Sancho dachte darüber nach, was es bisher an zugleich Positivem, Wissenswertem und Unterhaltsamem über Misericordia zu berichten gab. Er würde gern auch etwas erfunden haben, aber da er nur in beschränktem Mass über Fantasie verfügte, fiel ihm das allzu schwer. Nicht ohne Grund pflegte er unter Kollegen zu behaupten, dass es im Leben nichts Fantastischeres gebe als die Realität. Und nichts Komplexeres. Sancho war müde und ratlos.
«Im Staate Miserciordia ist vorbildlicherweise alles, was gefährlich ist, verboten. Also ist alles verboten in Misericordia, denn unter bestimmten Umständen kann alles gefährlich sein. Das ganze Leben ist lebensgefährlich, haha. Misericordianer sind prophylaktisch denkende Leute. Vorsicht ist die Mutter ihrer Porzellankiste. Der gute Misericordianer übt es, sich klein zu machen, damit er von den gewaltigen Kräften, die letztlich auch sein Dasein bestimmen, möglichst übersehen werde. Es ist in Misericordia strengstens verboten, mit einem anderen Menschen in näheren Kontakt zu treten, denn solcher Kontakt beinhaltet Seuchengefahr. In Misericordias pharmazeutischen Laboren werden die verletzlichen, weichen Körper chemisch gepanzert, die fleischlichen Seelen wie in einer Esse stahlhart gemacht, hart wie Kruppstahl. Misericordia ist unser aller einziges grosses Spital. Alle Menschen hier sind versichert, rundum versichert, sie haben die Notfallstation in nächster Nähe, ihnen kann nichts geschehen, denn nicht nur sonntags beten sie in ihren weissen Betten zu ihren weissen Göttern.»
Sancho seufzte tief. Dann zerriss er, was er geschrieben hatte, und legte sich in den Kleidern aufs Bett, um eine letzte Zigarette zu rauchen. Was natürlich strengstens verboten war. Aber das war Sancho jetzt egal.
Dienstag, 19. Januar 2010
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