Donnerstag, 23. April 2009
Der junge Felix
Nachdem Felix die Kneipe verlassen hatte – aber welche Kneipe? Ein kleine Beiz in der kleinen Stadt in der grossen weiten Welt. Wenigstens eines soll gross sein, wenn schon sonst alles so klein ist auf dieser grossen Welt: der Rausch. Der Grössenwahn. Ja, es gibt nichts Schöneres auf dieser beschissenen Welt als einen kräftigen, gut gewachsenen Grössenwahn. Aber was soll man damit anfangen, so ganz allein? Felix beschloss, weiterhin die Nähe von Menschen zu suchen. Es war kalt in den Gassen, die Bise war schneidend, die Nässe am Boden gefroren. Also musste man in die nächste Kneipe hinein. Aber in der Kneipe war es nicht gut, an diesem Dezemberabend Ende der Siebzigerjahre, man trank Bier, redete über belangloses Zeug. Felix trank Bier und hörte missmutig zu. Er musste mehr Bier trinken, um sich nicht unbehaglich zu fühlen. Er rutschte auf der Bank aus imitiertem Leder hin und her, zündete eine Zigarette an. Die Kellner huschten schwarz und weiss an ihm vorbei. Felix hielt sein leeres Bierglas in die Höhe. Nein, das Leben war nüchtern nicht zu ertragen. Er sah all diese Heteropärchen sich gegenüber sitzen. Dieses Plastikvolk, die Frauen geschminkt, die Männer mit schmalen Schnäuzen, mit einem ersten Ansatz von Bauch und Aussicht auf ein bisschen Karriere. Felix war gereizt – überheblich und gereizt. Es war noch zu früh. Er war noch zu nüchtern. Und schon viel zu müde, um noch weiter in der kleinen Stadt herumzustreichen. Es gab ja nicht mehr viel zu finden für die Sehnsucht in dieser kleinen Stadt. Die Kälte hatte die Menschen aus den Gassen verscheucht. Es schneite jetzt auch. Felix stand vor einer Kneipe auf einer Strasse, er fühlte die erweckende Kälte an seinen Händen und im Gesicht. Er hatte plötzlich Sehnsucht nach dem Wald. Er winkte ein Taxi heran. «Zum Bremgartenwald!» meinte er. «Zum Bremgartenwald?» meinte der Taxifahrer und lachte. Felix sass nur im weichen Polster. Es roch im Innern des Wagens nach kaltem Zigarettenrauch, nach Leder und ganz leicht nach Parfum. «Was willst du denn im Bremgartenwald?» fragte der Taxifahrer, während er durch die kalten Strassen der Stadt fuhr. Felix wusste es nicht. «Ich weiss es nicht.» Der Wagen hielt. «Da, der Wald», sagte der Taxifahrer. Felix hätte ihn umarmen können. Er nahm eine Note aus dem Portemaonnaie. «Das wird reichen.» Felix trat in den Wald. Zwischen den Bäumen leuchtete Schnee. Er war relativ hell. Geräusche waren nur von der nahen Autobahn zu hören. Felix erwartete sich viel von der Nacht im menschenleeren Wald. Aber es ereignete sich gar nichts. Es knirschte bloss der Schnee unter den Stiefeln. Es war bloss beissend kalt; die beissende Kälte war ernüchternd. Wenn nicht Wolken zwischen Felix und dem grossen Himmel gestanden hätten, Felix hätte die peitschenden Strahlen des Vollmonds gesehen. Felix wurde sich des Gefühls wieder bewusst, von dem er ausgegangen war: die Eifersucht, welche umhüllt von grenzenloser Verlassenheit, Verlorenheit, Sinnlosigkeit. Was war schon das bisschen Wärme, das es gab, glühend im Innern der Erde und im Innern des Herzens? Nichts! Die gnadenlose Unendlichkeit des Universums konnte es forthauchen mit seinem kalten, unbarmherzigen Atem, wie nichts. Der schöne, der warme, der samthäutige Freund lag inzwischen in den Armen eines andern, den ebenfalls die süssen Träume scheinbar voran, aber in Wirklichkeit im Kreis herum trieben. Die Liebe ist ein Phantom, ein Gespenst, dachte Felix und stapfte durch den durchaus realen Schnee. Felix begann nun gar zu rennen. Der Atem brannte in den Lungen. Ach ja, dies war der Fitnesspfand, hier könnte man jetzt Klimmzüge machen. Felix machte Klimmzüge, wenn auch halbherzige, einen, zwei, fünf, sank dann erschöpft in den Schnee, krallte sich mit der nackten Haut seiner Hände in den nackten Schnee, schrie. Er schrie einen Namen, verstummte. Blieb einfach liegen. Wollte einfach liegen bleiben, vielmehr. Aber dann kroch ihm die Kälte gegen das Herz, die reale, nicht die metaphorische, an sein metaphorisch gebrochenes Herz. Obwohl er auch müde war, plötzlich, sehr müde sogar. Aber eine überaus vernünftige Stimme in seinem Kopf trieb ihm diese Flausen aus. Du stirbst noch früh genug, Arschloch, sagte die vernünftige Stimme, das willst du doch gar nicht, sterben, und schon gar nicht aus Liebeskummer wie irgendein hirnloser Idiot. Wer weiss, was mit dir ist, wenn dein Mund nicht mehr schmeckt, wenn keine Chemie mehr deine Empfindungen regiert. Süchtig, süchtig macht das Leben im Körper. Die Körper, die köstlichen, die tierischen Sinne, der Hunger und der Durst. Weh dir, wenn du das alles nicht mehr hast, nicht mehr. Vielleicht nie mehr. Nicht mehr bist: DU. Ich ichichich Ich. ICH. Nein, das denn doch nicht, noch nicht. Sucht, du liebe Sucht, ich liebe dich, ich will nicht von dir lassen, ich bin süchtig nach dir. Du liebe Versklaverin, du süsse Geissel. Ich habe dich bestimmt verloren, du übermässiges, massloses Sinnbild meiner masslosen Begierde, aber ich finde einen neuen Geruch, ein neues Stück Fleisch, in das ich meine Raubtierzähne schlagen kann. Eine neue, weiche, duftende Haut. Nicht einmal erfüllt sich meiner Süchte Sinn. Tausendmal, millionenfach!
Und Felix rappelt sich auf. Taumelnd und etwas benommen bewegt er sich vorwärts. Unter seinen Stiefeln knirscht der Schnee. In der Ferne hört man den Lärm auf der Autobahn. Ferne, in der Ferne statt Schnee flimmerndes Licht. Wüste, die Sahara, Belutschistan, Gobi. Felix steht auf der kleinen Brücke für die Fussgänger, die Spazierer und Sportler, die über die Autobahn führt, und schaut runter auf die schneefreien Fahrbahnen, über welche vereinzelt, denn es ist spät, aber hörbar die glänzenden glitzernden Automobile gleiten. Ja, die Automobile, die glitzernden Maschinen! Felix lacht, er wirft gefrorene Schneebrocken nach den zu schnellen Automobilen. Ein Taxi! ruft er grossartig und in die Nacht, welche ohne Antowrt. Der König will ein Taxi!
Dann wird er wieder müde. Heim will er aber noch nicht. Es ist zu früh, viel zu früh, um nach Hause. Ins Bett, das dem gestrigen gleicht. Und leer. So leer. SO LEER. Nein nein, ich geh nicht ins Bett, wenn es so leer, denkt Felix. Ich kann warten. Bis morgen, bis es Morgen wird. Der Morgen kommt im Winter allerdings spät aus seinem Bett gekrochen. Wie spät ist es? Drei. Der Mensch und der Schweizer schlafen. Aber noch Autos. Da unten. Kein Taxi, allerdings kein Taxi. Taxis sind rar auf der Autobahn (des nachts, um drei) und die Handys noch nicht erfunden.
Felix müde Beine bewegen sich wieder. Jetzt. Und jetzt. Denkt er. Du hast dich rasiert heute, mit Parfum eingesprüht. Allerdings nicht für mich. Verdammt.
Der Wald und der Schnee sind zu Ende. Häuser, Strassen, diffuses Licht. Aber keine Menschen auf der Strasse, in den Häusern wohl, doch träumend. Wovon? Egal, egal, was geht’s uns an. Fieber, Müdigkeit, aber kein Schlaf im Hirn, ewig könnt er so weiterwandern mit seinen schmerzenden Gliedern in die kleine, doch weitläufige Stadt. Drei Uhr fünfzig. Drei Uhr zweiundfünfzig.
Das Hirn ist wach.
Um vier Uhr zwanzig ist Felix beim Bahnhof. Das Bahnhofbuffet hat schon offen, gnädig ist es allen übernächtigten Gestalten, verzweifelten und unverzweifelten. Wohltuend gleichgültig nimmt es alle in sich auf. Felix holt sich einen Kaffee und einen grossen Bäzi. Seine Haut zieht sich zusammen und dehnt sich aus. Der König, denkt er, mischt sich unerkannt unters Volk. Das Volk hat rote Augen. Es spricht wenig oder lallend in den noch nicht geborenen, gewissermassen noch fötalen oder pränatalen Tag hinein. Felix bläst Rauchringe, er spricht halblaut zu sich selbst, hier darf man das, noch darf man in Bahnhofbuffets rauchen, denn es sind erst die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, und halblauf zu sich sprechen darf man sowieso, fällt nicht auf hier. Ich mich vergiften jetzt, stammelt er leise vor sich hin. Zigarette, noch ein Kaffe hier, Schnaps, Wein und bier, dann noch ein Bier. Felix fiebert, lässt, da schwach geworden, ein halbvolles Glas auf den Betonboden fallen.
Der König zieht sich jetzt zurück, verkündet er mehr zu sich selbst, und verlässt das Bahnhofbuffet rasch. Die Begierde ist inzwischen klein geworden, auch die Eifersucht, die Liebe, der Hass.
Heute werde ich nicht zur Arbeit gehen, denkt Felix, während er sich um fünf Uhr vierzig in den Kleidern auf sein Bett legt, vorsichtig, als wäre er ein rohes Ei.
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