Freitag, 2. November 2007

Die Mutter aller Städte





(Bildlegende: Fez; Cascades d'Ouzoud; Djeema el Fna, das Riesenchameleon, Maarakech)

Obwohl es sich bei Fez um eine offizielle Stadtgründung aus dem Jahre 800 nach Christi Geburt handelt, kam der eigentliche Wachstumsschub erst mit der Errichtung einer zweiten Residenz auf der anderen Flussseite, welcher von einem Bevölkerungszuzug aus Córdoba und Kairouan begleitet wurde. Deshalb finden sich in Fez auch keine geplanten Strukturen, die das Wachstum der Stadt im Voraus bestimmt hätten. Zwischen den beiden Haupttoren (Bab Bu Dschelud und Bab Futuh) gibt es einen verschlungenen Verbindungsstrang, an dem sich die bedeutendsten Gebäude der Stadt befinden: Moscheen, Karawansereien und Koranschulen. Weder Breite noch auffällige Gebäude kennzeichnen diesen Weg, nur starke Benutzung und sein Verlauf durch die ganze Altstadt heben ihn aus dem Gewirr der Strassen hervor. Von diesem Hauptstrang weg führen viele weitere Gassen zu den anderen Stadttoren, die wiederum die anliegenden Gebiete mit Sackgassen erschliessen. Menschliche Einrichtungen galten in der traditionellen islamischen Gesellschaft als Behelfsmittel für das Leben auf dem Weg zu Gott. Die Gliederung der Stadt organisierte sich nach der Zugehörigkeit zu der entsprechenden sozialen Gruppe. Sie bildete ein Gewebe von selbstverwalteten Territorien, die, in sich autark, unabhängig voneinander existierten. Die Besonderheit der islamischen Gesellschaft ist das Selbstverständnis der Muslime als Bürger zweier Welten – der vergänglichen diesseitigen und, als Mitglied der islamischen Glaubensgemeinschaft, der göttlichen, ewigen Welt.

Felix ist von Fez – sozusagen der Mutter aller orientalischen Städte – schwer beeindruckt. Er streift mit seinen Begleitern den ganzen Tag in ihr herum, mit und ohne Führer, und die Flut der Bilder, die dabei auf ihn einstürmen, lässt ihn fast verzagen, auf jeden Fall im Hinblick auf seine Fähigkeiten, seine Eindrücke schreibend zu verarbeiten, wie er es jeweils versucht, wenn er vor seinem Tagebuch sitzt – wie zum Beispiel jetzt, wo sich Felix, Tom und Allan auf der Dachterrasse ihrer Pension niedergelassen haben. Felix schreibt also in sein Notizbuch, während seine beiden Freunde lesen und sie alle ab und zu einen kräftigen Schluck des schweren nordafrikanischen Rotweins zu sich nehmen, den sie sich in der Neustadt als Westler problemlos besorgen konnten. Manchmal kommt eine bunt gewandete, tätowierte Frau herauf und holt irgendein Wäschestück, das an der Leine hängt. Es geht auf den Abend zu, die Sonne hat bereits einen orangefarbenen Stich. Felix lässt die Szenen des Tages noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren: Wild-wütend wogendes Leben im jüdischen Stadtteil, die Läden der bärtigen Goldschmiede, die Shops der arabischen Tuch- und Schuhhändler, Ledergeruch, immer wieder dieser Ledergeruch, der abgelöst wird durch den Geruch gebratener Fische, den Geruch von Brochettes und von Honiggebäck. Und Berge von Gewürzen. Schreiende Stimmen, heiseres Feilschen, die Musik von Oum Kalsoum… Oum Kalsoum ist eine Sängerin, deren Bedeutung für die arabische Welt gar nicht überschätzt werden kann und die in diesem Teil der Welt wichtiger ist als Maria Callas, Janis Joplin oder Aretha Franklin im westlichen Kulturkreis. Geboren 1904 in Ägypten, ist sie bereits in den frühen Zwanzigerjahren ein Star und wird bis weit ins 21. Jahrhundeer hinein (und vielleicht darüber hinaus) geliebt und populär bleiben. Oum Kalsoum (oder Umm Kulthum, wie ihr Name in unserem Alphabet manchmal auch geschrieben wird), im Februar dieses Jahres eben erst gestorben, wächst mit zwei Geschwistern in einem Dorf im Nildelta auf. Ihr als strenggläubig und fromm beschriebener Vater ist Imam einer örtlichen Moschee. Um das Familieneinkommen aufzubessern, singt er auf Familienfeiern, begleitet von einem kleinen Orchester. Oum Kalsoum offenbart sich früh als Gesangstalent, begleitet ihren Vater bereits ab ihrem zwölften Lebensjahr und tritt später auch selbstständig auf, immer als Junge bzw. als Mann verkleidet. Lange Jahre beschränkt sich diese «Karriere» auf ihre Heimatregion – trotz früher Einladungen nach Kairo, der sich ihre Familie jedoch lange aus moralischen Gründen widersetzt. Erst 1923 erlaubt die Familie ihr den Umzug. Ihr ländlicher und konservativer Gesangsstil gilt in Kairo jedoch als veraltet und überholt, und ihrer Stimme wie auch ihrer Erscheinung fehlt sozusagen der grossstädtische Schliff. Mit finanzieller Unterstützung durch ihren Vater nimmt sie Gesangsunterricht, erneuert ihr Repertoire und wird 1926 das erste Mal auf einer Schallplatte verewigt. Das ist der eigentliche Startschuss zu ihrer Karriere. 1932 führt ihre erste internationale Tournee sie unter anderem nach Damaskus, Bagdad, Beirut und Tripolis, und sie beginnt 1935 vorübergehend eine Filmkarriere. Die Vierziger- und Fünfzigerjahre gelten gemeinhin als das «Goldene Zeitalter» ihres Gesangs. In den nächsten Jahrzehnten wächst ihr Ruhm stetig und sie wird allmählich zu einem nationalen Symbol. Nach einer fast sechzigjährigen Bühnenkarriere und vielen Hunderten von Aufnahmen stirbt sie an einer Nierenkrankheit, nachdem sie bereits seit den 1930er Jahren ähnliche gesundheitliche Probleme, zum Beispiel mit Leber und Galle, hatte. Bei ihrer Beerdigung versammeln sich mehrere Millionen Trauernde in den Strassen Kairos, der Sarg mit ihrem Leichnam wird den eigentlichen Trägern abgenommen und von Menschen aus dem Volk über drei Stunden durch die dichtgedrängten Strassen Kairos getragen.

Szenen: Vor dem Königspalast mit seinem prächtigen, goldverzierten Tor verkauft ein kleiner Geschäftsmann unseren Freunden etwas Haschisch. Auf dem Platz vor der Stadtmauer findet eine Volksbelustigung statt. Von einer Menge umkreiste Märchenerzähler werden von trommelschlagenden Musikanten unterstützt. Unter einem grossen grün-weissen Schirm verstecken sich die Oberkörper dichtgedrängter Männer, etwas muss sie in Atem halten. Ein Mann hat sich in seinen braunen Burnus verkrochen und auf die Erde gelegt. Er schläft. Ein Junge, aus wohlhabender Familie wohl, dem prachtvollen Gepränge nach zu urteilen, reitet mit seinem Bruder auf einem weissen Maultier vorbei, der Knabe, wunderschön, ist etwa dreizehn Jahre alt; er hat grosse dunkle Augen und guckt etwas verschreckt, fast traurig aus seinem kostbaren Gewand. Umgeben ist das Bruderpaar auf ihrem Tier von fantastisch uniformierten Musikanten, die auf «Tamtams» den Rhythmus schlagen oder Pfeifen langatmige Töne entlocken. Sie feiern die Beschneidung des Jungen, der so melancholisch und beinahe-wissend in die Ferne schaut. Etwas später eine Prozession anderer Art: Nach dem Eintritt der Austritt durch das dunkle Tor. Ein paar würdige alte Männer tragen auf einer hölzernen Bahre den verhüllten Körper eines Toten durch die Strassen und singen dazu in schleppenden Sprechchören die immergleiche Melodie, vielleicht ist es die erste Sure des Korans, die Fatiha, wahrscheinlicher aber sind es die drei muselmanischen Schlüsselworte Allah, Mohammed, Islam. Die Einblaser raunen der Seele des Toten die Antworten ins Ohr, die der Verblichene den grimmigen Todesengeln zu geben hat, wenn er nicht tüchtig verhauen werden und seine Ruhe haben will bis zum jüngsten Gericht.

Am Abend des Nikolaustags raucht Felix mit seinen Freunden viel Haschisch, so dass er sanft berauscht ganz heiter einschläft. Gegen drei am Morgen beginnen ihn jedoch derart schlimme Bauchkrämpfe zu plagen (wohl die Folge einer tagelangen Verstopfung und des Genusses eines nicht mehr ganz taufrischen Fisches) und er hat so starke Schmerzen, dass das friedliche Einschlafen augenblicklich zu einer fernen, abstrakten Erinnerung wird. Felix, dessen Körper schweissüberströmt ist, muss die ganze Kraft seiner zwanzig Jahre dazu aufwenden, die schlimmen Krämpfe zu ertragen. Sein denkendes Hirn muss derweil vor dem leidenden Körper kapitulieren, obwohl es ja letztlich auch wieder das Hirn ist, das den Schmerz empfindet. Um zehn, elf Uhr lassen die Krämpfe in ihrer Intensität etwas nach und Felix kann endlich auf die Toilette, wo es fontänenartig aus ihm herausschiesst. Er empfindet es als wahre Erlösung – wohl ist er geschwächt, hat Kopfschmerzen und hohes Fieber, aber das macht nichts, Hauptsache, diese Schmerzen sind vorbei. Er bleibt den ganzen Tag im Bett und fühlt sich todkrank.

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Kaskaden und Perlen
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Seltsamerweise ist er am nächsten Tag aber wieder so ziemlich hergestellt und sogar reisefähig. Die Route führt nun über Meknes nach Azrou, einer kleinen, fast schweizerisch anmutenden Stadt in den Bergen. Es gibt hier Wälder, Chalets, ab uns zu sogar einen Flecken Schnee. Am nächsten Tag fahren sie durch die Berglandschaft des Mittleren Atlas zu den Cascades d’Ouzoud. Diese Wasserfälle sind mit einer Höhe von über 110 Metern die höchsten Nord-Afrikas und in eine bemerkenswerte Landschaft eingebettet. Die Cascades tragen zum wichtigsten Fluss Marokkos bei, dem Oum Errbia, der von hier über 160 km zurücklegt, bis er sich in den Atlantik ergiesst. In den Wasserfällen, die über drei Stufen in die Tiefe tosen, spiegelt sich meist ein Regenbogen. Oben, bevor der Fluss in die Tiefe stürzt, befindet sich eine Art Farm, ein «Herrschaftshaus», umgeben von kleineren Gebäuden. Ausser unseren drei Reisenden hat es keine Fremden hier; die Einheimischen sind sehr freundlich, sie bringen ihnen flache, tellerrunde Brotfladen, die noch warm sind, und plaudern mit ihnen. Dann klettern Allan, Tom und Felix mit ihrem Zelt, mit einem Pique-nique und dem Gaskocher in die Tiefe, wo Allan und Tom trotz der feuchtkalten Luft die Nacht verbringen wollen; Felix überlassen sie wieder einmal das Auto, das oben im Weiler steht. Aber vorerst essen sie im tosenden Lärm des Wasserfalls, trinken Wein und rauchen Shit, durchforschen die nähere Umgebung und werden bald von einer wilden, fast tropischen Vegetation aufgehalten. Es dämmert, der Himmel wird erst blau, dann dunkelblau, dann violett, Felix steigt zum Weiler hoch und versucht, es sich im Renault so bequem wie möglich zu machen, schlüpft in den Schlafsack und liest im Schein der Autolampe in den Upanischaden, was zwar ein bisschen langweilig ist, sich aber in seinem Tagebuch halt irgendwie gut anhört. Ab und zu schaut ein nächtlich-neugieriger Einheimischer, ein später Spaziergänger im langen Burnus, zum Fenster herein; das knirschende Geräusch nahender oder sich entfernender Schritte hat etwas leicht Beängstigendes, aber auch etwas Prickelndes und Erregendes für Felix. Sonst herrscht eine so vollkommene Ruhe, wie das nur fernab grosser Siedlungen möglich ist.

Weiter nach Marrakech, der «Perle des Südens». Von den Wasserfällen geht es wieder in die Tiefe, in die Ebene hinunter, und sofort wird es spürbar wärmer. Immerhin liegen die Cascades in einer Höhe von über 1000 Metern über Meer und es ist Dezember. Die Gegend um Marrakech ist steppenartig, schon fast wüstenhaft kahl, und trotzdem ist die Stadt nur etwa 60 Kilometer vom Hohen Atlas entfernt und man sieht bei klarem Wetter in der Ferne dessen schneebedeckte Gipfel. Sie fahren zuerst durch den modernen Teil der Statdt einen mit Orangenbäumen bestandenen Boulevard entlang – und plötzlich tut sich der Djeema el Fna als Tor zur Medina vor ihnen auf. Sie nehmen ein Hotel in der Nähe dieses Platzes, in einer Seitengasse am Anfang der Medina, es ist das «Hotel du Rif», Tom kennt es von seinem letzten Marokko-Aufenthalt her. Die Architektur dieses Hotels wirkt irgendwie andalusisch auf Felix, die Zimmer sind auf verschiedenen Etagen um einen Innenhof herum angelegt, in dessen Mitte ein Orangenbaum steht und dessen Wände mit Mosaiken verziert sind; vor den Fenstern blaue schmiedeiserne Gitter. In Marokko nennt man diese spezielle Art von Hotel «Riad». Welche Kontraste: gestern noch die absolute Ruhe des ländlichen Marokkos und heute die lärmige, pulsierende Stadt.
Marrakech wird von alten arabischen Chronisten Mraksch, «die Stadt», genannt. Früher war Marrakesch allerdings lediglich ein Karawanenlagerplatz. Abou Bekr, der Anführer der Almoraviden, erkannte diesen Platz als vorzügliches Lager für seine Truppen. Sein Vetter Youssuf baute 1062 die erste Moschee und legte die riesigen Dattelpalmenhaine an, die man heute noch im Nordosten der Stadt bewundern kann. Von Marrakesch aus eroberte Youssuf Ibn Tachfin das ganze Land. Er stiess sogar bis nach Andalusien vor. Marrakesch wurde zur Hauptstadt des Reiches; nach und nach wurde die Stadt ausgebaut. Aus der Almoravidenzeit blieb nur die neun Kilometer lange Stadtmauer erhalten.
Aus der Zeit des Fürstengeschlechts der Almohaden, das auf jenes der Almoraviden folgte, gibt es ebenfalls nur Reste, da nachfolgende Sultane die Eigenart hatten, die Paläste ihrer Vorgänger zu zerstören und aus dem so gewonnenen Material eigene zu bauen. Zu den eindrucksvollsten Almohadenbauten zählen die Stadttore und das berühmte Minarett der Koutoubia-Moschee. Die nächste Dynastie der Meriniden blieb nur kurz in der Stadt und wählte dann Fes zu ihrer Hauptstadt. Erst im 16. Jahrhundert, als die Saaditen unter Ahmed El Araj an die Macht kamen, kehrte der königliche Hof nach Marrakech zurück. Aus dieser Zeit sind noch zahlreiche Bauten erhalten. Am schönsten und kunstvollsten sind die Saadier-Gräber, deren Haupteingang der Alouitensultan Moulay Ismail zumauern liess und der erst 1917 wiederentdeckt wurde. Der riesige Königspalast Dar el Badi, den Sultan Ahmed el Mansour ed Dehbi erbauen liess, wurde von Moulay Ismail zerstört und abgetragen. Die Steine verwendete er für den Bau eines seiner Paläste in Meknes.
Während der Kolonialzeit wurde Marrakesch von dem franzosenfreundlichen Pascha El Glaoui beherrscht, der nach dem Einmarsch der Franzosen 1912 mit diesen zusammenarbeitete und sich zahlreiche Vorteile durch diese Verbindungen verschaffte. Als König Mohammed V. 1956 den Thron bestieg, war es jedoch aus mit seiner Macht.

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Der Platz der Geköpften
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Der Djeema el Fna, das Riesenchameleon. Ein organisches Wesen, das seine Gestalt alle paar Stunden ändert: Am Morgen die kleinen Stände, an denen man süsses Gebäck, Yoghurt und Sauermilch kaufen kann. Später, gegen Mittag, wird Handarbeit angeboten, des Weiteren besteht das Sortiment nun aus Lederwaren, Stoffsachen, Souvenirs und geschnitzten Kif-Pfeifchen. An dem einen Stand werden getrocknete Echsen, Kröten, Pfoten, Häute und die verschiedensten undefinierbaren Gebräue verkauft; sie sind Wundermittel gegen alles, angefangen bei der Unfruchtbarkeit der Frauen bis hin zum Zipperlein des alten Mannes. Am nächsten Stand duftet es nach Rosenwasser und Orangen- oder vielmehr Pomeranzenwasser, unentbehrliche Ingredienzien der marokkanischen Küche, und allerlei Salben und Wässerchen preisen sich an. Am späten Nachmittag wird der Platz zu einem Riesenzirkus: es schlägt die Stunde der Geschichtenerzähler, Schauspieler, Bänkelsänger, Musikanten, Schlangenbeschwörer, Akrobaten, Tänzer, Wahrsager und Sufis. Am Abend gibt es auch wieder vermehrt Lebensmittelstände auf dem Platz. Durch dieses Gewirr von Menschen tönt das Glockengeläut der Wasserverkäufer, die das Bild des Platzes prägen. Vom Djeema el Fna aus führen sternförmig die Souks von Marrakech, die grössten des Landes, in die Eingeweide der Stadt, zum Beispiel die Töpfersouks, die Textilsouks, die Souks der Kupferschmiede und der Wollfärber und der Holzschnitzer und der Eisenschmiede und der Lederverarbeiter und der Schmuck- und Teppichhändler… Und dort, wo früher Sklaven gehandelt wurden, haben sich jetzt die Gewürzhändler und Quacksalber niedergelassen.

Auf dem Djeema el Fna herrscht bis tief in die Nacht ein lebhaftes Treiben, das man von der Dachterrasse eines Cafés an der Peripherie des Djemaa el Fna aus gut beobachten kann.
Felix kauft von einer schönen, schwarzen, unverschleierten Frau etwas Kif und eine Kifpfeife, und Tom besorgt sich bei einem älteren, kleinen und schon etwas verschrumpelten Männchen einen Klumpen Haschisch. Das Männchen lädt sie ein, in sein Zimmer zu kommen, das nicht grösser als eine Zelle ist. Es gibt da ein kleines Fensterchen, aber keine Möbel, nur eine Bastmatte am Boden. Eine nackte Birne hängt von der Decke herunter. Hier gibt er ihnen eine Kostprobe seiner Ware, indem er ihnen den Rauch einer Haschischpfeife in den Mund bläst. Dazu erzählt er ihnen aus seinem Leben: Er verdiene seinen Unterhalt mit dem Verkauf von Kif, seine Familie, die in Safi wohnt, helfe ihm beim Schmuggeln grösserer Mengen aus Ketama in die Städte Marokkos. Seine Frau verstecke die Ware jeweils unter ihren Röcken, indem sie vorgebe, schwanger zu sein. Offenbar wagen es die meisten marokkanischen Polizisten nicht, einer verheirateten Frau unter die Röcke zu greifen.

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Please!
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Felix bummelt allein durch die Avenue Mohammed V., sucht den Bahnhof und will den Fahrplan konsultieren, da erscheint plötzlich ein kleiner, vielleicht elf- oder zwölfjähriger Junge an seiner Seite. Sein Oberkörper steckt in einem löchrigen roten Pullover, seine Füsse sind schmutzig und nackt. «Hallo Mister», sagt er und greift nach der Hand von Felix und kitzelt dabei seine Handinnenfläche mit dem kleinen Finger. Felix ist ein wenig konsterniert, wegen der Direktheit des Jungen und weil er sich nicht vorstellen kann, was er mit einem so jungen Knaben anfangen sollte. «Big, big», sagt dieser und deutet mit Gesten an, dass er da unten sehr wohl schon ganz schön erwachsen sei, was ja möglich ist, zum Teufel noch mal, und kitzelt ihn wieder in seiner Hand. Nein, nein, sagt Felix und ist ganz erschrockene Abwehr, weil er sich plötzlich in einer Situation befindet, von der man sonst immer nur voller Abscheu in der Zeitung liest: Europäer fickt in Entwicklungsland kleine Jungs… Da schaut dieser ihn mit einer fast schon komisch wirkenden verzweifelten Intensität an und sagt leise: «Please!» Dieses «Please» macht Felix fast krank, er fühlt sich irgendwie schuldig an dem Elend, das diesen Knaben veranlasst haben mag, einem Fremden seine «Liebesdienste» auf der Strasse anzubieten. Felix nimmt eine 10-Dirham-Note aus dem Portemonnaie und reicht sie dem Jungen hin mit einem Gefühl fast so, als hätte er damit eine Obszönität begangen. «Go, go away!» scheucht er den Jungen beinahe schon grob davon.

Felix spaziert mit Allan durch die Souks, sie beobachten das Treiben der Händler und unterhalten sich gut. Allan mag Felix und empfindet wohl auch eine gewisse Zärtlichkeit für ihn, und manchmal kneift er ihn zum Spass in die Wange. Felix weiss nicht, ob Allan auch schwul ist, jedenfalls halten ihn nicht wenige Leute dafür und immer wieder wird er von Jungen angemacht; einmal ist Allan daran, mit Felix über «homosexuality» zu diskutieren, aber da läuft ihnen Tom über den Weg, und Allan verstummt plötzlich und wechselt das Thema, was nur daran liegen kann, dass Tom ganz sicher nicht schwul ist. Obwohl schon fast sicher davon ausgegangen werden kann, dass Tom nichts gegen Schwule hat, gehen weder Felix noch Allan mit diesem Thema offen um.
Dass Felix den Einheimischen hier auffällt, verdankt er seinen langen blonden Haaren und dem nordischen Aussehen. Manchmal gelten ihm Pfiffe über die Strasse, aus einem Bus oder aus einer Pferdedroschke heraus; sie halten Felix wahrscheinlich aus der Ferne für ein Mädchen. Das ist diesem, ehrlich gesagt, etwas peinlich. Vielleicht können die Marokkaner auch Männlein und Weiblein nicht so gut unterscheiden oder wollen es nicht, oder anders gesagt; es ist ihnen egal. Gleichgeschlechtliche Neigungen können hier leicht in den intensiven Männerfreundschaften ausgelebt werden, der Begriff der Schwulität als etwas Ausserordentliches und Abnormes hingegen existiert so gut wie nicht in Marokko oder entstand erst mit dem Einzug der Touristenhorden aus dem Norden.

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