Sancho warf einen Blick in den mannshohen Schrankspiegel. Es war nicht zu leugnen: Er war klein und dick. Nun, vielleicht nicht gerade dick, aber unzweifelhaft eher stark gebaut. Er war nicht zufrieden mit sich an diesem Morgen, das Gesicht schien ihm gedunsen, das Haar zu struppig, der Körper zu schwammig. Vielleicht war er ja krank. Auf jeden Fall gefiel ihm dieser Mann im Spiegel nicht, er konnte sich nicht vorstellen, wie jemand, wie eine Frau erotischen Gefallen an ihm finden konnte. Er fühlte sich total unsexy. Ja, früher, als er noch ein junger Mann gewesen war, oder in anderen Jahrhunderten, da hatte er sich gerne im Spiegel betrachtet. Eine halb angenehme, halb peinliche Erinnerung. Sancho duschte, rasierte sich, kämmte sich sehr sorgfältig, verwendete spärlich ein diskretes Herrenparfum, holte den massgeschneiderten Anzug aus dem Schrank, vergewisserte sich, dass die Schuhe tadellos glänzten. Dann betrachte er sich ein weiteres Mal mit mehr Befriedigung im Spiegel. Er lächelte sich aufmunternd zu.
Nach dem Frühstück ging Sancho Pansa, Journalist mit Embonpoint und gut gekleideter Porschefahrer, zu Fuss zum nahe gelegenen Haus der grossen Ärztekammer. Dort war ein emsiges Kommen und Gehen von Männern mit entschlossenen, vertrauenserweckenden Gesichtern in langen weissen Kitteln, einige mit vor der Brust baumelnden Stethoskopen, andere mit stilisiertem Chirurgenbesteck, das sie wie Broschen oder vielmehr Orden auf der Brust trugen, dazu Frauen, deren Gesichter von Verzicht und Aufopferung geadelt wurden, auch sie ganz in Weiss, doch an Brustschmuck natürlich keine stilisierten Chirurgenbestecke aufweisend, sondern so etwas wie kleine Pissnelken n diskretem Weissgold. Übrigens hatte auch Sancho sich der Landessitte anpassend wenn schon nicht in reines Weiss, so doch in ein sehr helles Beige gekleidet.
Sancho schritt die grosse breite Treppe hoch, die zu den Wandelhallen führte. Er erkundigte sich bei einem Amtsdiener nach der Zuschauertribüne. Von der Tribüne aus konnte man sehen, dass in der Tiefe des riesigen Saales ungefähr die Hälfte aller Stühle mit Angehörigen der grossen Ärztekammer besetzt war. Die meisten von ihnen blätterten on Zeitungen, etwa der seriösen «Neuen Ärzte Zeitung» oder dem grellen Boulevardblatt «Skalpell»; einige der Anwesenden schienen zu schlafen.
Es äusserte sich soeben ein Redner zum Thema der Arzneimittelexporte, einem Kernthema misericordianischer Politik. Er war offenbar ein in der Wolle gewaschener Lobbyist und erging sich in Lobeshymnen auf die pharmazeutische Industrie des Landes, der die misericordianische Volkswirtschaft ihren Wohlstand, die geringe Arbeitslosenquote, mithin den sozialen Frieden, mithin Kontinuität und Stabilität sowie blablabla blablabla. Der Antrag der Vertreterin der Oppositionellen Ärzte und Krankenschwestern OAK, auch «die Ultraweissen» genannt, auf Senkung der Exporte gewisser pharmazeutischer Produkte insbesondere so genannte Entwicklungsländer (da diese Länder sich ohnehin schon in einer dramatischen Auslandsverschuldung befänden) sei deshalb gar nicht ernst zu nehmen. Stets wachsende Direktinvestitionen wurden vom Redner wuchtig ins Feld geführt, das Argument, auch diese Investitionen dienten in Anbetracht des niedrigen Lohnniveaus der berücksichtigten Länder bloss der Bereicherung multinationaler Konzerne, mit dem Hinweis auf die zunehmende Digitalisierung der Produktion entkräftigt. Ausserdem leiste Misericordia in stets wachsendem Mass direkte Entwicklungshilfe, die schon in zehn Jahren den internationalen Durchschnitt übertreffen, ja, übertreffen werde. Der Redner überliess das Pult einer Vertreterin der «Ultraweissen». «Dass die Welt», hub diese an, «mit Medikamenten versorgt werden muss, das sehen auch wir ein. Und wir versorgen die Welt, das kann man wohl sagen, mit allen nötigen und unnötigen Pillen, Tabletten, Zäpfchen, Essenzen, Ampullen, Pülverchen und Wässerchen. Ich gebe zu, dank der pharmazeutischen Industrie ist Misericordia eins der reichsten Länder der Welt, wenigstens am Bruttoinlandprodukt gemessen. Dagegen will nicht einmal etwas sagen. Natürlich könnte man einwenden: Draussen in der Welt, von der wir leider so wenig mitbekommen, fehlt es Millionen von Menschen zuallererst an ausreichender Ernährung, an sauberem Wasser und an hygienischen Wohnverhältnissen. Aber was geht uns das an. Man könnte sich den Luxus leisten, festzustellen, dass Armut krank macht und Gesundheit zuallererst Gerechtigkeit braucht – Gerechtigkeit auch in der Versorgung mit den unentbehrlichen Arzneimitteln. Dass etwa in einem Land, dessen Bevölkerung zu einem grossen Teil an Unterernährung leidet, in den Schaufenstern der Apotheken hauptsächlich Abmagerungspillen für die wenigen übergewichtigen Reichen angeboten werden – selbstverständlich misericordianische Abmagerungspillen –, können Sie meinetwegen lustig finden. Man weiss es ja eigentlich: Überflüssige Medikamente fördern nicht die Gesundheit, sondern bloss das Geschäft. Uns kann es nur recht sein! – Werte Kolleginnen und Kollegen! Können Sie aber noch ruhig schlafen, wenn Sie wissen, dass wir auch solche Substanzen exportieren, und zwar ebenfalls in Ländet, die erwiesenermassen von brutalen, gewalttätigen, undemokratischen Diktatoren beherrscht werden, von Regierungen, die ein ganz anderes Motto als «Helfen und Heilen» in ihrem Wappen haben, Substanzen, verehrte Damen und Herren, die Nervenkrämpfe verursachen, Blutzerfall, Psychosen, alle Arten von Krebs, Substanzen also, die nach einer qualvollen Agonie zum Tod führen? Ich habe geschlossen.» Erstaunlich, dachte Sancho, dass in einem, wie soll ich sagen, so «wohlorganisierten» Land wie Misericordia in einem quasiöffentlichen Rahmen so aufmüpfige Reden geschwungen werden durften. Aber vielleicht ist ja diese «Ärztekammer» auch bloss so eine Schwatzbude wie das Parlament bei uns. Jetzt schritt der nächste Weisskittel, ein älterer, väterlich wirkender Herr mit Glatze, zum Rednerpult. «Ich bin», sagte er mit gönnerhafter Stimme, «mit grosser Anteilnahme, ja mit Spannung den Argumenten meiner charmanten Vorrednerin gefolgt. Die Geisteshaltung, aus der heraus sie gesprochen hat, verdient sogar meine Sympathie. Aber», und hier hob er oberlehrerhaft seinen Zeigfinger, «es gilt dazu, von einem streng naturwissenschaftlichen Standpunkt aus gesprochen, Folgendes zu bemerken. Jede Substanz, und gelte sie als noch so harmlos, wird für den menschlichen Organismus in einer gewissen Quantität zu einem – ja, sprechen wir es ruhig aus –, zu einem Gift. Selbst das für uns so überlebenswichtige Wasser. Gift und Heilmittel, Heilmittel und Gift, das ist nicht zu trennen. Dosis facit venenum, wie der Lateiner moniert. – Wenn nun also einige unserer Heilmittel, die wir als neutrale Geschäftsleute unseren Kunden anbieten und verkaufen – was nicht nur unser Recht ist, sondern auch unsere verdammte Pflicht –, wenn unsere so wertvollen Heilmittel also als Gifte missbraucht werden, so ist das zwar in höchstem Mass bedauerlich und verwerflich, da gebe ich meiner Vorrednerin recht, aber es ist leider nicht zu vermeiden. Meine Damen und Herren! Wir sind zwar gewiss alle zivilisierte und einer hohen Ethik verpflichtete Menschen, aber wir wollen und können und dürfen uns doch nicht zum Weltgewissen machen oder gar als Weltpolizisten auftreten!»
Einige Weisskittel applaudierten lahm. Andere raschelten weiterhin mit Papier. Wieder andere befanden sich entweder in einem Zustand tiefer Meditation oder hatten den fulminanten Auftritt des Rhetorikers selig verschlafen.
Das nächste Thema, das behandelt wurde, war ein Antrag von Seiten der Vereinigung für geistige Gesundheit und Moral, die Zuwendungen der staatlichen Gelder für die Wahrung der moralischen Gesundheit zu erhöhen. «Trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der moralischen Gesundheitspflege», meinte der erste Redner zu diesem Geschäft, ein sehr dicker Herr mit einer gewaltigen Bassstimme wie aus einem Kellergewölbe, «ist gerade hier die optimale gesundheitliche Sicherheit für Leib und Seele noch nicht vollständig gewährleistet. Auch ist auf diesem Gebiet die Gefahr von Rückfällen besonders gross. Die Moral ist ein zartes Pflänzchen, es muss gehegt werden. Wie sich gezeigt hat, kann mit der Vernachlässigung der moralischen Gesundheit durch gewisse Individuen auch eine Gefahr für die Gesundheit des Leibes verbunden sein. Das Laster ist eine Krankheit! Natürlich haben unsere Gesundheitsbehörden die Situation auch an dieser Front voll im Griff. Aber es gilt, wachsam zu sein. Deshalb ist es unabdingbar, den Vollzugsorganen der moralischen Gesundheit, unserer wackeren Gesundheitspolizei, den besonderen Kredit zu gewähren.»
Der dunkle Bass hatte im Ton ruhiger Zuversicht gesprochen. Er war mit dem Chefarzt der Gesundheitspolizei befreundet. Die Aufmerksamkeit im Raum war klein. Dieses Geschäft besass keinerlei Brisanz. Die Wichtigkeit der moralischen Gesundheit war allen klar. Man scherzte in den Reihen der Abgeordneten, las die Zeitung oder erhob sich, um sich in der Wandelhalle die Beine zu vertreten und Kamillentee zu trinken. Die eigentlichen Geschäfte wurden eh in der Wandelhalle entschieden. Sancho machte sich schon lange keine Notizen mehr. Er hatte einen mächtigen Hunger, der kaum mit ein paar Salatblättchen zu stillen war.
Donnerstag, 4. Februar 2010
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