Samstag, 18. April 2009

Gefangen




Als Max zum ersten Mal merkte, dass er gefangen ist, war es schon zu spät. Genau in diesem Moment hat sich das Netz über ihn gelegt. Das Netz? Die Inder nennen es Maya, Illusion. Oder Wirklichkeit, er weiss nicht mehr genau. Wahrscheinlich gibt es keine gute Übersetzung für dieses Wort in unserem Denken. Wirklichkeit, Illusion: für die Inder ist es dassselbe. Kaum vorstellbar für uns. Für Max allerdings schon. Für ihn ist es das Netz einer Göttin, die ihn gefangen hält. Einer Sklavenmeisterin im schwarz glänzenden Lederzeugs und mit der Peitsche in der Hand. Natürlich, es ist die Mutter, seine Mutter, Kali, die Schwarze, Schreckliche, die Gebärende. Seine Mutter, die ihn geboren hat und die er dafür hasst. Wer würde seine Mutter nicht dafür hassen, dass er sie geboren hat?

Doch dieser Hass ist nutzlos. Wer würde den Sturm dafür hassen, dass er die Bäume fällt? Wer würde den Vulkan dafür hassen, dass er die Umgebung mit heisser Lava versengt? Die Geburt ist ein Naturereignis. Unvermeidlich. Unvermeidlich, dass das Leben den Tod gebiert, die Lust und das Leid, und dieses mehr als jenes. Genau in jenem Moment, als Max merkte, dass das Netz über ihn fiel und es für jede Rückkehr zu spät war, wusste er im Grunde auch, dass es gar nicht anders sein kann. Denn von allen denkbaren Möglichkeiten wird jede wahr. Er ist nicht mehr als eine Möglichkeit, die gedacht wurde und deshalb wahr werden musste, nicht mehr und nicht weniger. Auch wahr ist aber, dass der Zustand des Gefangenseins kein kontinuierlicher ist, also eigentlich gar kein Zustand, sondern eher ein Prozess. Das Netz verändert seine Struktur ständig. Das ändert aber nichts an seiner immer enger werdenden Gefangenschaft.

So hat sie denn auch ihn, Max, gezwungen, ein Teil der Gebärmaschine zu werden und den Tod mit in die Welt zu setzen. Der Mann ist nur eine logische Folge des Weibes, denkt Max. Eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, denkt Max.

Als Max zum ersten Mal merkte, dass er ein Gefangener ist, wurde er sich seines Atems bewusst. Er war damals noch in den Körper eines kleinen Knaben geknechtet. Plötzlich kam ihm seine Umgebung sehr fremd vor. Die Umgebung des Dorfes, die Wiesen, die Wälder, die Häuser, die ganze vertraute Umgebung schien ihm wie auf dünnen Stoff gemalt. Die anderen Kinder wurden zu Gliederpuppen. Die friedlichen Töne in der Luft stumpf. Er war sich des dünnen Fadens seines Atems bewusst, an dem sein Leben hängt. In diesem Moment verlor er für immer die Fähigkeit, in Frieden und Selbstverständlichkeit zu atmen. Das Leben wurde zur Anstrengung. Das Netz zog sich über ihm zusammen.

Trotzdem ist sich Max nicht sicher, ob er sich, danach gefragt, dagegen gewehrt hätte, geboren zu werden. Und sei es auch nur, um der grenzenlosen Langeweile des Nichtexistierens zu entgehen.

Wobei er im Fall seiner Nichtexistenz von dieser grenzenlosen Langeweile ja gar nichts mitbekommen hätte. Und man ihn auch nicht danach (ob er geboren werden solle oder nicht) hätte fragen können. Hat man ihn auch nicht. Doch nun ist er da. Und wird wohl noch eine Weile bleiben. Basta!

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