Freitag, 29. Mai 2009
Sonnen und Schatten
Traurig grüsst der,
der ich hätte sein können,
den, der ich bin.
Wütend grüsst der,
der ich bin,
den, der ich hätte sein können.
Blutig die Spur der Gedanken,
Mordlust, gefiltert durchs Hirn.
Gesiebt die uralte Angst.
Gevierteilt, geköpft und gepfählt
Das Tier mit den fletschenden Zähnen
In meiner Brust.
Arme Kreatur!
Traurig grüsst der,
der ich bin,
den, der ich bin.
Wütend grüsst der,
der ich bin,
die anderen, die ich auch bin.
Das Leben in mir kann
Das Leben in mir nicht töten,
nur grüssen, traurig und wütend –
blutig die Spur der Gedanken auch sei.
Gevierteilt, geköpft und gepfählt
Die Kreatur auch scheine.
Allmächtig der lächerliche Sadismus
Des Kopfs sich auch gebärde.
Ich bin
Nicht ich.
Montag, 25. Mai 2009
Die Versteinerung
Es war sehr spät, und die Nacht war kalt. Eine Nacht in einer Stadt. Keiner besonderen Stadt; einer Stadt mit nass glänzenden Strassen. Die Fenster der Häuser schlafende, lidlose Augen. Das Geräusch der vorbeifahrenden Autos beinahe schön. Die Erinnerung ein schwaches Licht am Ende eines langen Tunnels.
So beginnt die Versteinerung, während ich die feuchte Kälte des Nebels immer weniger deutlich am Gesicht und an den Händen spüre.
Dienstag, 19. Mai 2009
Das misanthropische Wohnzimmer. Ein Krimi
Zufrieden horchte es in sich hinein. Diese himmlische Ruhe! Dieser köstliche Frieden! Diese wunderbare Menschenlosigkeit des Interieurs!
Endlich, dachte das Wohnzimmer, sind wir die uns vom Menschen aufgezwungenen Funktionen los. Das ist die Rückeroberung des reinen Seins!
Aber wir greifen vor. Ausserdem sind Sie, liebe Leserinnen und Leser, wohl kaum an allgemeinen philosophischen oder existentiellen Überlegungen eines Wohnzimmers interessiert. Oder haben Sie sich schon mal die Frage gestellt, was in Ihrer Wohnung geschieht, wenn weder Sie noch Ihre Freundin oder ihr Freund oder ihre Kinder oder Hunde oder wer oder was auch immer zu Hause sind, mithin die Wohnung ganz sich selbst überlassen ist? Haben Sie sich schon überlegt, ob Ihr Bett oder Ihr Sofa, die auch eine Chaiselongue sein mag, Sie vermisst, wenn Sie nicht in oder auf ihm liegen? Rücken im von Gott und den Menschen verlassenen Wohnzimmer die Tische und Stühle näher zusammen, herzen und küssen sich etwa gar die Polster oder flippen die Vorhänge an den Fenstern aus, weil sie nicht mehr einfach immer bloss so da hängen mögen? Lesen sich womöglich die Bücher in den Büchergestellen lautlos gegenseitig was vor, beginnen die Tassen im Schrank zu tanzen, weil sie nicht alle Tassen im Schrank haben? Und erst die Lebensmittel! Lebensmittel existieren auch nicht einfach so im Vorrats- und im Kühlschrank vor sich hin. Da ist Leben, Geheimnis, fortwährende alchimistische Verwandlung! Und was geschieht eigentlich im Innern des Fernsehers, wenn er ausgeschaltet ist?
Ich weiss, Sie wissen es nicht, es interessiert Sie aber auch nicht. Es interessiert Sie keine Bohne. Sie wollen eine Geschichte hören, Sie lechzen nach dem angekündigten Krimi, der wohl ebenfalls schon lange irgendwo in der uns umgebenden Atmosphäre irgendwie darauf gewartet hat, empfangen und umgesetzt und, verzeihen Sie mir die pompöse Ausdrucksweise, gleichsam erlöst zu werden.
Nun denn. Es handelt sich bei unserer Geschichte wie gesagt um die Geschichte eines Wohnzimmers. Ein Wohnzimmer ist wie eine Person, nur anders. Die Unterschiede sind ja fast offensichtlicher als die Gemeinsamkeiten. Ein Wohnzimmer kann nicht herumlaufen, zum Beispiel. Ein Wohnzimmer kann nicht entscheiden, was in es hinein gestellt oder gar gestopft wird. Es kann sich auch seine Bewohner nicht selbst aussuchen. Wobei wir schon fast bei den Gemeinsamkeiten wären. Denn: das können wir Menschen auch nicht in jedem Fall. Denken Sie nur an die Bakterien oder Viren. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen einem Wohnzimmer und Ihnen, also uns, besteht darin, dass auch Wohnzimmer Gefühle haben. Jedem sensiblen Menschen ist das klar. Jeder von Ihnen, der nur ein bisschen Einfühlungsvermögen besitzt, wird sofort einsehen, dass ein Wohnzimmer ebenfalls Vorlieben und deshalb auch Abneigungen hat. Das mag Sie zwar nicht interessieren – obwohl es Sie mit Blick auf die nun bald folgende Geschichte schon interessieren sollte –, es leuchtet Ihnen aber unmittelbar ein. Manche Wohnzimmer können gewisse Besucherinnen und Besucher, die in es eindringen, es gewissermassen penetrieren, und erst recht gewisse Bewohnerinnen oder Bewohner, die sich in ihm einnisten, nicht ausstehen. Ich möchte wetten, dass Sie sich das noch nie überlegt haben. Und da ich fast sicher bin, dass auch Sie über so etwas wie ein Wohnzimmer oder zumindest eine wohnzimmerähnliche Räumlichkeit verfügen, sind Sie mir sicher dankbar, dass ich Sie mit diesem nicht nur originellen, sondern vielleicht eines Tages auch nutzbringenden Gedanken bekannt gemacht habe.
Nun gut! Am 1. Juli 2007 ziehen die neuen Mieter also ein. Ein heisser Tag, dieser 1. Juli, nebenbei erwähnt, zwar nicht zu heiss, um ehrlich zu sein, aber trotzdem eine Katastrophe.
Sie müssen sich das einmal vorstellen: Da lebt ein Wohnzimmer seit über zwanzig mit einer Bewohnerin zusammen, mit der es sich einigermassen verträgt. Zwanzig Jahre sind auch für ein Wohnzimmer eine Zeit, die lange genug ist, um sich an etwas zu gewöhnen. Deshalb leidet das Wohnzimmer an diesem 1. Juli denn auch an so etwas wie Trennungsschmerz. Sie können sich sicher vorstellen, dass für ein Wohnzimmer die Trauerarbeit eine noch viel schwerere Aufgabe ist als für uns Menschen. Wohnzimmer können nicht weinen. Aber das nur nebenbei.
Sie müssen es sich vorstellen. Da lebt man mit jemandem zusammen (es handelt sich dabei, wie gesagt, um die bisherige Bewohnerin, eine alte Frau und leider vor kurzem verstorben) – man lebt also mit jemandem zusammen, der fast gar nicht stört. Es ist ein wenig wie mit Ihnen und Ihrem Blinddarm, falls Sie den noch haben – bis er entzündet ist. Die Frau, um nun ihren Darm wieder zu verlassen und zur Geschichte zurückzukommen, ist ein sanftes, schon etwas von wohltätiger Senilität eingetrübtes Gemüt. Sie sitzt auf der altmodischen Couch und streichelt ihre Katze. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Wohnzimmer und kommen sogar mit der Katze, die Sie bewohnt, gut aus. Schon fast paradiesisch! Diese ebenfalls bejahrte Katze ist nicht mehr allzu wild und von tadelloser Strubenreinheit. Sie zerkratzt auch keine Wände. Zweimal pro Tag kommt der Mahlzeitendienst. Studenten, junge Männer, bringen Ihrer alten Frau das Essen in glänzenden Aluminiumbehältern. Was immer diese auch enthalten – es ist genau das Richtige, um der alten Frau kleine Entzückensschreie zu entlocken, und sie kann sich nicht genug an der Galanterie ihrer Wohltäter erfreuen. «Nein, diese Überraschung!÷ ruft sie immer wieder aus. Sie schäkert kokett mit den jungen Burschen, und als einer ihr gar die Hand küsst, wird sie beinahe ein bisschen übermütig. Manchmal hört die alte Frau auf einem altmodischen Grammophon Schallplatten: alte Schlager. Die Frau singt mit brüchiger Stimme mit. Sie glaubt, man schreibe immer noch das Jahr 1925. Sie ist überzeugt, ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen zu sein – ein verdammt scharfes, attraktives Mädchen, das dauernd den entzückendsten Herrenbesuch bekommt. 1925 waren Sie und das Wohnzimmer aber wahrscheinlich noch gar nicht auf der Welt. Der Geburtstag des Wohnzimmers ist der 12. Mai 1939, kurz vor dem Krieg.
Stellen Sie sich vor, wie sich die Frau jeden Abend vor dem Schlafengehen einen kleinen Sherry genehmigt, den sie stilvoll aus einem Kristallglas nippt, und wie sie sich frivol vorkommt dabei.
Mit der Sauberkeit hält es die Frau wie mit der Gegenwart: sie kümmert sich nicht darum, und Ihnen als Wohnzimmer ist das mehr als recht. Sie bleiben dadurch weitgehend von Staubsaugerlärm und giftigen Chemikalien verschont. Alle paar Tage allerdings kommt die resolute Tochter der Frau, um aufzuräumen, auszulüften und ein wenig sauberzumachen. Da sie ihre närrische Mutter aber offensichtlich nicht lange erträgt, sind diese Besuche zwar unangenehm, aber zu ertragen. Erst viel später entwickeln Sie, das Wohnzimmer, dem man damit einen gewissen kriminalistischen Spürsinn nicht absprechen kann, die Theorie, dass diese unmögliche Tochter ihre an sich robuste Mutter womöglich vergiftet hat. Sie haben nämlich beobachtet – Wohnzimmer schlafen nicht –, wie sich die Tochter, die von der Sherry-Liebhaberei ihrer Mutter wusste und sie natürlich nicht billigte, mehrmals unauffällig an der Sherryflasche herumhantierte und dem Sherry etwas hinzufügte.
Und jetzt, heute, an diesem 1. Juli, diesem Leidenstag, will diese schreckliche und vielleicht sogar verbrecherische Tochter mit ihrem Mann und ihrer Brut also in das Wohnzimmer einbrechen, über das Wohnzimmer hereinbrechen wie eine biblische Plage! Sie hat nämlich nicht nur das Wohnzimmer und die Wohnung, sondern das ganze Haus geerbt. Was diesem Tag voranging, war schon schlimm genug. Nicht nur, dass all die alten, gewohnten Kameraden wie das weinrote Sofa, die Standuhr und das deckchengeschmückte Buffet entfernt wurden. Es wurden auch die Tapeten brutal und rücksichtslos heruntergerissen und ein grauenhaft stinkender Spannteppich verlegt, sodass das Wohnzimmer kaum mehr atmen kann. Wie verrückt wurde gebohrt, herausgeschlagen und hineingemauert und gehämmert und gemalt. Das Wohnzimmer stöhnte und ächzte innerlich, sehr innerlich ob dieser Tortur. Am liebsten hätte es sterben wollen. Aber Sie müssen sich vorstellen, dass Ihnen als Wohnzimmer auch die Gnade des Freitodes verwehrt ist.
Und nun dieses grässliche Mobiliar, mit dem es angefüllt wird. Geschmacklos, stillos, kalt. Fliessbandmöbel von Möbel Pfister oder Ikea ohne Charakter, ohne Persönlichkeit und ohne Geschichte! Mit denen kann ich unmöglich verkehren, denkt das Wohnzimmer. Alles, was diese Möbel können, besteht darin, die miefige Spiessbürgerlichkeit, die unerträgliche Mittelmässigkeit ihrer Bewohner zu repräsentieren! Es ist zum heulen, oder eben: es wäre zum heulen, denn Wohnzimmer weinen ja nicht.
Aber alle Möbel sind eher zu ertragen als schreckliche Menschen. Die Familie besteht nicht nur aus der unmöglichen Frau, der Tochter der Verstorbenen, sondern auch noch aus einem womöglich noch unmöglicheren Mann und mit Sicherheit noch viel unmöglicheren zwei Söhnen im Alter von sieben und neun. Da könnte man, überlegt sich das Wohnzimmer, wirklich zum Misanthropen werden. Wenn man nicht schon einer wäre.
Die Frau erweist sich jetzt, wo sie nicht mehr nur Besucherin, sondern Bewohnerin oder vielmehr Besetzerin oder Usurpatorin im Gelände des Wohnzimmers ist, als definitive Putzteufelin. Nie hat man seine Ruhe. Dauernd ist sie am Wischen und Waschen, Fegen und Saugen, Putzen und Pützeln. Natürlich spart sie nicht an Chemie. Die Luft wird mit Tannnadeldeo und ihrem ewigen Schimpfen und Klagen geschwängert. Man könnte meinen, es handle sich bei dieser Ordnungs- und Sauberkeitssache um eine Staatsaffäre erster Güte. Unerträglich. Wie Atlas trägt sie das Chaos der ganzen Welt auf ihren Schultern. Ununterbrochen schreit sie hinter den beiden Rotzbengeln her, die natürlich ebenso ununterbrochen Schmutz und Unordnung verbreiten. Wenn nicht geputzt wird, dann wird aufgeräumt und umgestellt. Das geht schliesslich auch den Möbeln, die ja nicht von der allerfeinsten Sorte sind, derart auf die Nerven, dass sich mit der Zeit so etwas wie eine solidarische Abneigung zwischen ihnen und dem Wohnzimmer gegen die lästigen Bewohner entwickelt, wovon diese aber nicht die geringste Kenntnis nehmen. Sie sind mit sich selbst beschäftigt. Wenn abends Vater von seinem anstrengenden Bürotag nach Hause kommt, gibt es wegen irgendwelcher Kleinigkeiten Streit. Mutter wird angegiftet, weil das Bier zu warm und das Essen nicht warm genug ist. Vater wird zurechtgewiesen, weil er nach Zigarettenrauch stinkt. Die quengelige Jungmannschaft, die sich den ganzen Tag über von Trickfilmen und Kinderschokolade ernährt hat, ist nicht an den Abendbrottisch zu locken. Die ganze heile Familiengeschichte endet schliesslich einmütig vor dem Fernsehapparat, wo sie dann alle vier hocken und in die Kiste glotzen. Abend für Abend muss der Fernseher diese glotzenden Blicke mehrere Stunden lang ertragen. Man kann sich vorstellen, welche Hassgefühle das missbrauchte Gerät dabei entwickelt.
Als wieder einmal endlich Ruhe herrscht, was jeweils so gegen Mitternacht der Fall ist (an den Wochenenden jeweils später), kommt man im Wohnzimmer während einer historischen Stunde in stummer Einhelligkeit überein, dass etwas zu geschehen habe, und zwar bald. Immerhin lässt man sich Zeit für den perfekten Plan. Etwa ein halbes Jahr nach dem Einzug der netten Familie schlägt die Zwangsgemeinschaft «Wohnzimmer und Inventar» zu.
Start für die Umsetzung des Plans ist der frühe Nachmittag. Die Frau des Hauses muss gerade noch rasch ein paar neue Putzmittel einkaufen, und die Jungmannschaft sitzt wie immer vor der Fernsehkiste und schaut «Unsere kleine Farm». Der Fernseher beginnt, ganz heiss vor Aufregung zu werden, als er realisiert, dass nun die Stunde Null oder der Punkt X gekommen ist. Während der Werbepause, als der Kinderschokoladespot anlief, schlug er zu. Die Kids liebten Milchschnitten. Er macht seine Mattscheibe ganz gross und lässt die Kinderschokoladenlandschaft mit den fröhlichen Kinderschokoladenkindern in den allerschönsten Farben erstrahlen, und die Kinderschokoladenkinder jubeln und locken und werfen ihre farbigen Baseballmützen in die Luft. Dazu erklingt eine fröhliche, ja ausgelassene Musik, und bunte Luftballons steigen in den Himmel. Welches Kind hätte da widerstehen können! Wie von unsichtbaren magnetischen Fäden gezogen, nähern sich die beiden Knaben dem farbenfrohen Trickfilmparadies, der Fernseher macht sein Maul noch etwas weiter auf – und schon sind sie weg, die Kleinen.
Diese wahrhaft übermenschliche Anstrengung kostet den Fernseher zwar eine Bildröhre, aber der erste Teil des Plans ist nun verwirklicht. Alles hat bestens geklappt. Das Wohnzimmer und seine anorganischen Bewohner jubeln auf ihre Art, die Menschenart nicht ist: lautlos und innig, unbemerkt von der Frau des Hauses, als diese von ihrer Einkaufstour am Ort des Geschehens auftaucht. Sie ist ein wenig verwundert, dass die beiden Buben nicht mehr vor dem Fernseher sitzen, denn so etwas hat sie noch nie erlebt. Probeweise stellt sie ihn an, und als zwar der Ton, aber kein Bild erscheint, hat sie zwar eine Erklärung für das Unerklärliche gefunden, aber auch einen zusätzlichen Grund, sich aufzuregen. Diese Saukerle haben den Fernseher kaputt gemacht! Das gibt wieder Krach mit Vati. Und da der Fernseher kaputt ist, müssen die Jungen in ihrem Zimmer sein, um Computerspiele zu spielen oder Kassetten von DJ Bobo zu hören oder sich zu streiten. Aber sie sind auch nicht in ihrem Zimmer, und nun ist sie ernsthaft beunruhigt. Was wird Vati sagen, wenn nicht nur der Fernseher kaputt, sondern auch noch die Kinder verschwunden sind! Und immer, wenn sie beunruhigt ist, muss sie etwas tun. Genauer: Sie muss putzen. Meister Proper ist nicht das erste Mal ihre letzte Rettung.
Nun hat die Stunde des Wohnzimmers geschlagen. Aus jeder Ecke flüstert, haucht, seufzt es mit gewissermassen unkörperlicher, immaterieller, aber deshalb nicht weniger vernehmbarer Stimme: «Wir siiiiind schmutzig! Putze uns! Wir sind in Unordnung! Mach uns heil!» Die Vorhänge rascheln: «Wir sind gelb, wir sind grau!» Die Bilder jammern: «Hängt uns gerade!» Die Möbel stöhnen: «Wir brauchen Politur!» Das Parkett ächzt: «Ich bin zerkratzt!» Die Gegenstände im Buffet – Geschirr, Bücher, CDs, Videobänder, Nippes – heischen vielstimmig: «Räum uns auf!» Ein schrecklicher Lärm ist im Kopf der Frau. Sie rotiert, dreht sich um die Achse, weiss nicht wo anfangen, wo wehren. Ein Schwindel ist in ihrem Kopf, und Panik will Besitz von ihr ergreifen. Nie, nie, nie wird alles in Ordnung sein! Das dunkle böse Chaos war unausrottbar, lauerte immerzu unter der Oberfläche. Diese schreckliche Ahnung durchzuckte sie wie ein Blitz.
Doch siehe da, es erschien geichsam aus dem Nichts eine rettende Kraft. Meister Proper persönlich nimmt ihre Angelegenheiten in die Hand. Er ist wie von einem inneren Licht erleuchtet. Sie sinkt auf die Knie, und er lächelt gütig auf sie herab. «Hilf mir!», haucht sie. «Gib mir die Hand, ich führe dich!» sagt er mit dunkler, wohlklingender Stimme. Als sie seine nach ihr ausgestreckte, gelb phosphoreszierende Hand ergreift, empfindet sie eher ein Wärme- als ein Tastgefühl. «Es wird alles gut!» flüstert er ihr ins Ohr, während sie zu tanzen anfangen. Ihr wird leicht zumute. Wie lange schon hat sie nicht mehr getanzt! Die sphärische Musik liegt wie ein Hauch, wie ein wohliger Geruch in der Luft. Und während sie tanzen und tanzen, wird auch die Frau immer durchscheinender, immer unirdischer, immer blasser. Schliesslich ist da nur noch eine grünliche, gelbliche Ahnung des tanzenden Paares im Raum, ein leiser Hauch von perfekter Sauberkeit, bis sich die Erscheinung schliesslich ganz aufgelöst hat.
Ehrfürchtige Stille, einem Atemanhalten gleich, liegt im Raum. Dann löst sich die Spannung in ungeheuren, allerdings für menschliche Ohren unhörbaren «Ahs» und «Ohs». Die Bewunderung im Wohnzimmer ist schier grenzenlos, der stumme Applaus über die kreative Kraftentfaltung des Wohnzimmers gleichzeitig lautlos und tosend. Das Werk ist nun beinahe vollbracht.
Als der Mann nach Hause kommt, wundert er sich über die Ruhe in der Wohnung. Er weiss nicht, ob er sich freuen oder ärgern soll. Genussvoll pfafft er eine Zigarette nach der anderen und lässt die Asche provokativ auf den Teppich fallen. Dann genehmigt er sich einen Schnaps, wenn sich die Gelegenheit schon einmal gibt. Natürlich macht er sich Gedanken über den Verbleib seiner Gattin und der Kinder. Es ist nicht das erste Mal, dass sie nach einem heftigen Streit unangekündigt eine Reisetasche packte und mit den Kindern zu ihrer Schwester nach Stuttgart fuhr. Aber dieses Mal hat es am Vorabend keinen besonders heftigen Streit gegeben. Will sie ihn wirklich verlassen? Das würde aber seinen Stolz verletzten. Um sich abzulenken, macht er den Fernseher an und flucht, als kein Bild erscheint. Er trinkt noch ein paar Gläser mehr und wird immer wütender. Ihn mit einem kaputten Fernseher sitzen zu lassen! Das ist die Höhe. Nicht mal einen Brief, eine Nachricht hat sie ihm hinterlassen. Der Mann, so ganz auf sich selbst geworfen, wird immer wütender und immer betrunkener. Denen werde ich es zeigen! brüllt er. Die bring ich um! Zu spät, zu spät, echot es von den Wänden. Der Mann trinkt den Schnaps nun aus der Flasche und beginnt, nur um etwas zu tun, Geschirr auf den Parkettboden zu werfen, das unter stummen Entsetzensschreien auf dem gewachsten Parkettboden in tausend Stücke zerschellt. Da sieht der Mann im Spiegel über dem Buffet einen Mann. Das ist er selbst, ohne Zweifel. Das ist er selbst, und das ist er auch wieder nicht. Er schaut sich diesen Kerl mit den rot unterlaufenen, schon reichlich besoffenen Augen an. «Du bist ein verdammtes Arschloch», sagt die Figur im Spiegel, «du bist ein Versager! Schau dich doch an. Ein jämmerlicher Waschlappen bist du. Dein Leben besteht nur noch aus Gewohnheiten. War es das, wovon du in deiner Jugend geträumt hast? Seit fünfundzwanzig Jahren gehst du, abgesehen von den Ferien, Tag für Tag ins Büro, buckelst vor dem Chef, erledigst einen Job, der dich ankotzt, und wozu? Um nach der Pensionierung in den Sarg zu hüpfen, in die Grube zu fahren? Deine Ehe ist nicht mehr als geteiltes Unglück, du liebst deine Frau nicht und deine Frau liebt dich nicht. Das ist auch kein Wunder. Wie sollte man ein Ekel wie dich lieben? Du hast keinen Charme, keinen Witz, nur mässige Intelligenz, siehst nicht gut aus, im Gegenteil, du bist der allerhässlichste Mann auf Gottes Erdboden, und dein Charakter ist alles andere als über jeden Zweifel erhaben. Bist du wenigstens gutmütig? Nein, du bist hinterhältig, missgünstig, kleinlich und gemein. Deine Söhne werden dich, wenn sie nur ein wenig älter sein sind, verachten. Nein, sie werden auf dich scheissen. Und sie haben Recht. Du bist ein Kerl, den man verachten, auf den man scheissen muss. Du bist einer, den man prügeln, schlagen und hauen muss!» Der Mann hört seinem Spiegelbild entgeistert zu, unfähig, sich zu regen, etwas zu sagen oder zu tun. Und als der besoffene Kerl im Spiegelbild seine Faust hebt und zuschlägt, lässt er es wehrlos geschehen. Die Wucht des Schlags wirft ihn um, und unglücklicherweise fällt er so, dass er mit dem Hinterkopf auf der spitzten Kante des Glastisches aufschlägt. Er ist sofort tot.
Das war Arbeit. Das Wohnzimmer und seine Genossen atmen schier hörbar auf. Immerhin, es ist geschafft. Sie dürfen stolz sein – und sie sind stolz. Nun wird endlich wieder Ruhe einkehren.
Als später der Kommissar im Trenchcode im Wohnzimmer steht und sich die Vorgänge zu erklären versucht, ahnt er schon, dass dieses Verbrechen bei den Akten der ungeklärten Fälle landen wird. Er hat das einfach im Urin. Er fühlt sich ausgesprochen unwohl, unwillkommen in dem Wohnzimmer. Er kann es sich nicht erklären – aber die Atmosphäre im Raum strahlt deutlich Feindseligkeit aus. Was mag in diesen vier Wänden bloss vorgefallen sein? Der Kommissar weiss es nicht. Wir aber wissen es. Ich weiss es, und Sie wissen es jetzt auch und, falls der Komissar zufällig diese Zeilen lesen sollte, dann ist er nun ebenfalls aufgeklärt. Und wenn Sie heute Abend nach Hause kommen, dann denken Sie vielleicht daran, dass Sie gut beraten sind, mit ihrem Wohnzimmer auf freundschaftlicher Basis zu verkehren.
P.S. Dem Wohnzimmer und den Möbeln hat der Kraftakt letztlich wenig gebracht. Die Ruhe war von kurzer Dauer. Die nächsten Mieter waren zwar nicht gar so grässlich, aber auch nicht so leicht umzubringen.
P.P.S. Bis jetzt werden wir noch nicht gesponsort. Sollte aber jemand (eine Firma, meinen wir) Interesse an einem Product Placement haben – bitte kontaktieren Sie uns.
Freitag, 15. Mai 2009
Der Flug
Es war ein äusserst banaler Gedanke, der Jack durch den Kopf ging, als er beim dritten Gin angelangt war, hoch oben über den Wolken, sagen wir: zehntausend Meter über dem Meer. Es war der Gedanke: Jetzt lass ich alles zurück. Aber ein solch banaler Gedanke kann einem schon mal durch und durch gehen, kann einem erfüllen von den Zehen- bis in die äussersten Haarspitzen. Vor noch nicht mal einer Stunde war Jack vom Flughafen Zürich-Kloten aus aufgestiegen in einen wahrlich himmlischen Himmel hinein, und jetzt lagen die schneebedeckten Gipfel der Alpen direkt unter ihm, zum Anfassen nah. In diesem Flugzeug, dachte Jack, dessen erster Flug das war, fühlt man sich schon fast tot, über dem schmalen Streifen schwebend, der das Wirkliche vom Unwirklichen trennt.
Man muss sich Jack als ein Ungeheuer denken, eine Ausgeburt, ein fünfunddreissigjähriges monströses perverses Kind. Dieses überjährige Kind hat sowohl seine maskuline, überfürsorgliche Mutter wie auch seinen weibischen, sich nach einer starken Hand sehnenden Vater beschlafen, deren umsorgtes und verhätscheltes Ein-und-Alles er gewesen war, bevor er diese seine beiden Erzeuger umgebracht, mit dem Metzgermesser zerstückelt und in Kehrichtsäcken vors Haus gestellt hatte. Dann hatte er sich des auf klassische Weise im Sparstrumpf unter der Matratze verwahrten bescheidenen Vermögens behändigt, war auf direktem Weg zum Flughafen gefahren und hatte den ersten besten Flug gebucht.
Das Flugzeug sollte in ein paar Stunden auf ein Land niedergehen, das man Marokko, und einen Kontinent, den man Afrika nannte. Das konnte aber ebensogut ein Land oder ein Kontinent auf einem andern Stern sein. Jack war bisher noch nie im Ausland gewesen, trotz seines englischen Namens.
Jack konstatierte, dass er, seit er das Flugzeug bestiegen hatte, um einiges dicker geworden war. Obwohl er sich sagte, dass diese Gewichtszunahme ganz natürlich war – war er doch daran, sich ein gewaltiges Stück Distanz einzuverleiben – , wunderte er sich doch etwas darüber. Auch darüber, wie gelassen die andern das Geschehen nahmen, wunderte er sich. Sie plauderten ganz ungezwungen, wie wenn sie noch zu Hause in ihrer Stube sitzen würden, einige dösten mit offenem Mund, Mütter ermahnten ihre zappeligen Kinder zur Geduld, es gab Passagiere, die in Zeitschriften und Zeitungen blätterten – kurz, alle gaben sich ganz normal. Währenddessen wurde er dicker und dicker. Er erinnerte sich plötzlich daran, wie gern er die Körper seiner Eltern, nachdem er sie getötet hatte, aufgegessen hätte, und wie ihn eine unbestimmte Furcht davon abgehalten hatte, so, als befürchtete er, die Eltern könnten in seinem, Jacks, Körper wieder lebendig werden. Auch jetzt wieder war diese Gier in ihm, das alles aufzufressen: die Mütter, die zappeligen Kinder, die Stewardessen, die routiniert lächelnd Getränke servierten, die Männer im Raucherabteil mit ihren Zigarren im Mund, den Kapitän und den Kopiloten in ihren schmucken Uniformen, die stoffüberspannte Flugzeugbestuhlung, das Cockpit, das Metall des Flugzeugkörpers, die Tragflügel, einfach alles. Aber auch ohne eine solche Fressorgie wurde er dicker und dicker. Und Tausende von Meter unter ihnen glitten die schneebedeckten Alpen immer weiter von ihnen weg. Das Licht der Sonne im Flugzeuginnenraum war ungeheuer intensiv. Jack fühlte sich seltsamerweise nicht schwerer, sondern immer leichter, je dicker er wurde. Er hatte gar nicht bemerkt, wie plötzlich die andern Passagiere aufmerksam auf ihn geworden waren und ihn jetzt entsetzt anstarrten. Ihre Furcht war so komisch, dass Jack trotz seiner seltsamen Lage lachen musste. Also lachte er und wurde, während er von diesem Lachen über das immer grössere Entsetzen der Mitpassagiere immer dicker wurde, immer heftiger geschüttelt und erschüttert, gleichzeitig wurden die Sekunden zerdehnt, so dass das immer heller werdende Licht sich im Flugzeuginnenraum fast körperhaft verbreitete und der Knall, der Jacks Auseinanderbersten begleitete, sehr sehr langsam zu seiner vollen Wucht erdröhnte.
Über die Ursachen des Flugzeugabsturzes wurde lange gerätselt. Terrorismus, technisches Versagen, menschliches Versagen, Materialmüdigkeit? Ein Zusammenhang zwischen dem Flugzeugabsturz und dem Verschwinden dreier Personen – normaler Bürger und anständiger Menschen wie du und ich, einem älteren Ehepaar und ihrem erwachsenen Sohn – wurde nie hergestellt.
Mittwoch, 13. Mai 2009
Der Tod eines Seebärs
Es war Samstagabend, der alte Seebär sass allein an seinem Tisch und schaute mit seinen wässrigen Augen in das Glas Rum, das vor ihm stand. Er runzelte sein ohnehin schon runzliges Ges icht noch mehr. Da war es ihm doch plötzlich, als würde er den Geruch des Rums zum ersten Mal riechen, wie ein unschuldiges Kind. Der Rum roch süss und scharf zugleich, der Rum roch stark! Er nahm einen Schluck, und obwohl es weiss Gott nicht der erste war an diesem Abend, musste er sich doch wundern. Der Schluck war erst leicht brennend in seinem Mund, dann rutschte er die Kehle runter und plumpste in den Bauch, wo er nun angenehm wärmend lag. Ha!, dachte der alte Seebär, was ist denn das? Das tut gut! Ich fühle mich so wohlgelaunt! Und das Holz der roh gezimmerten Tische leuchtet so warm im Licht der Lampen! Und das rauhe Lachen aus der Kehle der Wirtin klingt so angenehm! Bin ich denn etwa schon im Paradies?
Worauf sich plötzlich rings Geschrei und Aufregung bemerkbar machte. Denn es war erst das Haupt des Seebärs auf die Tischplatte geknallt, dann sein Körper in sich zusammengesunken und unter den Tisch gekippt.
Was nun nicht heissen will, dass der alte Seebär sinnlos betrunken war. Er war nie sinnlos betrunken. Als man sich um ihn kümmern wollte, blieb nicht mehr viel zu tun. So wie ein Ding lag der Körper einfach da, das Leben aber ging, wie man sagt, unbeirrt weiter.
Montag, 11. Mai 2009
Gelber Schimmel
Gelber Schimmel? Unsinn – Schimmel sind weiss, das weiss doch jedes Kind. Gelb sind Schimmel höchstens dann, wenn das Weisse der Pferdekörper ins Schmutzige verrutscht ist. Aber dieses Gelb ist kein schmutziges Weiss, sondern hat die leuchtende Farbe von Zitronen. Kommt dazu, dass sich das Pferdchen, von dem wir hier reden, verdoppelt und in die äusseren Augenwinkel eines vielleicht vierzigjährigen Mannes gestohlen hat, der soeben niedergeschlagen eine Party verlässt, die ein wenig enttäuschend für ihn verlaufen ist. Die Frauen haben auf seinen sonst so unwiderstehlichen Charme spröde reagiert. Der Champagner hat ihn auch nicht zu beflügeln vermocht. Jetzt wird er sich eben zu Hause einen schönen starken Drink mixen und den Spätfilm im Fernsehen geniessen. Er lässt sich in das weiche Polster seines Wagens fallen, wirft wie immer einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel im Wageninnern. Und da fällt ihm das zitronengelb phosphoreszierende Etwas in seinen Augenwinkeln zum ersten Mal auf. Er erschrickt. Die Erscheinung ist so unerwartet. Er berührt mit seinen Zeigefingern sanft die gelben Stellen. Die fühlen sich ein wenig an wie Samt. Er beschliesst, die Abklärung dieses Phänomens zu verschieben, bis er zu Hause vor dem Badezimmerspiegel steht. Ist ja lächerlich, denkt er, dass ich mich wegen so was beuruhige. Eine optisch-haptische Täuschung, denkt er. Hab wohl doch zu viel getrunken.
Zu Hause angekommen, trödelt er absichtlich, zieht sich aus und an, hüllt sich in den Morgenmantel, macht den Fernseher an. Dann schlendert er wie absichtslos zum Badezimmerspiegel. Etwa münzengrosse zitronengelbe Flecken zeigen sich da, wo sich höchstens, allerhöchstens ein paar Lachfältchen zeigen dürften.
Scheinen sogar noch etwas grösser geworden zu sein. Na ja, vielleicht auch nicht. Sieht auch nicht besonders schlimm aus. Wie aufgeklebt. Wieder befühlt er die pelzigen Stellen. Noch nie hat er von einer Krankheit gehört, die sich in solchen Symptomen äussert. Das ist beruhigend. Überhaupt, er fühlt sich gut. Er fühlt sich blendend. Er fühlt sich ganz und gar gesund. Er versucht, die gelb leuchtenden Stellen neben seinen Augen weg zu reiben, aber ohne Erfolg. Im Gegenteil, jetzt wächst das gelbe Pelzchen auch auf seinen Fingerkuppen. Er flucht leise in sich hinein, befeuchtet im Wohnzimmet einen Lappen mit Whiskey, reibt damit seine Augenwinkel, die Fingerkuppen, aber alles wird nur schlimmer dadurch, die Schimmelstellen scheinen den Whiskey zu lieben und werden grösser, bilden jetzt richtige Pölsterchen, überall auf den Händen und im Gesicht rasch zusammenwachsende Schimmelinselchen. Das sieht bizarr aus, aber er findet es jetzt nicht mehr lustig. Greift sich die Tube, mit deren Salbe er sonst seinen Fusspilz bekämpft, schmiert sie sich hektisch ins Gesicht, massiert sie in die Hände ein.
Das wirkt. Die gelben Partien weichen sofort zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser. Erleichtert stöhnt er auf. Es lebe die Chemie, denkt er. Jetzt wird er sich betrinken, denkt er, sich gnadenlos ins Koma saufen. Eine Stunde später liegt er stockhagelvoll auf seinem Bett, aber er schläft unruhig, träumt viel und nicht sehr angenehm.
Keuchend und nach Luft ringend kämpft sich der Träumer aus dem Traum. Er ist zunächst sehr erleichtert, als er sich in seinem Bett wieder findet. Geiwss, der Schädel brummt und heftige Gewitter entladen sich in seinem Kopf, aber das ist normal, wenn man einen Kater hat, und es würde nach einem Alptraum nichts Schöneres geben als die Normalität.
Ja, alles wäre normal. Es wäre Sonntagmorgen – oder wohl eher Sonntagmittag – und er hätte ein pelziges Gefühl im Mund, er hätte Durst.
Durst – ein völlig unspektakuläres Bedürfnis. Durst ist Heimat. Gletscherbach und Dorfbrunnen. Humpen mit gelbem, schäumendem Bier. Gartenwirtschaften, Serviertöchter mit guten Hüften. Blasmusik, Fondue, humpahumpatäterä. Sonntagnachmittag, Erdbeercoupe. Mittwochabend, Jassrunde. Durst, Heimat.
Er greift sich mit der Hand ins Gesicht. Die Hand ist gelb, und die Haut des Gesichts fühlt sich an wie ein Fell.
Immer noch, schon wieder, jetzt erst recht.
Er lacht, alut und trotzig.
Dann kommt ihm die Idee, noch gar nicht erwacht, sondern bloss in einem anderen Alptraum gelandet zu sein, wie Mister Spock on LSD. Das ist unangenehm, aber nicht allzu tragisch. Er versucht, sich zu erinnern, an irgendwas, aber die Gedanken laufen chaotisch in seinem Hirn durcheinander.
Die Sonne, die durch das grosse Fenster in den Raum hinein scheint, ist sehr hell. Er kann sich nicht entsinnen, je eine solche Helle gesehen zu haben.
Auch die Pflanze neben dem grossen Fenster leuchtet, verströmt ein intensives grünes Licht.
Die ganze Wohnung hat sich verändert, nicht sehr, auf keine dramatische, aber doch ausgesprochen charakteristische Art und Weise, die er einfach nicht in Sprache fassen kann.
Die Gegenstände sind von einer nicht zu überbietenden Körperhaftigkeit. Sie ragen ungeheuer weit in den wie aufgeblasenen Raum hinein.
Allmählich geht sein Entsetzen in ein Gefühl der Verwunderung, des Staunens über.
Er denkt: Ich denke, ohne zu denken. Ich fühle, ohne zu fühlen. Ich empfinde, ohne zu empfinden. Ich empfinde, wie wenn nicht ich es wäre, der empfindet. Ich empfinde, wie wenn es kein Ich mehr gäbe.
Er denkt, dass der denkt, dass der denkt, dass er denkt…
Ein Echo hallt von den Wänden in seinem riesigen Kopf.
Er sitzt in seinem Kopf wie in einem Raum voller Spiegel.
Er schaut hinaus auf die namenlosen Gegenstände, die eine würdevolle, ehrfurchtgebietende Eigenständigkeit ausstrahlen.
Er nimmt das intensive Licht in sich auf, er staunt und fühlt sich frei, und dieses Gefühl der Feriheit ist Glück.
Ja, er hat sich wohl verwnadelt.
Die tosende Stille hinein explodiert ein Trommelfeuer aus scharf konturierten Tönen. Was ist das?
Natürlich, sein Handy. Er weiss noch, wo sein Handy liegt, ihm fällt noch ein, was ein Handy ist und was man mit einem Handy macht.
Er ist nicht verrückt. Er befindet sich bloss in einem Alptraum.
Oder auf einem Trip.
Man kann auch in einem Alptraum telefonieren, denkt er jetzt.
Vielleicht ist das ganz lustig.
«Bist du es, Manfred?» fragt eine Frauenstimme.
Er räuspert sich. Ist er es, Manfred? Möglich, aber es hat keine Bedeutung. Nicht mehr.
«Ich bin es, deine Mutter. Du musst unbedingt vorbei kommen. Ich muss die etwas ganz Wichtiges erzählen.» Er hört fasziniert zu, hingegeben, verliert sich an die Medlodie in der Stimme und achtet nicht auf den Sinn der Worte.
Die Frau am anderen Ende der Leitung fängt jetzt an zu weinen.
«Ich kann nicht kommen», sagt er heiser, unter Aufbietung all seiner Willenskraft. Mühsam reihen sich die Worte aneinander. «Ich habe überall gelben Schimmel im Gesicht. Und an den Händen auch. Wie es um den übrigen Körper steht, weiss ich nicht.»
«Bist du betrunken?» fragt die Frauenstimme scharf. «Jetzt am Mittag?»
«Ich habe ein Fell bekommen», schreit er als Antwort in das Handy und schleudert es dann mit voller Wucht von sich.
Was geht ihn diese Stimme an? Was geht ihn überhaupt noch an?
Er legt sich auf den Boden und döst. Die Sonne scheint ihm auf den Kopf, wärmt ihm die Schnauze. Er fühlt sich wohl. Er beginnt zu schnurren, probeweise erst, dann mit immer grösserer Selbstverständlichkeit.
Die Zeit hat aufgehört zu existieren. Er befindet sich im vergangenheitslosen, zukuftslosen Raum der Gegenwart, den Menschen nur im Traum oder im Rausch erfahren und dann gleich wieder vergessen.
Die Sprache zerfällt. Das Leben hat immer gerade erst angefangen.
Bald wird er Hunger bekommen, aber davon weiss er noch nichts.
Freitag, 8. Mai 2009
Das Märchen vom König, der vielleicht gar keiner war
Es war einmal ein überaus reicher und mächtiger Mann, der König eines grossen Landes war, der alles besass, was man nur besitzen konnte zu jener Zeit, der alle nur denkbaren Erfahrungen gemacht hatte und der alles Menschenmögliche wusste. Und dieser Mensch war noch immer nicht zufrieden. Denn es gab ein Gebiet, und zwar ein riesiges Gebiet, das er nicht zu beherrschen vermochte und das auch nur besuchsweise zu betreten ihm bisher unmöglich war: das Reich der Zukunft. Das ärgerte den König sehr, und er dachte Tag und Nacht darüber nach, wie diesem Übelstand abzuhelfen sei und wie er n das Land der Zukunft gelangen und wie er es später sogar erobern könnte. Er sass Stunde um Stunde über philosophische Werke gebeugt, was sonst gar nicht seine Art war. Aber alles Lesen half nichts, die Tür zur Zukunft tat sich um keinen auch noch so klitzekleinen Spalt auf. Das ganze Leben ist eine Reise in die Zukunft», was sollte er auch damit anfangen. Dieser bescheidene, alllmähliche, schrittweise Zugang mochte etwas für seine Untertanen sein, keinesfalls aber war er einem König wie ihm angemessen. Er verbrannte die Bücher und befahl sämtlicvhe Zauberer, Magier und Alchemisten des In- und Auslandes zu sich.
«Wer mich ins Land der Zukunft führt», liess er verkünden, «bekommt die Hälfte meines Reichs.» Worauf die Zauberer, Hexer und Alchimisten ihn mit grosser Hingabe umzauberten, umhexten und alchemisierten, denn jeder wollte natürlich die Hälfte des Königreichs erhalten und sie gaben ihm eigenartige Kräuterteemischungen zu trinken, fütterten ihn mit heiligen Pilzen und rieben seinen königlichen Körper mit übelriechenden Salben ein, wodurch er zwar regelmässig in andere, ihm bisher verschlossene Räume seiner Seele geriet, aber niemals in den Raum oder vielmehr, bildlich gesprochen, die riesengrosse Halle der Zukunft. Da wurde der König, seiner Art entsprechend, zuerst wütend, dann aber erfasste ihn eine bisher nicht gekannte Verzweiflung. Er wusste jetzt, dass er alles andere als allmächtig war und dass ihn im Grunde nicht sehr viel von seinen Untertanen unterschied – nur, dass diese im Allgemeinen viel zufriedener waren als ihr armer, geplagter König, der als Einziger das Ausmass menschlicher Beschränktheit erahnen konnte und sich des Eingeschlossenseins im Kerker der Gegenwart bewusst war. Der König fühlte, wie sich eine definitive Einsamkeit seiner Seele bemächtigte. Da halfen all die jungen Gespielinnen und Lustknaben nichts.
Nach einem sinnlos vertanen Tag, an dem der König sich selbst und alle anderen genervt oder gar gequält hatte, geschah es, dass er einen Traum hatte. In diesem königlichen Traum erschien ihm ein Mann, der ihm aufs Haar glich. Auch er war ein König, reich und mächtig und klug, ein Bruder, ein Zwilling gar.
«Was willst du?» fragte der König unwillig und irritiert, «wer bist du?»
«Das weißt du doch», anwortete der andere spöttisch. «Ich weiss, was dein Begehren ist und kann es dir verschaffen. Aber ich verlange einen hohen Preis.»
«Was es auch sei, es sei dir gewährt», sagte der König ganz aufgeregt, «ich biete dir mein halbes Reich.»
«Dein halbes Reich?» lachte der andere. «Du musst verrückt sein. Glaubst du, ich gebe mich mit halben Sachen zufrieden?»
Der König erschrak ein wenig ob dieser klaren Worte, überlegte sich aber dann, wie unglücklich er ja trotz seines prächtigen Königreichs war und im Übrigen das Reich der Zukunft noch viel prächtiger und grösser zu sein versprach.
«Ich werfe mein ganzes Reich in die Waagschale», entschied er sich.
Da lachte der andere noch lauter und noch gemeiner. «Lächerlich», sagte er, «was soll ich mit diesem lächerlichen Reich, das dir ja ohnehin nicht wirklich gehört? Nein, so billig kommst du nicht weg.»
«Was willst du denn noch?» stöhnte der König auf, «mehr habe ich wirklich nicht zu bieten.»
«Si, mehr hast du also nicht zu bieten? Na, denk doch mal nach!»
Das tat der König, und zwar so sehr, bis ihm der Kopf schmerzte. Was ist, dachte er nach, mein Leben denn noch wert, wenn ich die Wahrheit über das Reich der Zukunft nicht erfahre?»
«So biete ich dir denn in Gottes Namen mein Leben», fasste der König seine Überlegungen zusammen.
Diesmal lächelte der andere nur, beinahe wohlwollend. «Ah, clever. Aber damit legst du mich natürlich nicht herein. Ich will dir auf die Sprünge helfen. Es ist ganz einfach: Du gibst mir deine Vergangenheit und bekommst dafür meine Zukunft.»
Noch bevor der König erleichtert auf dieses, wie ihm schien, günstige, ja geradezu unverschämt preiswerte Angebot eingehen konnte, weckte ihn ein näher kommendes Tosen und Schütteln und Krachen brutal aus seinem Traum. Und während er aufrecht in seinem prunkvollen Himmelbett sass und sich seine wache Aufmerksamkeit nach und nach in Panik verwandelte und er verzweifelt nach seinem Kammerdiener Johann rief, wurde es dunkler und dunkler und dunkler um ihn.
Oder war das nur ein neuer Traum, in den er fiel?
Mittwoch, 6. Mai 2009
Die Tür
Als er erwachte und sich zu erinnern versuchte, wer und wo er sich befand, dunkelte es bereits wieder. Die Vorhänge vor den hohen Fenstern waren zugezogen. Das Licht im Raum erinnerte ihn an ungute Stunden seiner Kindheit. Der Raum selbst liess ihn an Märchen denken, die er einmal gehört haben musste, an alte Schwarz-weiss-Filme und, weiss der Teufel wieso, an Marcel Proust, an Heinrich Heine und an Paris. Es kam ihm so vor, als sei er schon vor Ewigkeiten in diesen Raum gekommen und lange, viel zu lange in ihm geblieben. Das Bett, auf dem er angezogen lag, roch nach Keller, nach Matratzengruft. Ich muss etwas tun, dachte er, zugleich träge und voller Panik, ich muss mich befreien. Aber er war müde, so müde. Er versuchte, sich zu erinnern, fand aber nichts ausser dieser schweren Mattigkeit im Hirn. Im Raum befanden sich Möbel, viele Möbel, doch das Zimmer sah nicht eingerichtet, sah unbenutzt aus. Die Möbel standen herum wie in einer Abstellkammer, alte, schwere, verlassene nutzlose Stücke aus einer vergangenen Zeit. Eine Staubschicht bedeckte sie. Sessel und Stühle, die Platz wegnahmen und sonst nichts, riesige Kästen und Kommoden, die einem den Atem raubten. Dazwischen, darauf, darüber und darunter viele viele alte Bücher. Tote Bücher, Buchleichen. Er spürte dumpfe Wut in sich aufsteigen. Er hasste diese Dinge, er hasste alle Dinge. Leicht, leicht wie Luft möchte ich sein, dachte er. Leichter als Luft. Dann könnte ich fliegen.
Nutzlose und tot Gedanken. Sie gaben ihm noch nicht einmal die Kraft, sich aufzusetzen. Matratzengruft. Und das Licht schwand schon wieder hinter den Vorhängen. Eben war es noch Morgen gewesen. Und die Sinne hungerten wie eh und je. Zu sehen waren aber nur die drohenden Schatten der alten Möbel, die ihn vor Verzweiflung zum Weinen brachten. Zu hören war nichts ausser dem Rauschen des Blutes im Kopf. Beine und Arme waren gefühllos, nur Kopf und Rücken taten weh. Im Mund der bittersüsse Geschmack von alten Biscuits. Wie Grossmutter sie ihm immer aufgenötigt hatte! Er hasste alte Biscuits und er hasste Grossmütter, aber dieser Hass war völlig nutzlos, wie alles.
Da drüben, die Tür. Immer wieder landete sein Blick, nachdem er eine Weile ziellos im Raum herum gewandert war, bei der Tür. Gross war sie und einladend, ein Tor schon fast. Natürlich, sie hatte einen Nachteil: Die war geschlossen. Aber man hätte sie leicht öffnen, hindurch schreiten können. Man hätte gesehen, was hinter der Tür war. Jetzt konnte man bloss spekulieren, die Treppe, die möglicherweise in die unteren Geschosse führte, sich vorstellen. Musste sich vorstellen, wie man aus dem Haus trat, mit einer warmen Kappe auf dem Kopf, denn es ist möglicherweise noch immer oder schon wieder Winter. Trotzdem, draussen wäre es schön: Stunde der Dämmerung mit zarten Rot- und Blautönen im weiten weiten Himmel, Nebel in den Tälern zwischen den Hügeln. Die Menschen in den Strassen der Stadt hätten Dampf vor dem Mund. Und man wäre einer von ihnen, hätte etwas vor, würde sich freuen auf einen guten Film, ein gepflegtes Essen im Freundeskreis, eine Umarmung vielleicht sogar. Man könnte vergessen: die toten schweren Dinge des Raumes und der Zeit. Durch die Tür könnte man gehen ins Reich der tausend Möglichkeiten. Leichter als Luft könnte man reisen mit der Geschwindigkeit des Lichts den Bogen des rosafarbenen Himmels entlang.
Dienstag, 5. Mai 2009
Eines Abends im Büro - ein kurzer Spionageroman
Ich hatte buchstäblich den ganzen Nachmittag im Büro verbracht, als ich plötzlich einen stechenden Schmerz in der Kreuzgegend verspürte. Ich wollte mich vom Drehsessel erheben, um ein paar Übungen zu machen, den Körper durchzustrecken, die Wirbelsäule abzurollen, die Hände hinter den Kopf zu legen und gleichzeitig den Rumpf zu drehen, tief durchzuatmen. Ging nicht. Ich konnte nicht aufstehen, konnte nicht tief durchatmen, die Wohltat, die Wirbelsäule abzurollen, blieb mir versagt. Das Telefon läutete. Laut, unverschämt laut. Ich liess es läuten, angewiderten Gesichts. Vor meinem geistigen Auge entstanden, ich weiss nicht warum, seltsame Tiergestalten. Eine Giraffe mit einem Elefantenkopf zum Beispiel. Ein Elefant mit einem Giraffenkopf. Ich musste lachen.
Es klopfte an die Tür.
Das Lachen hatte mir gut getan. Fast fröhlich rief ich: «Herein!» Die Tür, so konnte ich auf meinem Bürostuhl sehen, öffnete sich langsam. Es trat zögerlich ein kleiner dicker Mann herein. Er war einer unserer Bundesräte, ich erkannte ihn sofort.
«Wer sind Sie?» fragte ich trotzdem spasseshalber. «Ich bin vom Tierschutzverein», antwortete er schüchtern, mit kaum vernehmbarer Stimme. «Ich suche einen Elefanten mit einem Giraffenkopf. Solcherlei Vieh fällt nämlich hierzulanden unters Patentgesetz. Nun, haben Sie so etwas gesehen?» Ich musste nachdenken. «Kann sein, kann aber auch nicht sein.» Ich wollte mich nicht festlegen. «Es kommt mir irgendwie so vor. Andererseits ist es aber auch ziemlich unwahrscheinlich, wie Sie zugeben müssen. Ich schaue in letzter Zeit einfach zuviel fern. Am besten fragen Sie gleich das Fernsehen.»
Ich musste irgendetwas Falsches gesagt haben. Der kleine dicke Bundesrat wurde plötzlich gross und noch dicker, und vor allem sein Hals und seine Ohren begannen in einem erstaunlichen Mass zu wachsen. «Ich glaube, ich muss Sie verhaften», sagte er mit nun nicht mehr ganz so schüchterner Stimme.
«Bitte», antwortete ich darauf, noch immer in ziemlich humoriger Stimmung, «wenn Sie das schaffen, dann sind Sie nicht nur Tierschützer und Bundesrat, sondern obendrein auch noch Chiropraktiker, Physiotherapeut oder sonst etwas in dieser Art. Ich habe nämlich, wie ich vermute, einen Hexenschuss.»
So kam es denn, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben frisch von der Arbeit weg von einem dicken Bundesrat mit langem langem Giraffenhals und grossen grossen Chabisblätterohren durch die Stadt gebuckelt wurde. Es war grossartig, von so einem Bundesrat durch das Gewühl der Grossstadt getragen zu werden. Ehrlich, Sie müssen es auch einmal ausprobieren. Wenn keiner bei Ihnen vorbeikommt, finden Sie einen im Regierungsgebäude, Bundeshaus genannt. Item. Die Leute machten uns respektvoll Platz und allenthalben hub ein Murmeln und Getuschel an. Ein eifriges Rätselraten: Ist ers? Ist ers nicht? Man berührte seine Ohren. Natürlich ist ers, man erkennt doch die markante Person des Bundesrates, der ein Flair für medienwirksame Auftritte hat. Im vollgestopften Tram überliess man uns sofort einen der raren Sitzplätze. Die Leute glotzten. Ich winkte ihnen zu – zugegebenermassen etwas burschikos –, worauf sie ihre Blicke unwillig abwandten. Ein Bundesrat, ein gestandener Mann mit Silber im lichten Haar, der einen so jungen und hübschen Burschen in kurzen Hosen wie mich auf dem Buckel herumträgt, man denke nur! Das ziemte sich einfach nicht, war geradezu unanständig. Ein halbbesoffener Penner wollte von meinem Eselchen einen Stutz für ein Bier.
Das brachte mich auf eine Idee. «Komm, wir gehen doch auch noch ein Bier trinken, bevor wir zum feierlichen Akt der Verhaftung schreiten», schlug ich meinem Bundesrat vor und zog ihn an den Schlampiohren, worauf er mich an der nächsten Haltestelle brav aus dem Tramwagen trug.
In der Kneipe, einem Lokal, in dem dauernd die wunderlichsten Dinge passieren, achtete kaum jemand auf unseren Auftritt. Es kam, wie es kommen musste: Mein Eselchen, das sich von den seelischen Strapazen der letzten Stunde erholen musste, lag bald genug unter dem Tisch. Der Bundesrat, gewohnt, 15 Stunden pro Tag am Schreibtisch zu sitzen, zu schuften, zu malochen, zu baggern, zu entscheiden, zu konferieren, hatte seit seiner Altherrenzeit in der Studentenverbindung nicht mehr so gewaltig viel gesoffen. Schon bald begann er, die wildesten Staatsgeheimnisse auszuplaudern. Ich glaubte ihm kein Wort. Zu unwahrscheinlich, zu haarsträubend und abstrus war, was er mir und den andern Süffeln in der Runde aufzutischen versuchte. Als wir ihn auslachten, wurde er so wütend, dass wir ihn mit einem dreistöckigen Bäziwasser beruhigen mussten, worauf er zu allem Überfluss auch noch versuchte, die Nationalhymne abzusingen.
Die Episode hatte Folgen und auch wieder nicht. Sie hatte den Magistraten so aus der Bahn geworfen, dass er vortan dem Bäziwasser treu ergeben blieb. An der Politik unserer Regierung hat das allerdings nicht viel geändert.
Montag, 4. Mai 2009
So könnte eine Geschichte beginnen
Als er dreissig wurde, begann er ordentlich zu leben, legte sich ein Bankkonto zu, begann sich mit Nummern zu umstellen. Das Bankkonto hatte eine Nummer, zum Beispiel. Als Krankenkassenmitglied hatte er eine Nummer. Seine AHV-Karte trug eine zwölf- oder fünfzehnstellige Nummer, ebenso sein Sturmgewehr. Und so, wie er sagte: «Mein Land», «meine Bank», «mein Gewehr», so sagte er jetzt auch «meine Sturmgewehrnummer», «meine AHV-Nummer», «meine Bankkontonummer», meine «Krankenkassennummer». Das gab ihm das Gefühl, aufgehoben zu sein, ein heimatliches Gefühl der Geborgenheit. Zur Bankkontonummer gehörte übrigens auch eine Bankomatkarte und zu dieser wiederum eine Codenummer, sechsstellig. Auf der zehnstelligen Kontonummer lag sein ganzes Geld. Das war zwar nicht sehr viel, aber immerhin, alles hatte seine Ordnung, er war ein ordentliches Mitglied der menschlichen oder vielmehr der schweizerischen Gesellschaft.
Und als solches wollte er sich ab und zu etwas gönnen, ein gutes Essen etwa, zu dem er seine Freundin oder gar seine angetraute Ehegattin eingeladen hatte an diesem Freitagabend. Vorher, am Nachmittag zwischen zwei Terminen, musste noch etwas Geld, Kohle, Asche oder Zaster besorgt werden von den sechs- und zehnstelligen Nummern «seiner» Bank.
Er steckte also die Bankomatkarte in den Schlitz eines der Geldautomaten, die überall in der Stadt zu finden waren, und tippte seine sechs Nummern ein. Es begann im Innern der Apparatur ein wenig zu summen und zu schnurren, verheissungsvoll wie immer, aber dann passierte nichts mehr oder nur insofern, als die Computerschrift, die ihn eben noch mit einem freundlichen «Grüezi. Ihre Karte wird geprüft» begrüsst hatte, erlosch. Und das wars dann schon. Er mochte warten und sich ärgern, es nützte alles nichts. Die Leute hinter ihm, die auch ihre sechsstelligen Zahlen eintippen wollten, begannen eine Schlange zu bilden. Er spürte aufkommende Ungeduld in seinem Rücken. Mit roten Ohren verliess er schliessliche das verstummte Ding, denn Misserfolg am Geldautomaten ist suspekt, peinlich und rufschädigend.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zur Hauptfiliale «seiner» Bank zu fahren. Gott sei Dank war es noch vor Schalterschluss. In der Hauptfiliale waren die Bankbeamten freundlich. Wenigstens vorerst. Er nannte die zehnstellige Nummer seines Kontos und zeigte seinen Ausweis her, der unmissverständlich klar machte, dass er war, wer er war. Jetzt konnte eigentlich nichts mehr schief gehen.
Aber es dauerte und dauerte, bis der Angestellte mit dem Geld, der Kohle, der Asche und dem Zaster kam. Hinter einer Topfpflanze machte er an einem Computer rum. Als er sich unserem Freund wieder zuwandte, war sein Pokerface beinahe unverändert, eine Spur kühler vielleicht als vorher. «Tut mir leid, aber ich kann Ihnen kein Geld geben, mein Herr.- Wir haben kein Konto mit dieser Nummer bei uns, und wir haben kein Konto, das auf ihren Namen lautet. Sie müssen sich in der Bank geirrt haben.»
Er konnte nur «aber, aber…» stammeln. «Wir sind gern bereit, bei unserer Bank auf ihren Namen ein Konto zu eröffnen», meinte der Banker konziliant. Es gibt einen Übermut der Güte, sagt Nietzsche, welcher sich wie Bosheit ausnimmt.
Vielleicht bin ich verrückt geworden, denkt der solcherart Geprellte mit einem völlig unerklärlichen Gefühl der Erleichterung. Er schaut in seinem Portemonnaie nach und entdeckt da neben einigem Kleingeld, einer thailändischen 10-Baath-Note und einem amerikanischen Vierteldollar auch noch eine Zehner- und eine Zwanzigernote. Die werde ich jetzt versaufen, denkt er und grinst böse in sich hinein.
So könnte eine Geschichte beginnen.
Samstag, 2. Mai 2009
Der Rüsselfisch
Er hatte keinen Namen und eine grosse Sehnsucht. Er war der einzige seiner Art, weshalb wir hier von ihm auch nicht einfach sagen können, er sei ein Pferd, ein Elefant, ein Tiger, ein Kamel oder ein Kakadu gewesen. Nennen wir ihn also Rüsselfisch.
Ich muss zwar zugeben, dass die Wahl dieses Namens etwas willkürlich sein mag. Eine grosse Ähnlichkeit mit einem Fisch hatte er nämlich nicht. Auch kann man nicht behaupten, dass da etwas Rüsselähnliches an ihm runter gehangen hätte. Er war, im wahrsten Sinn des Wortes, unvergleichlich. Ihr werdet vermuten, dass Rüsselfisch sehr einsam war, so allein und einzig. Aber da liegt ihr daneben. Man kann sich, logischerweise, nicht nach Zweisamkeit sehnen, wenn man ein singuläres Exemplar einer Gattung, wenn man eine Gattung im Kleinen, sozusagen, im sehr Kleinen sogar, wenn der Ausdruck hier erlaubt ist – man kann sich also nicht nach Zweisamkeit sehnen, wenn einem das Schicksal nie die Chance gab, die Idee der Zweisamkeit in sich überhaupt zu entdecken und in der Praxis zu erproben.
Immerhin hatte Rüsselfisch so seine dumpfen Ahnungen, und die eingangs erwähnte Sehnsucht, die allerdings richtungslos war, gehörte zu seinem Lebensgefühl. Rüsselfisch wünschte sich zwar keine Zwei- oder Mehrsamkeit, konnte sie sich gar nicht wünschen, das mochte aber nicht zu verhindern, dass er sich manchmal sehr unzufrieden fühlte oder ein Gefühl in sich verspürte, das einer normalen Unzufriedenheit sehr nahe kommt. Immer, wenn dem so war, begann er, sich im Kreis zu drehen – die einzige Lebensäusserung, zu der der Erbarmenswerte fähig war.
Ihr dürft nicht glauben, dass Rüsselfisch eine abstrakte Idee von mir sein, eine Ausgeburt meiner Fantasie, ein Hirngespinst. Er ist, ich schwöre es, ein reales, konkretes, lebendiges Wesen, so wie ihr und so wie ich. Er hat Energie in sich, Lebensenergie, die es ihm erlaubt, sich im Kreis zu drehen. Er ist Materie, belebte organische Materie in diesem Raum und dieser Zeit. So wie ihr. So wie ich. Auch wenn er sonst keine Gemeinsamkeiten mit uns teilt. Gewiss, er kann sich im Raum drehen, und das können wir auch, man denke nur an gewisse Formen des Tanzes wie etwa an den Tanz der Derwische oder die Polka. Aber wir können daneben auch essen, herumgehen, ein Buch lesen, die Zähne putzen, uns an unanständigen Stellen kratzen, Bier trinken, wir können reden und demzufolge auch schweigen, wir sind wach und verschlafen etwa einen Drittels unseres Lebens, wobei „Verschlafen“ so negativ klingt und das ist nicht gemeint, ganz im Gegenteil. Wir haben die Träume, den Wein, die Kunst, das Fernsehen, die Bratwurst und den Sex, um uns über die Widrigkeiten des Lebens hinwegzutrösten. Wir haben es gut. Rüsselfisch hat es etwas weniger gut getroffen.
Wobei man das natürlich nicht sicher wissen kann. Wer kann schon in einen anderen hineinsehen? Es ist alles blosse Vermutung, Annahme, Spekulation. Man kann ja als Mensch mit Rüsselfisch nicht einmal annähernd kommunizieren. Er hat nämlich keinen Mund, kann also weder reden noch essen. Arme hat der Arme auch keine (oder muss es heissen „die Arme“? Ein Geschlecht hat – einigen wir uns auf „es“ – nämlich auch keins). Ebenso wenig Beine. Nichts, was einem Gesicht auch nur andeutungsweise ähneln würde. Eigentlich ist er bloss ein Klumpen, ein Haufen belebter Materie. Und alles, was er damit anfangen kann, ein Haufen belebter Materie zu sein, besteht im Maximum darin, sich um sich selbst zu drehn.
Ihr werdet euch nun fragen, wie Gott (oder wer oder was auch immer) die Grausamkeit besessen haben kann, ein solches Lebewesen in die eh schon beschissene Welt zu setzen. Ich weiss, diese ewigen Sinnfragen, diese Warums und Wozus, die ja doch nie jemand schlüssig beantworten kann, hängen euch langsam zum Hals heraus. Geht mir doch genau so! Aber wenn es um den Rüsselfisch geht, müssen wir auf eine gewisse methodische Strenge bestehen, denn der Rüsselfisch, ihr erinnert euch, ist eben gerade keine abstrakte Grösse. Es gab ihn übrigens, um eine weitere Merkwürdigkeit zu erwähnen, die aber einen ganz plausiblen Hintergrund hat, schon immer. Das muss so sein, rein logisch gesehen. Wenn er der Einzige seiner Art ist, der absolut Einzige, kann er auch keine Eltern haben, oder gehabt haben. Und dass er aus dem Nichts emporgestiegen sein könnte, ist unwahrscheinlich. Dass er aus dem Nichts herausgezaubert worden sein könnte, irgendwann in grauer Vorzeit, glauben höchstens Esoteriker, Fantasy-Spinner. Nichts stiegt einfach so aus dem Nichts empor, das wäre empörend. Sogar der Urknall hat einen Grund, auch wenn der schwer zu verstehen ist. Wer kann sich schon in den Nullpunkt hinein verdichtete Materie vorstellen? Ich nicht, ihr nicht. Etwas, das so dicht ist, dass es keinen Platz mehr braucht, scheint uns absurd. Genauso wie die Behauptung einiger Astonomen – Astronomen, nicht Astrologen! -, dass man mit einem Supersupersuperteleskop in die Vergangenheit hinaus- oder zurückzuschauen vermöge. Nein, ich halte die Möglichkeit, dass Rüsselfischs Entstehung auf den Urknall zurückzuführen sei, für eine durchaus vertretbare Hypothese.
Er weilt jedenfalls schon sehr lange unter uns, länger, als wir uns das vorstellen können – man braucht ja nicht gleich den Begriff „Ewigkeit“ zu bemühen. Vor dem Erscheinen der Dinosaurier auf diesem Planeten drehte er sich schon im Kreis, wenn er ärgerlich oder unzufrieden war (um seinen Gefühlszustand in menschlichen, also unzulänglichen Kategorien zu umschreiben). Die Ursuppe war noch am Köcheln, da war er schon da.
Es gibt weitere Fragen. Zwar war er schon immer da, oder so gut wie schon immer, aber wird er auch ewig bleiben? Zu wünschen ist es ihm nicht. Der Gedanke an eine solche Unsterblichkeit wäre unerträglich.
Wo ist Rüsselfisch? Wo war er und wo wird er sein? Er haust überraschend konkret: Nämlich in Ihrem Keller. Oder vielmehr: in meinem Keller. Nein, ich besuche ihn nicht. Er braucht ja nicht gefüttert zu werden. Hat ja keinen Mund, wie gesagt. Ist unglaublich genügsam, wie gesagt. Hat keinen Mund, kein Maul, keine maulähnliche Öffnung, um zu fressen, wovon er sich ernährt, oder vielmehr erhält, ist ein weiteres Wunder der Natur. Rüsselfisch machte, macht keinen Lärm, es sei denn, dass er sich dreht, und das kommt alle paar Jahre mal vor, ist also ganz pflegeleicht. Eigentlich war, ist er ein ganz angenehmer Mitbewohner und Zeitgenosse. Nur, dass ich nicht mehr in meinen Keller geh, wo sich noch ein paar ganz gute Flaschen Wein inzwischen wohl in Essig verwandelt haben. Trotzdem bin ich mir immer bewusst: Er ist da. Ich weiss nichts über ihn, obwohl er in meinem Keller wohnt – das beschäftigt mich manchmal. Ich weiss zum Beispiel nicht, ob er wirklich nicht weiss, wonach er sich sehnen soll. Weshalb ich auch nicht weiss, ob er zu bemitleiden ist, oder ich. Trotzdem denke ich, dass er nicht viel zu lachen hat, da unten in meinem Keller. Wir haben, wie gesagt, immerhin den Wein, die Träume das Nasenbohren. Und er hat nicht einmal etwas vom Essig vor seiner Nase.
Meine Damen, meine Herren: dem ist nichts hinzuzufügen. Und sollten Sie heute Nacht vom Rüsselfisch träumen, dann denken Sie daran, dass es vielleicht wieder einmal Zeit wäre, in den Keller zu steigen. Nehmen Sie kein Licht mit, gehen Sie nackt. Reden Sie mit ihm, flüstern Sie ihm Liebenswürdigkeiten ins Ohr. Vielleicht versteht er Sie ja doch. Und wenn nicht: Tun Sie es Ihrer eigenen Seele zuliebe, Streicheln Sie ihn. Vielleicht hat er das gern. Vielleicht tut es ihm gut. Sicher tut es Ihnen gut. Und fressen kann Rüsselfisch, er, sie oder es, Sie ja nicht
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