Und plötzlich befindet sich Felix in einem Bild. «Der Garten der Lüste» ist ein Tryptichon. Klappt man die Seitenflügel zu, ist auf der Frontseite das Bild einer durchsichtigen Weltkugel zu sehen. Sie stellt den dritten Tag der Schöpfungsgeschichte dar: Gott hat Wasser und Erde voneinander getrennt und die ersten Pflanzen geschaffen. Die Innenansicht des Triptychons zieht den Blick auf den «Garten Eden» (linker Innenflügel), den «Garten der Lüste» (Mittelteil) und die «musikalische Hölle» (rechter Innenflügel).
Die Erschaffung Evas ist als Motiv aus der Bibel auf dem linken Innenflügel in Szene gesetzt. In Abweichung zu den Angaben im Buch Genesis wird die erste Frau, die auf Erden wandelte, durch Jesus erschaffen. Adam, Jesus und Eva sind auf dem Bild als eng miteinander verbundene Gruppe dargestellt. Die übel beleumdete Schlange, die gemeinhin als Symbol der Verführung zur Sünde herhalten muss, schlängelt sich im oberen rechten Bildrand um einen Baumstamm.
Zahllose Vögel fliegen aus einem Berg heraus, schweifen in die Ferne oder kehren aus ihr zurück. In der Mitte steht ein surrealistisch anmutender Brunnen – der von Hanruedi Giger gemalt sein könnte – in einem Teich (es ist uns sehr wohl bewusst, dass, wenn schon, Giger bei Bosch abgekupfert hat und nicht umgekehrt). Im Innern des Brunnens sitzt eine Eule. Um den Teich tummeln sich zahlreiche Tiere, von denen die meisten einen recht friedfertigen Eindruck machen. Die Abbildungen soll Bosch aus so genannten Bestiarien – reich illustrierten mittelalterlichen Tiergeschichten – abgemalt haben; exotische Tiere wie Giraffe und Elefant dürften ihm aus eigener Anschauung offenbar kaum (oder höchstens aus seinen Träumen) bekannt gewesen sein (und wir nehmen doch schwer an, dass Hieronymus ein lebhafter Träumer war). Auch fantastische Wesen wie das Einhorn und drachenähnliche Kreaturen haben Eingang in Bestiarien gefunden und wurden ebenso ernst genommen wie reale Tiere. Auf dem Innenflügel ist zudem eine Missgeburt von einem Hund mit nur zwei Beinen zu sehen. Auch das klare Wasser des Teichs spült unheimliches Getier ans Land. Das Unheil deutet sich schon im Paradies an, wie auch die Abbildung am unteren Rand zeigt: Ein Pfuhl mit trübem Wasser beherbergt hässliche Kreaturen, die halb Fisch, halb Vogel, halb Echse sind.
Wenden wir uns nun dem Mittelteil, dem Garten der Lüste, zu. Um einen kreisförmigen Teich herum, in welchem Menschen baden, zieht eine Prozession von Reitern auf Pferden und Lasttieren ihre Kreise; am linken Rand des Bildes sitzen zwischen den Menschen übergrosse Vögel (Eisvogel, Wiedehopf, Grünspecht, Rotkehlchen und Stieglitz, allesamt wahrscheinlich aus einem Bestiarium abgemalt, wie der Kunstführer vermeldet. Bestiarium, was für ein Wort!). Ohne Frage gibt es im Mittelteil auch reichlich skurrile Darstellungen, denn das Leben ist nun mal skurril; trotzdem kommt Felix nicht umhin, zu konstatieren, dass in diesem Bildteil eine unaggressive, harmonische Stimmung herrscht. Wird Sexualität hier überraschenderweise als ein von positiven Emotionen getragenes, behutsames Spiel dargestellt? Sogar die Dämonen, die im oberen Teil des Bildes neben dem Lebensbrunnen planschen, dessen Unterbau durch eine grosse Waldbeere gebildet wird, geben sich der positiven Stimmung hin. Überall sind überdimensionale Früchte, vornehmlich Erdbeeren, Kirschen, Himbeeren und Brombeeren platziert, zweifelsohne Zeichen der Lebensfülle und der Erotik. Im unteren Bildabschnitt steht eine kleine Gruppe von Frauen, deren Äusseres darauf schliessen lässt, dass es sich um Nonnen handelt. Das Haupthaar ist am Schädel vorn wegrasiert (wie es bei Nonnen üblich war, damit es nicht unter der Kopfbedeckung hervorquoll, wie wiederum der Kunstführer vermeldet), eine der Nonnen hat locker den Flaggellationsriemen um die Oberschenkel gewunden. Die Darstellung der Nonnen in der Szene muss – trotz ihrer Nacktheit – nicht als Provokation gedacht sein, sondern könnte doch auch den Wunsch ausdrücken, die Kirche in diese friedvolle, harmonische Welt einzubeziehen, eine Interpretation, die dem Vatikan wohl nicht so recht gefallen würde. Im rechten Bildhintergrund hebt ein beflügelter Mensch, eine Frucht über sich tragend, ab und steigt zum Himmel auf.
Angesichts dieser Szenen von Einklang und Friedfertigkeit wirkt der rechte Flügel des Triptychons, in den es Felix leider verschlagen hat, umso erschütternder. Der Titel dieses Teils – «musikalische Hölle» – rührt offensichtlich daher, dass in ihm Musikinstrumente, die als Folterwerkzeuge gegen wehrlose Menschen eingesetzt werden, einen unübersehbaren Schwerpunkt bilden. Musikinstrumente als Folterwerkzeuge? Darauf muss man erst einmal kommen, schliesslich gab es zu den Zeiten von Hieronymus noch keine Castingshows wie Musicstar, DSDS oder Pop Idol, und auch der so genannte volkstümliche Schlager war noch nicht erfunden.
In der Abbildung prominent vertreten sind die vier Elemente: Das Feuer verdunkelt mit seinen Schwaden jedes Licht und heizt zugleich die von den Schreien der Gequälten durchdrungene Luft auf, das Wasser ist gefroren, einige durch das Eis gebrochene Menschen ertrinken darin, auf der Erde werden verschiedene Formen von Folter praktiziert. Wir begegnen Felix im so genannten Baummenschen, der auf zwei kleine Boote platziert wurde, die im Eis festgefroren sind; sein dem Betrachter zugewandtes, nachdenkliches Gesicht ist auf einen Korpus montiert, der an ein geborstenes Ei gemahnt. Auf seiner Kopfbedeckung, einem Mühlstein, steht ein roter Dudelsack. Um diesen Dudelsack führen vier Wesen Menschen an ihren Händen herum: Der «Spottvogel», die «Hoffart», der «Bär» und eine dickliche Figur, die in eine abweisenden Hülle eingebunden ist. Bei dieser Figur könnte es sich um einen Geldsack handeln, der dann vielleicht «Habgier» symbolisiert.
In dem geborstenen Ei, dessen Eingang mit einem von einem Dudelsack geschmückten Fähnchen gekennzeichnet ist, tummeln sich verschiedene Leute. Ein nackter Dicker, der nur mit dem Oberteil eines Ordensgewandes bekleidet ist, klettert die Leiter hinauf. Er führt einen Krug mit sich, den er an einen Stock gesteckt hat, ausserdem steckt ihm ein Pfeil im Arsch. Ein nackter Mensch steht vor der Leiter. Er verdeckt seinen Schwanz verschämt mit den Händen und will die Leiter nicht hochsteigen, aber ein geflügeltes Monster lässt keinen Zweifel daran, dass es ihn hinauf zwingen wird. Oberhalb von Felix als Baummensch ist ein Messer in zwei überdimensionale Ohren eingespannt. Die Ohren sind von einem Pfeil durchbohrt. Als Dämonen verkleidete Folterknechte zerren Menschen unter die Klinge und legen sie zurecht, damit diese von der Schneide erfasst werden. Im rechten Teil des Bildes – auch hier ist ein überdimensionales Messer in Szene gesetzt – werden nackte Menschen in Ritterrüstungen gequält, von Höllenhunden zerfleischt und zu Reittieren abgerichtet: eine SM-Szene sondergleichen. Unterhalb unseres Baummenschen ist ein wehrloses Opfer in die Saiten einer Harfe eingespannt. Ein weiteres Opfer wird von einer grossen Flöte niedergedrückt, ein anderes liegt unter der Leier gefangen; auf sein Hinterteil sind Noten geschrieben, nach denen die hier Herumgruppierten unter Anleitung eines Monsters singen müssen. Neben der Szene sitzt ein vogelähnliches Wesen, es trägt einen Kessel auf dem Kopf und verschlingt Menschen. Diese werden wieder ausgeschieden und fallen in eine Sickergrube, die allerlei Ekelhaftes enthält: Abgesehen davon, dass eine Person Goldmünzen in die Grube scheisst, wird eine andere gezwungen, sich in diesen Pfuhl zu erbrechen. Das Chaos am umgestürzten Tisch im unteren Bereich des Bildes spiegelt Spielsucht und Falschspiel. In der linken Ecke versteckt wird die Enthauptung eines Menschen angedeutet. In der rechten Ecke versucht ein Mann, sich gegen ein mit der Oberbekleidung einer Nonne bedecktes Schwein zur Wehr zu setzen. Ein Schriftstück liegt ihm auf den Knien; ein Wesen, das seine Gesichtszüge hinter dem heruntergelassenen Visier eines Helmes verbirgt, reicht Tinte und Feder, er soll – ein Geständnis, eine Denunziation, einen Pakt mit dem Teufel, ein Todesurteil? – unterschreiben. Denkt man an den Irak des Jahres 2006 und an das amerikanische Foltergefängnis Abu Graib, wirken diese Szenen beklemmend aktuell.
Den zwei anderen Tafeln lässt sich nicht entnehmen, warum die Menschen in der Hölle solchen Qualen ausgesetzt sind. Es hat den Anschein, als seien Demütigung, Missbrauch und Folter darin zum Selbstzweck erhoben – ganz wie im wirklichen Leben. Zu Hieronymus Boschs Zeiten waren – wie durch alle Zeiten hindurch bis zum heutigen Tag – solche Grausamkeiten das Instrument der Wahl zur Erzwingung von Geständnissen oder wohl noch öfter von Aussagen, die man hören wollte. Damals war eben die Inquisition die «Handlungsträgerin». Und was die Inquisition den Menschen antat, war allgemein bekannt – die Methoden sprachen sich nicht nur herum, sondern wurden zum Teil öffentlich praktiziert.
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Le petit Trianon
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Für Felix, der musikalischen Hölle glücklich entronnen, ist das winterliche, vorweihnachtliche Paris schon fast wieder Heimat. Felix logiert hier im Hotel «Le petit Trianon» in Saint Germain, einem einfachen Studentenhotel. Er hat ein prachtvolles Zimmer im obersten Stock mit einem Balkon und einer nicht zu verachtenden Aussicht auf die Strasse erhalten. Er hat sogar eine eigene Dusche. So komfortabel hat er auf der ganzen Reise nicht gewohnt. Die Zugfahrt von Madrid hierher verlief ganz gut, Felix war in Gesellschaft eines jungen Mediziners aus Rhodesien, dem er schon einmal kurz in Marrakech begegnet war. Dieser erzählte ihm auf der langen Reise viel und packend von Schwarzafrika und natürlich vor allem von seiner eigenen Heimat.
Felix verbringt den ganzen Tag im Montmartre, schaut den Malern hinter Sacre Coeur zu und bummelt durch den Rummelplatz am Pigalle: Wahrsagerinnen konkurrieren mit Nackttänzerinnen, Karusselle finden sich neben Schiessbuden; Marzipan und tausend farbige lustige Lämpchen, sich durchdringende Musikfetzen. Er isst in einem marokkanischen Restaurant Gebäck und trinkt Tee. In einem etwas zweideutigen Restaurant gönnt er sich dann noch ein Bier und beobachtet die Huren. Heute, im Louvre, lässt Felix sich von den Eindrücken überrennen. Statt dass er sich auf einzelne Bilder konzentriert, will er das ganze Museum besichtigen, und sieht so gewissermassen vor lauter Wald die Bäume nicht mehr. Aber er ist eben ein gebranntes Kind, was das sich allzu intensive Einlassen auf einzelne Bilder angeht. Morgen wird er noch Versaille besuchen, dann, übermorgen, geht es nach Hause.
Donnerstag, 15. November 2007
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