Mittwoch, 6. Mai 2009
Die Tür
Als er erwachte und sich zu erinnern versuchte, wer und wo er sich befand, dunkelte es bereits wieder. Die Vorhänge vor den hohen Fenstern waren zugezogen. Das Licht im Raum erinnerte ihn an ungute Stunden seiner Kindheit. Der Raum selbst liess ihn an Märchen denken, die er einmal gehört haben musste, an alte Schwarz-weiss-Filme und, weiss der Teufel wieso, an Marcel Proust, an Heinrich Heine und an Paris. Es kam ihm so vor, als sei er schon vor Ewigkeiten in diesen Raum gekommen und lange, viel zu lange in ihm geblieben. Das Bett, auf dem er angezogen lag, roch nach Keller, nach Matratzengruft. Ich muss etwas tun, dachte er, zugleich träge und voller Panik, ich muss mich befreien. Aber er war müde, so müde. Er versuchte, sich zu erinnern, fand aber nichts ausser dieser schweren Mattigkeit im Hirn. Im Raum befanden sich Möbel, viele Möbel, doch das Zimmer sah nicht eingerichtet, sah unbenutzt aus. Die Möbel standen herum wie in einer Abstellkammer, alte, schwere, verlassene nutzlose Stücke aus einer vergangenen Zeit. Eine Staubschicht bedeckte sie. Sessel und Stühle, die Platz wegnahmen und sonst nichts, riesige Kästen und Kommoden, die einem den Atem raubten. Dazwischen, darauf, darüber und darunter viele viele alte Bücher. Tote Bücher, Buchleichen. Er spürte dumpfe Wut in sich aufsteigen. Er hasste diese Dinge, er hasste alle Dinge. Leicht, leicht wie Luft möchte ich sein, dachte er. Leichter als Luft. Dann könnte ich fliegen.
Nutzlose und tot Gedanken. Sie gaben ihm noch nicht einmal die Kraft, sich aufzusetzen. Matratzengruft. Und das Licht schwand schon wieder hinter den Vorhängen. Eben war es noch Morgen gewesen. Und die Sinne hungerten wie eh und je. Zu sehen waren aber nur die drohenden Schatten der alten Möbel, die ihn vor Verzweiflung zum Weinen brachten. Zu hören war nichts ausser dem Rauschen des Blutes im Kopf. Beine und Arme waren gefühllos, nur Kopf und Rücken taten weh. Im Mund der bittersüsse Geschmack von alten Biscuits. Wie Grossmutter sie ihm immer aufgenötigt hatte! Er hasste alte Biscuits und er hasste Grossmütter, aber dieser Hass war völlig nutzlos, wie alles.
Da drüben, die Tür. Immer wieder landete sein Blick, nachdem er eine Weile ziellos im Raum herum gewandert war, bei der Tür. Gross war sie und einladend, ein Tor schon fast. Natürlich, sie hatte einen Nachteil: Die war geschlossen. Aber man hätte sie leicht öffnen, hindurch schreiten können. Man hätte gesehen, was hinter der Tür war. Jetzt konnte man bloss spekulieren, die Treppe, die möglicherweise in die unteren Geschosse führte, sich vorstellen. Musste sich vorstellen, wie man aus dem Haus trat, mit einer warmen Kappe auf dem Kopf, denn es ist möglicherweise noch immer oder schon wieder Winter. Trotzdem, draussen wäre es schön: Stunde der Dämmerung mit zarten Rot- und Blautönen im weiten weiten Himmel, Nebel in den Tälern zwischen den Hügeln. Die Menschen in den Strassen der Stadt hätten Dampf vor dem Mund. Und man wäre einer von ihnen, hätte etwas vor, würde sich freuen auf einen guten Film, ein gepflegtes Essen im Freundeskreis, eine Umarmung vielleicht sogar. Man könnte vergessen: die toten schweren Dinge des Raumes und der Zeit. Durch die Tür könnte man gehen ins Reich der tausend Möglichkeiten. Leichter als Luft könnte man reisen mit der Geschwindigkeit des Lichts den Bogen des rosafarbenen Himmels entlang.
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