Mittwoch, 20. Januar 2010
Die Eidechse
Tagsüber sah er im Zentrum der Stadt die Reichen auf den breiten Avenues aus ihren glänzenden Autos steigen und wieder wegfahren, weisse Männer, schwarze Männer, Inder. Von Cosmos hatte er erfahren, was diese Autos kosteten. Die Summe war so schwindelerregend, dass es warm als hätte Cosmos von der Entfernung zu einem Stern gesprochen und nicht vom Preis eines Autos. Wenn er diese Reichen betrachtete, konnte Nelio zugleich seine eigene Armut sehen. Zwischen den Reichen, die offenbar dauernd in eiligen Angelegenheiten unterwegs waren, und dem Rudel der Strassenkinder gab es einen Abgrund, den er sich täglich öffnen sah. Sie überquerten ihn, wenn sie rasch zur Stelle waren und baten, das Auto waschen oder bewachen zu dürfen, während der schwarze, weisse oder indische Mann, der mit seinem Aktenkoffer ausstieg, seine bedeutenden Aufträge erledigte. Nelio hatte Cosmos einmal gefragt, wer diese Männer seien, was sie in ihren Aktenkoffern hätten, und wieso sie immer so beschäftigt wirkten. Cosmos hatte keine Anzwort gehabt, aber zugegeben, dass es wertvoll sein könnte, es in Erfahrung zu bringen. Bei einer günstigen Gelegenheit hatte er Mendoza und Tristeza angewiesen, ein Auto aufzubrechen und den Aktenkoffer zu stehlen, der darin lag. Anschliessend hatten sie hinter der Tankstelle Schutz gesucht und den Koffer untersucht. Mandioca hatte phantasiert, er wäre voller Geld. Aber als sie die Schlösser öffneten und den Deckel aufklappten, hatten da nur die vertrockneten Reste einer Eidechse gelegen. Es war ein magischer Augenblick, den niemals hätten sie sich vorgstellt, eine tote Eidechse könnte das Geheimnis der grossen Reichtümer sein.
«Sie tragen Kästen mit toten Tieren herum, sagte Cosmos gedankenvoll. «Vielleicht sind es spezielle Eidechsen, die vor bösen Geistern schützen?»
«Es ist eine gewöhnliche Eidechse», sagte Mandioca, nachdem er sie genommen, gründlich studiert und schliesslich beschnüffelt hatte.
«Irgendwas muss es aber bedeuten», meinte Cosmos.
«Lasst uns jedenfalls deutlich machen, dass wir jetzt wissen, was in ihren Koffern los ist», sagte Nelio.
Woher ihm diese Idee gekommen war, wusste er nicht, genauso wenig wie bei vielem anderem, was in seinem Kopf vorging. Er stellte sich vor, es gäbe da einen heimlichen Raum, wo die überraschenden Gedanken auf einen günstigen Moment warteten, um in die Freiheit zu entschlüpfen.
«Wie machen wir das, ohne dass sie uns erwischen? Fragte Cosmos.
Nelio überlegte. Plötzlich wusste er es.
Wir fangen eine lebende Eidechse und stecken sie in den Koffer», sagte er. Dann legen wie ihn zurück ins Auto. Mandioca und Tristeza knacken die Autotür so, dass man nichts merkt. Der Mann bekommt etwas, worüber er grübeln kann, solange er lebt. Wir haben jetzt die Macht über ihn. Wir wissen, wie es zugegangen ist. Er weiss es nicht.»
Cosmos nickte. Dann rief er Alfredo Bomba und erteilte ihm den Auftrag, sofort eine der Eidechsen zu fangen, die an den Baumstämmen auf und ab huschten oder sich in den Ritzen der Hausfassaden versteckten. Alfredo Bomba stellte sich regungslos neben einen Baum, legte seine Hand an der Stamm und wartete, bis eine Eidechse ganz in der Nähe war. Dann ruckte er mit dem Handgelenk, und die Eidechse steckte zwischen seinem Daumen und Zeigfinger fest.
Nelio wollte wissen, wie er diese Kunst gelernt hätte.
Alfredo Bomba hatte sich über die Frage gewundert.
«Ich habe den Eidechsen abgeschaut, wie sie die Insekten fangen», sagte er.
Da es Tristeza war, der das Auto bewachte, konnten Mandioca und Tristeza ungehindert die Autotür noch einmal öffnen und den Koffer zurückstellen. Als der Besitzer des Wagens zurückkam, gab er Tristeza einen Schein über ganze 5000, weil er das Auto so gut gehütet hatte.
(aus: Henning Mankell: Der Chronist der Winde. Zsolnay, 2000)
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