Freitag, 15. Mai 2009
Der Flug
Es war ein äusserst banaler Gedanke, der Jack durch den Kopf ging, als er beim dritten Gin angelangt war, hoch oben über den Wolken, sagen wir: zehntausend Meter über dem Meer. Es war der Gedanke: Jetzt lass ich alles zurück. Aber ein solch banaler Gedanke kann einem schon mal durch und durch gehen, kann einem erfüllen von den Zehen- bis in die äussersten Haarspitzen. Vor noch nicht mal einer Stunde war Jack vom Flughafen Zürich-Kloten aus aufgestiegen in einen wahrlich himmlischen Himmel hinein, und jetzt lagen die schneebedeckten Gipfel der Alpen direkt unter ihm, zum Anfassen nah. In diesem Flugzeug, dachte Jack, dessen erster Flug das war, fühlt man sich schon fast tot, über dem schmalen Streifen schwebend, der das Wirkliche vom Unwirklichen trennt.
Man muss sich Jack als ein Ungeheuer denken, eine Ausgeburt, ein fünfunddreissigjähriges monströses perverses Kind. Dieses überjährige Kind hat sowohl seine maskuline, überfürsorgliche Mutter wie auch seinen weibischen, sich nach einer starken Hand sehnenden Vater beschlafen, deren umsorgtes und verhätscheltes Ein-und-Alles er gewesen war, bevor er diese seine beiden Erzeuger umgebracht, mit dem Metzgermesser zerstückelt und in Kehrichtsäcken vors Haus gestellt hatte. Dann hatte er sich des auf klassische Weise im Sparstrumpf unter der Matratze verwahrten bescheidenen Vermögens behändigt, war auf direktem Weg zum Flughafen gefahren und hatte den ersten besten Flug gebucht.
Das Flugzeug sollte in ein paar Stunden auf ein Land niedergehen, das man Marokko, und einen Kontinent, den man Afrika nannte. Das konnte aber ebensogut ein Land oder ein Kontinent auf einem andern Stern sein. Jack war bisher noch nie im Ausland gewesen, trotz seines englischen Namens.
Jack konstatierte, dass er, seit er das Flugzeug bestiegen hatte, um einiges dicker geworden war. Obwohl er sich sagte, dass diese Gewichtszunahme ganz natürlich war – war er doch daran, sich ein gewaltiges Stück Distanz einzuverleiben – , wunderte er sich doch etwas darüber. Auch darüber, wie gelassen die andern das Geschehen nahmen, wunderte er sich. Sie plauderten ganz ungezwungen, wie wenn sie noch zu Hause in ihrer Stube sitzen würden, einige dösten mit offenem Mund, Mütter ermahnten ihre zappeligen Kinder zur Geduld, es gab Passagiere, die in Zeitschriften und Zeitungen blätterten – kurz, alle gaben sich ganz normal. Währenddessen wurde er dicker und dicker. Er erinnerte sich plötzlich daran, wie gern er die Körper seiner Eltern, nachdem er sie getötet hatte, aufgegessen hätte, und wie ihn eine unbestimmte Furcht davon abgehalten hatte, so, als befürchtete er, die Eltern könnten in seinem, Jacks, Körper wieder lebendig werden. Auch jetzt wieder war diese Gier in ihm, das alles aufzufressen: die Mütter, die zappeligen Kinder, die Stewardessen, die routiniert lächelnd Getränke servierten, die Männer im Raucherabteil mit ihren Zigarren im Mund, den Kapitän und den Kopiloten in ihren schmucken Uniformen, die stoffüberspannte Flugzeugbestuhlung, das Cockpit, das Metall des Flugzeugkörpers, die Tragflügel, einfach alles. Aber auch ohne eine solche Fressorgie wurde er dicker und dicker. Und Tausende von Meter unter ihnen glitten die schneebedeckten Alpen immer weiter von ihnen weg. Das Licht der Sonne im Flugzeuginnenraum war ungeheuer intensiv. Jack fühlte sich seltsamerweise nicht schwerer, sondern immer leichter, je dicker er wurde. Er hatte gar nicht bemerkt, wie plötzlich die andern Passagiere aufmerksam auf ihn geworden waren und ihn jetzt entsetzt anstarrten. Ihre Furcht war so komisch, dass Jack trotz seiner seltsamen Lage lachen musste. Also lachte er und wurde, während er von diesem Lachen über das immer grössere Entsetzen der Mitpassagiere immer dicker wurde, immer heftiger geschüttelt und erschüttert, gleichzeitig wurden die Sekunden zerdehnt, so dass das immer heller werdende Licht sich im Flugzeuginnenraum fast körperhaft verbreitete und der Knall, der Jacks Auseinanderbersten begleitete, sehr sehr langsam zu seiner vollen Wucht erdröhnte.
Über die Ursachen des Flugzeugabsturzes wurde lange gerätselt. Terrorismus, technisches Versagen, menschliches Versagen, Materialmüdigkeit? Ein Zusammenhang zwischen dem Flugzeugabsturz und dem Verschwinden dreier Personen – normaler Bürger und anständiger Menschen wie du und ich, einem älteren Ehepaar und ihrem erwachsenen Sohn – wurde nie hergestellt.
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