wenn ich das richtig verstanden habe. Sie lassen – mit wenigen Ausnahmen – keine Fremden in dieses Land herein, und die Misericordianer dürfen nicht ins Ausland reisen.» – «Unsere Leute wissen mit den Fremden und dem Fremden nicht umzugehen. Noch nicht. Sie fürchten sich vor den Fremden – vor dem Fremden – und hassen sie deshalb. Besser, wir halten sie vor ihnen fern. Sie sind so unsicher, unsere Misericordianer. Sie brauchen einen Halt in ihrem Leben, eine Identität, eine Religion. Das alles bieten wir ihnen in unserem alles umfassenden Gesundheitsstaat.» – «Stichwort Gesundheit: dieser Begriff hat doch, Herr Doktor, in Misericordia wohl eine rein ideologische Funktion?» – «Natürlich kann man die Idee der Gesundheit als rein fiktional betrachten. Kann sagen, dass Gesundheit nur relativ zur Krankheit existiere. – Sehen Sie: Ich bin Platoniker. Genauso, wie das Schöne und das Gute, so es sich auf Erden manifestiert, nur ein schwacher Abklatsch des Schönen und Guten an sich, der Idee des Schönen und Guten ist, ist auch die Gesundheit (die bloss die Abwesenheit der Krankheit bedeuten mag) relativ, ein schwacher Abklatsch der Idee der Gesundheit oder der Gesundheit an sich.» – «Ich nehme an. dass wohl die wenigsten Ihrer Untertanen, Herr Professor, Ihrer philosophischen Argumentation zu folgen vermögen.» – «Früher habe ich darum gekämpft. Jetzt warte ich ab. Das Wachsen und Reifen der Menschen braucht Zeit. Es ist unabdingbar, dass die Menschen durch viele Irrtümer hindurchgehen, bevor sie das Licht der Wahrheit sehen können. Jetzt richten sich die Menschen noch an den äusseren Insignien des Gesundheits- und Krankenwesens auf. Sie haben eine kindliche Freude an weissen Kitteln, Stethoskopen und Pissnelken, eine Neigung, die der Fachmann in einzelnen extremen Fällen geradezu als fetischistische Pathologie diagnostizieren würde. Dies natürlich out of record. Meine lieben Misericordianer fürchten sich sehr vor Viren, Bakterien und unkontrollierbar sich vermehrenden Zellen. Sie fürchten sich, wie gesagt, vor dem Fremden, ohne zu merken, dass das, was sie als das Eigene, Vertraute zu erkennen glauben, der Volkskörper, dem sie sich zugehörig fühlen, die Heimat, die sie die ihre nennen, dass das alles letztlich auch Ideen und Fiktionen sind – sagen wir ruhig: Hirngespinste – wie ‹die Gesundheit›. Ideologien eben. Die Gesundheit im platonischen Sinn ist weit mehr als Gesundheit im herkömmlichen Sinn: sie ist Glück, Weisheit, Erfüllung, Erleuchtung. So, wie sich hinter Begriffen wie Freiheit oder Gerechtigkeit oder Frieden am Horizont eine Realität auftut, die Glück, Weisheit und das Ende allen Leidens umfasst. Ich weiss, ich erkläre unklare Begriffe mit unklaren Begriffen – aber es geht leider nicht anders. Dieses Pudels Kern lässt sich sprachlich nur umkreisen. Dieser Kern des Kerns, vor dem sich die meisten Menschen völlig zu Unrecht so sehr fürchten. Deshalb brauchen sie eine Ideologie, eine Theologie: eine Religion. Opium fürs Volk.» – «Kehren wir zurück zu Konkretem, Herr Doktor», versuchte Sancho den philosophischen Schwung des Obersten zu bremsen. «Können Sie uns, das heisst den Leserinnen und Lesern meiner Zeitung, sagen, welche Funktion das Gesundheitswesen in Misericordia hat?» – «Wir versuchen, uns auf das Wesentliche dessen, was das Führen und Regieren eines Volkes bedeutet, zu besinnen. Wir greifen dabei, nicht ganz überraschend, auf Ideen zurück, wie sie vom grossen Philosophen Platon in seinem Werk ‹Der Staat› entwickelt wurden, in welchem bekanntlich die Philosophen die Könige sind. In diesem Sinn sind wir nicht nur Ärzte, Helfer und Heiler in Sachen Körper, sondern auch Helfer und Heiler in Sachen der Seele, Geburtshelfer des Geistes.» – «Alle Verlautbarungen Ihrer Regierung sind von einem starken Glauben an die Erlösbarkeit des Menschengeschlechts geprägt. Versteht sich Misericordia als die letzte christlich geprägte Nation des Abendlandes?» – «Uns interessiert das Christentum nicht», entgegnete Don Quichotte im weissen Kittel mit knappem Lächeln, «wie gehen streng naturwissenschaftlich vor. Nein. Wir stehen eher in der Nachfolge des Hippokrates als in der nachfolge Christi. Die Menschheit muss zu ihrem Glück gezwungen werden. Dies ist auch in Misericordia so. Lassen Sie es mich überspitzt formulieren: Wir versklaven die Menschen, um ihnen die Freiheit schmackhaft zu machen. – Ich weiss, was Sie sagen wollen», der Chefarzt hob abwehrend die Hände. «aber nicht wir versklaven die Menschen, die Menschen versklaven sich selbst.» Der Chefarzt nippte am Cognac. Dann stand er auf, streckte Sancho die Hand entgegen. Er fürchtete sich offenbar nicht vor möglicher Krankheitsübertragung. In Misericordia begrüsste sonst nie jemand jemanden per Handschlag. Der Oberchefstabsarzt schon. Die Audienz war definitiv beendet.
Sancho verliess fast auf Zehenspitzen den hohen weiten Raum, ging dann, begleitet von einem Diener in weisser Livree, durch endlos lange, blitzsaubere und nach Reinigungsmitteln duftende Gänge und treppauf treppab, das wollte kein Ende nehmen und erinnerte ihn irgendwie an leere, hellerleuchtete Strassen in der Nacht, und so wandte er sich an seinem Begleiter zu. Musterte ihn, während er ging, Fusstrittlaute in den leeren Gängen verursachend, aus den Augenwinkeln heraus. Der Diener war noch jung und hübsch und sah aus wie ein an der frischen Luft aufgewachsener Bauernbub.
Dienstag, 26. Januar 2010
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