Oesch wacht eines Morgens auf – es ist ein Tag wie jeder andere. Könnte man meinen. Er setzt Wasser für den Capuccino auf, geht ins Bad, duscht, rasiert sich, steckt Toastscheiben in den Toaster, stellt den Käse und den Aufschnitt auf den Tisch, setzt sich mit einem Buch an den Frühstückstisch, beginnt zu essen, zu lesen, zu trinken. Aluk, sein Partner, schläft noch, wie immer. Denkt Oesch. Dann fällt ihm aber doch etwas Ungewohntes auf, eine überraschende Ruhe. In der Wohnung ist es zwar immer relativ ruhig, die Fenster isolieren gut, aber so ruhig denn doch nicht, normalerweise hört man ein Flugzeug, das sich im Ab- oder Landeflug befindet, den vorbeifahrenden Zug, entfernten Baulärm. Oesch realisiert diese Ruhe, aber die Erkenntnis bleibt in seinem Unbewussten, unterhalb der Bewusstseingrenze, er ergänzt, weil er es so erwartet, die Wirklichkeit einfach mit seiner Fantasie zur Normalität. Ausserdem hat er es eilig, er muss ins Büro, davor noch scheissen, er weiss, wann der Bus fährt und wann der nächste, also packt er sein Buch, um auf der Toilette weiter zu lesen und sein Geschäft zu erledigen, dann putzt er sich noch rasch die Zähne, schlüpft in Schuhe und Mantel, greift sich Rucksack und Schirm und verlässt die Wohnung, wie immer nach mehrmaliger Kontrolle, ob der Kochherd ausgeschaltet ist. Inzwischen ist die Dunkelheit einem schmutzigen Dämmerungslicht gewichen, das wenig Freude macht. Es ist kurz nach acht Uhr, Dezember. Oesch eilt zur Bushaltestelle, auf dem Weg begegnet ihm niemand. Jetzt wird die Stille unüberhörbar. Nichts regt sich. Nirgends Menschen. Auch Tiere sind vorerst keine zu sehen, was nicht ungewöhnlich ist im Dezember. Allerdings hat es auch im Winter auf dem Streifen Wiese zwischen Bahngeleise und Wohnblock meistens ein oder zwei Kolkraben. Heute nicht. Das irritiert Oesch aber weniger als das Fehlen von Menschen und die Abwesenheit von jeglichem Verkehrslärm. Oesch überlegt kurz, ob er sich im Tag geirrt hat, oder im Datum, vielleicht ist heute ja Sonntag, oder Weihnachten. Ach Quatsch, so senil ist Oesch dann doch noch nicht, Sonntag war vorgestern, also ist heute Dienstag, und es ist erst der 11. Dezember, ein Blick auf die Datumsanzeige auf seinem Handy bestätigt es Oesch. Jetzt befindet er sich an der Bushaltestelle, wo sich nicht nur kein Bus befindet wie sonst üblich, weil die Busse zu dieser Tageszeit in kurzen Abständen fahren und es sich bei der Haltestelle von Oesch um die Endhaltestelle der Buslinie handelt, sondern auch sonst nichts, was sich bewegt, weder auf Beinen noch auf Rädern. Oesch ist ratlos, verblüfft erst, dann zunehmend irritiert. Nachdem er eine Viertelstunde gewartet hat, in der sich nicht das geringste ändert, macht er sich zögernd zu Fuss auf den Weg. Normalerweise wird an den Stationen per Lautstärker über Busausfälle oder Linienblockierungen informiert, aber nicht heute. Er geht Richtung Innenstadt, was ein langer Weg ist, da Oesch an der äussersten Peripherie der Stadt wohnt. Immer noch begegnet er keiner Menschenseele, überhaupt keinem Lebewesen, und folglich auch keinen Fahrzeugen. Oesch wird immer deutlicher bewusst, dass wirklich etwas nicht stimmt. Immer noch hofft er auf eine einigermassen einleuchtende Erklärung für den perversen Zustand, in dem sich seine Umwelt ganz offensichtlich befindet, auch wenn er sich eine solche Erklärung ganz und gar nicht vorstellen kann. Jetzt kommt er an einer der Zeitungsboxen vorbei, in denen üblicherweise die Gratiszeitungen liegen, und es liegt auch tatsächlich ein ganzer Stapel Gratiszeitungen in der Box, was ebenfalls unüblich ist um diese Zeit. Er greift sich eine Zeitung, sie kommt ihm bekannt vor, und er sieht auch gleich wieso, es ist nämlich ein Exemplar von gestern, also von Montag, also vom 10. Dezember. Richtig. Er sieht sich bestätigt: 20 Minuten, Exemplar vom Montag, dem 10. Dezember.
Plötzlich scheint es ihm ganz sinnlos, länger der menschenleeren Strasse zu Fuss Richtung Innenstadt zu folgen. Sinnlos und falsch. Plötzlich ergreift ihn siedendheiss die Panik. Er muss sich um seinen Freund und Lebenspartner, um seinen Schützling kümmern, er muss zu Aluk zurück, ihn wecken und gemeinsam mit ihm überlegen, was jetzt zu tun ist, vielleicht findet sich auch eine Erklärung in den Medien, im Fernsehen, im Radio, im Internet, ja, im Internet wird sich eine Erklärung finden, denn im Internet findet man alles. Oesch ändert seine Marschrichtung um 180 Grad; er hastet jetzt, rennt fast, er will möglichst rasch nach Hause zurück. Aus Angst zieht sich sein Unterleib zusammen; er muss unbedingt noch einmal scheissen. Aber in der Wohnung eilt er zuerst nicht auf die Toilette, sondern zum Zimmer von Aluk. Im Zimmer von Aluk ist es Dunkel, die Rollläden sind heruntergelassen, er sieht auf dem Bett von Aluk nur ein schwarzes Bündel, er schwankt zwischen Panik und Hoffnung, Aluk, sagt er mit rauer Stimme, Darling, wach auf – da merkt er, dass das schwarze Bündel auf dem Bett lediglich die Bettdecke von Aluk ist, dass von Aluk selbst aber jede Spur fehlt.
Hektisch sucht Oesch die ganze Wohnung ab, es ist ja schon vorgekommen, dass Aluk sich versteckt hat, um Oesch bei dessen Heimkehr zu erschrecken oder zu foppen, aber es ist ihm eigentlich schon klar, dass Aluk sich ebenfalls wie alle anderen in Luft aufgelöst hat oder was sonst auch immer, jedenfalls für den Moment verschwunden und somit ein Teil des Rätsels geworden ist, zu welchem sich Oeschs Leben seit heute morgen beim Aufwachen gewandelt hat.
Einen kurzen Moment lang überlegt Oesch, dass er vielleicht noch immer träumt, nämlich wach geworden und dann in dieses Schlamassel geraten zu sein, aber er entscheidet sich relativ rasch dafür, dass das nicht möglich sei, denn er fühlt sich entschieden wach, so, wie er sich immer fühlt, wenn er wach ist. Anderseits erinnert er sich natürlich schon daran, manchmal darüber gegrübelt zu haben, ob er etwas jetzt tatsächlich erlebt oder nur geträumt hat. Aber diese Unsicherheiten dauerten immer nur einen Moment, und jetzt ist er seit mindestens einer Stunde in diesem Wachheitszustand. Nein, ein Traum kann das nicht sein. Er erinnert sich an seinen Vorsatz, die Realität mittels Medien abzuchecken. Er macht den Fernseher an. Normales Frühstücksfernsehen. Nachrichten, jetzt News genannt. Die News von Montag, dem 10. Dezember... Oesch erstarrt. 10. Dezember? Aber heute ist doch eindeutig der 11. Dezember, ein erneuter Blick auf die Datumsanzeige des Handys bestätigt den Befund, ausserdem ist ganz sicher nicht Montag, denn Montag war gestern, und was für einer, ein beschissener nämlich mit jeder Menge Ärger, also daran erinnert sich genau, er ist doch nicht blöd. Ich bin doch nicht blöd, sagt er laut und ahmt die Stimme aus der Fernsehwerbung nach. Aber warum bringen denn die jetzt noch einmal die News von gestern? Gottverdammte Scheisse!
Oesch fährt seinen Mac, einen alten Power Mac G5, hoch. Er schwitzt, und gleichzeitig ist ihm kalt. In seinen Gedärmen rumort es. Er startet den Firefox, öffnet die Seite von tagesanziger.ch. Montag, 10. Dezember 2010 steht da, letztes Update 09.30 Uhr. Ein Bombenanschlag in Stockholm, Deutschland wünscht sich die D-Mark zurück, Barack Obama... Höchsttemperaturen 2 Grad, das Wetter vom 11. Dezember, das könnte etwa stimmen, bewölkt ist es auch, in der zweiten Wochenhälfte wird es deutlich kälter, aber nichts von einer Kathastrophe, die eingetreten ist oder noch eintreffen wird, vom 10. Dezember aus gesehen. Auch der Blick tut so, als wäre immer noch der 10. Dezember, Islamist sprengt sich in die Luft, ein gewesener Parteipräsident bezeichnet die kommende Bundespräsidentin als «stutenbissige Musterschülerin», auf CNN ist es ebenfalls noch december 10 oder seit december 10 0748 GMT nichts mehr geupdated worden, dasselbe Bild bei NZZ Online, bei der Frankfurter Allgemeinen («Wir Deutschen sollen noch mehr zahlen», Mutti Merkel unter einem Plastikregenschirm), bei der Herald Tribune («China’s Army of Graduates sStruggles für Good Jobs»), bei der Sunday Times («The New Tower of London», «Commissioner indicated to Charles and Camilla that he was ready to resign for putting their lives at risk in the tuition fee riots»), bie «Le Monde», beim «Corriere della Sera», bei «El Pais», bei der «Times od India», beim «Sydney Morning Herald», bei «The Mail & Guardian», bei «Globo», bei «The Jakarta Post», beim «Tokyo Journal»...
Nein, das brachte nichts. Irgendwie war die Zeit aus den Fugen geraten, seine, Oeschs Zeit, und die seiner Umgebung. Irgendwie war er aus der Zeit katapuliert worden in die Zukunft, die einzig und allein für ihn, Oesch, nun die Gegenwart war, während sie offenbar für alle anderen die Zukunft blieb. Nur so, so wirr und vage, konnte sich Oesch seine gegenwärtige Lage erklären. Und für sich den ebenso vagen Wunsch formulieren, die vage Hoffnung, wieder in die «richtige» Zeit, die Zeit aller anderen, zurückzufinden. Aber wie?
Samstag, 18. Dezember 2010
Sonntag, 24. Oktober 2010
"...or I'll simply be a drop of rain/but I will remain..."
Willie Nelson, Johnny Cash, Kris Kristofferson: Highway Man
Der Schweigegott
"Ich setzte das Schweigen, zu dem ich meine Gedanken sandte, Gott gleich. Ich gewöhnte mich daran, dass er keine Antwort gab, und erwartete auch keine mehr. Der Schweigegott war jetzt nicht mehr die Leere, das Nichts - sondern eine Kraft. Ich lieferte mich ihr aus und vermeinte zu spüren, dass sie etwas auf mich übertrug, Ohne es zu wissen, machte ich religiöse Erfahrungen und überwand dadurch den Zustand der Bodenlosigkeit."
Gerhard Roth, Das Alphabet der Zeit
Gerhard Roth, Das Alphabet der Zeit
Dienstag, 12. Oktober 2010
Das gierige Hirn
Mein Hirn – nein, das kann man nicht so formulieren. Mein Hirn gehört mir nicht, es gehört höchstens sich selbst oder dem Bewusstsein, das es produziert. Wenn schon, müsste es vielleicht eher heissen: Ich, das Hirn. Aber auch diese Formulierung kann nicht recht überzeugen, schliesslich ist dieses „Ich“ ein jämmerliches Kerlchen, von dem man wenig weiss und nicht mal sicher, ob es überhaupt existiert. Also: Nicht mein Hirn, sondern: das Hirn. Das Hirn, es will und will. Es will beschäftigt, stimuliert werden. Es braucht Nahrung, es braucht Sinneseindrücke, es braucht Schlaf, es will Sex, es will vergessen, es will sich erinnern, es will immer mehr, dann will es gar nichts mehr, es ist überdrüssig, es ist überstimuliert, es ist überwach, es ist müde, es leidet an Hyperaktivität, es leidet an Überfluss, es leidet an Mangel, es leidet an sich selbst, es will leiden, es will Erkenntnis, es will Sinn, es will Erleuchtung, es will Drogen, es will bittere Bananen, es will kiffen und saufen, es will huren und fluchen, es will quälen und morden, es will aber auch bereuen und sich schuldig fühlen, es will Vergebung und Rache, es will alles und nichts, aber alles kann es nicht bekommen kann und nichts erst recht nicht.
Zivilisation ist die Trockenlegung der Feuchtgebiete des Gehirns, des Sumpfgebietes der Psyche, des Schlamms und des Moors der Psyche, dem wie Blasen der bewusste Gedanke entsteigt, das blubbert und köcherlt nur so vor sich hin in dieser Ursuppe, diesem riesigen Meer der Illusion und der Verschleierung der wahren Tatsachen, die das Hirn nicht erkennen kann, weil es sich im Grunde immer nur selber bespiegelt, um nicht zu sagen bespitzelt.
Das Hirn, denkt das Hirn, macht sich selber verrückt: es ist wie der Hund, der vergeblich seinen eigenen Schwanz jagt.
Zivilisation ist die Trockenlegung der Feuchtgebiete des Gehirns, des Sumpfgebietes der Psyche, des Schlamms und des Moors der Psyche, dem wie Blasen der bewusste Gedanke entsteigt, das blubbert und köcherlt nur so vor sich hin in dieser Ursuppe, diesem riesigen Meer der Illusion und der Verschleierung der wahren Tatsachen, die das Hirn nicht erkennen kann, weil es sich im Grunde immer nur selber bespiegelt, um nicht zu sagen bespitzelt.
Das Hirn, denkt das Hirn, macht sich selber verrückt: es ist wie der Hund, der vergeblich seinen eigenen Schwanz jagt.
Samstag, 11. September 2010
Eine Frage des Standpunkts
Letztlich ist alles eine Frage des Standpunkts. Wir sind eingeschlossen in die Schreckenskammer unserer Determiniertheit. Wir beurteilen alles von der Warte unserer Geprägtheit aus. Das ist gewiss eine banale Erkenntnis, aber eine Erkenntnis, die wahrlich keine Konsequenzen hat. Niemand zieht seine Schlüsse daraus - und schon gar nicht leitet jemand daraus konkrete Folgen für sein persönliches Lebens ab. Ich übrigens auch nicht.
Aber zumindest ahne ich, dass ich nicht recht habe, dass "Wahrheit" eine Illusion ist. Es gibt keine Wahrheit, nur subjektive Standpunkte.
Aber wie kann man so leben?
Leben kann man so schon, aber man kann nicht funktionieren. Es ist eine Lebenshaltung, die man sich allenfalls in dieser Radikalität kurz vor dem Ableben leisten kann.
Ein Erfolgsrezept kann man als leidlich gesunder Mensch schwerlich daraus ableiten.
Was folgt daraus? Allenfalls schaffst du es, als Komödiant über die Runde zu kommen. Aber du musst gut sein, Schlitzohr. Sonst glaubt dir keiner, woran du selbst zweifelst.
Aber zumindest ahne ich, dass ich nicht recht habe, dass "Wahrheit" eine Illusion ist. Es gibt keine Wahrheit, nur subjektive Standpunkte.
Aber wie kann man so leben?
Leben kann man so schon, aber man kann nicht funktionieren. Es ist eine Lebenshaltung, die man sich allenfalls in dieser Radikalität kurz vor dem Ableben leisten kann.
Ein Erfolgsrezept kann man als leidlich gesunder Mensch schwerlich daraus ableiten.
Was folgt daraus? Allenfalls schaffst du es, als Komödiant über die Runde zu kommen. Aber du musst gut sein, Schlitzohr. Sonst glaubt dir keiner, woran du selbst zweifelst.
Sonntag, 5. September 2010
Schicksal oder Zufall
Mein Leben ist immer so verlaufen, wie es wollte. Es hat sich meinem Willen entzogen. Ich war nicht sein Herr. Ich bin nicht sein Herr. Und ich werde nicht sein Herr sein. Allenfalls und eher noch seine Dame. Ich bin die Dame meines Schicksals. Klingt doch nicht übel, oder?
Insofern ist der heutige Machbarkeitswahn, der allerorten Urständ feiert, für mich ein Witz. Ein modernes Märchen. Aber kein sehr erbauliches. Ein ziemlich jämmerliches sogar. Eine Blähung des Zeitgeistes, sozusagen. Ein Furz der Effizienzhuberei, eine unsichtbare Hand des freien Marktes. Eine späte und ziemlich ungeniessbare Frucht des Fortschrittglaubens etc. etc.
Glaubt nicht den Worten der Politiker, meine Brüder und Schwestern, auch nicht der Politikerinnen, auch nicht dem grimmig positiv gestimmten Unternehmertum, das behauptet, jeder sei seines Glückes Schmid.
Ich behaupte: Schicksal. Oder Zufall. Oder beides. Oder was auch immer.
Nein, wir haben es nicht in der Hand, unser Glück.
Glaubt nicht den Vernünftigen, hört auf die Dichter.
Zum Beispiel auf Paul Auster. In seinem Buch "Nacht des Orakels" geht es um den Zufall. Oder um das Schicksal. Und darum, dass es keinen Ausweg gibt. Am Ende landen wir in einem geschlossenen Raum unter der Erde, die Tür ist zu, und wir haben den Schlüssel draussen vergessen, aus Tüteligkeit oder weil es eben so sein musste. Oder hören wir auf Kafka und seine Strafkolonie. Und auf seine Strasse, die stets enger wird, zum Weg und schliesslich zum Pfad, während gleichzeitig die Mauern links und rechts immer höher werden.
Hört mir doch auf mit diesem idiotischen positiven In-die-Zukunft-Schauen. Die Verkennung der Realität, das Ausschliessen all dessen, was uns an Hilflosigkeit, Hinfälligkeit, Krankheit und Tod erinnern könnte, aus dem öffentlichen Bewusstsein, hat etwas ausgesprochen Würdeloses. Etwas Kindisches wie die idiotische politische Korrektheit, die die deftigen Realitäten des Daseins aussperren will, oder einsperren, oder vielmehr eliminieren.
Buddha konnte nicht erleuchtet werden, als man sein Bewusstsein einsperren respektive die Realität von seinem Bewusstsein aussperren wollte. Als behüteter Prinz konnte er nicht erkennen. Er war unglücklich, weil er vom Leben abgetrennt war, weil er aus dem Leben ausgesperrt war. Ohne Leiden gibt es keine Erkenntnis und damit auch keine Freiheit.
Wir sind weniger als Hauch, ein Darmwind angesichts der wahren Dimensionen der Zeit und des Raums. Unsere einzige Chance, uns ein wenig Respekt zu verschaffen, besteht vielleicht darin, unsere absolute Bedeutungslosigkeit zu erkennen. Wenn wir es zulassen, kännen wir allenfalls ein klitzekleiner Teil des Ganzen sein.
Darin läge dann eventuell auch ein bisschen Glück.
Insofern ist der heutige Machbarkeitswahn, der allerorten Urständ feiert, für mich ein Witz. Ein modernes Märchen. Aber kein sehr erbauliches. Ein ziemlich jämmerliches sogar. Eine Blähung des Zeitgeistes, sozusagen. Ein Furz der Effizienzhuberei, eine unsichtbare Hand des freien Marktes. Eine späte und ziemlich ungeniessbare Frucht des Fortschrittglaubens etc. etc.
Glaubt nicht den Worten der Politiker, meine Brüder und Schwestern, auch nicht der Politikerinnen, auch nicht dem grimmig positiv gestimmten Unternehmertum, das behauptet, jeder sei seines Glückes Schmid.
Ich behaupte: Schicksal. Oder Zufall. Oder beides. Oder was auch immer.
Nein, wir haben es nicht in der Hand, unser Glück.
Glaubt nicht den Vernünftigen, hört auf die Dichter.
Zum Beispiel auf Paul Auster. In seinem Buch "Nacht des Orakels" geht es um den Zufall. Oder um das Schicksal. Und darum, dass es keinen Ausweg gibt. Am Ende landen wir in einem geschlossenen Raum unter der Erde, die Tür ist zu, und wir haben den Schlüssel draussen vergessen, aus Tüteligkeit oder weil es eben so sein musste. Oder hören wir auf Kafka und seine Strafkolonie. Und auf seine Strasse, die stets enger wird, zum Weg und schliesslich zum Pfad, während gleichzeitig die Mauern links und rechts immer höher werden.
Hört mir doch auf mit diesem idiotischen positiven In-die-Zukunft-Schauen. Die Verkennung der Realität, das Ausschliessen all dessen, was uns an Hilflosigkeit, Hinfälligkeit, Krankheit und Tod erinnern könnte, aus dem öffentlichen Bewusstsein, hat etwas ausgesprochen Würdeloses. Etwas Kindisches wie die idiotische politische Korrektheit, die die deftigen Realitäten des Daseins aussperren will, oder einsperren, oder vielmehr eliminieren.
Buddha konnte nicht erleuchtet werden, als man sein Bewusstsein einsperren respektive die Realität von seinem Bewusstsein aussperren wollte. Als behüteter Prinz konnte er nicht erkennen. Er war unglücklich, weil er vom Leben abgetrennt war, weil er aus dem Leben ausgesperrt war. Ohne Leiden gibt es keine Erkenntnis und damit auch keine Freiheit.
Wir sind weniger als Hauch, ein Darmwind angesichts der wahren Dimensionen der Zeit und des Raums. Unsere einzige Chance, uns ein wenig Respekt zu verschaffen, besteht vielleicht darin, unsere absolute Bedeutungslosigkeit zu erkennen. Wenn wir es zulassen, kännen wir allenfalls ein klitzekleiner Teil des Ganzen sein.
Darin läge dann eventuell auch ein bisschen Glück.
Montag, 23. August 2010
Berufliche Patchwork-Existenzen – schöne oder schreckliche neue Arbeitswelt?
Die Zeit der lebenslangen Beschäftigung in einem Beruf ist vorbei – von der lebenslangen Beschäftigung in einem Betrieb ganz zu schweigen. Das, was man „berufliche Patchwork-Existenz“ nennen könnte – das Nach- und Nebeneinander von selbstständigen und unselbstständigen Erwerbsformen, der Zweit- und Drittberuf, ehrenamtliche Tätigkeiten, Arbeit auf Zeit, Arbeit auf Abruf, Teilzeitarbeit und Teilselbstständigkeit inklusive Kinderbetreuung und Hausarbeit – wird immer mehr zur alltäglichen Realität. Die Frage ist nur: Führen diese neuen, flexiblen Formen des Arbeitens zu grösserer Freiheit und Selbstverwirklichung - oder doch eher zu einer prekären beruflichen Existenz am sozialen und finanziellen Abgrund?
Der Begriff „Prekarisierung“ beschreibt die stetige Zunahme der Zahl von Arbeitsplätzen mit wenig (Einkommens-)Sicherheit. Mit einer prekären Beschäftigung kann man kaum seinen Lebensunterhalt verdienen und sich schon gar nicht auf Dauer sozial absichern. Eine homogene Klasse wie ehedem das Proletariat ist das „Prekariat“ aber nicht: Vom Arbeiter ohne Schulabschluss bis zum Privatdozenten sind viele Gruppen vertreten. Auch Radiojournalismus, früher mal ein Traumjob, kann ins „Prekariat“ führen: In der Deutschschweiz liegt das Durchschnittseinkommen dieser Branche gerade mal bei 3300 Franken. Minijobs, Zeitarbeit und Dauerpraktika schufen moderne Tagelöhner. Dies hat Auswirkungen auf die Mittelschicht: sie wird seit Jahren kleiner und ihre Vertreter steigen eher ab als auf ("Abwärtsmobilität").
Die Probleme des Prekariats sind primär organisatorischer Natur, verursacht dadurch, dass das soziale Netz noch nicht den neuen ökonomischen Realitäten angepasst worden ist. Der Arbeitsplatz als solcher, egal, ob in der Fabrik oder im Büro, ist prekär, unsicher geworden. Die rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik haben zu einem wachsenden Bedarf an hoch spezialisierten Fachkräften geführt – aber auch zu einem entsprechend geringeren Bedarf an Unspezialisierten. Dies erhöht die Prekarität der Arbeitssituation der sogenannten Unterschicht zusätzlich. Einfache Arbeit ist nichts mehr wert, weil irgendwo auf der Welt immer noch billiger produziert werden kann. Bereits ist zur Kennzeichnung der sozialen Position der grössten Verliererinnen und Verlierer dieser Entwicklung ein neuer Begriff kreiert worden: das „abgehängte Prekariat“ – Menschen, die mit den neuen Realitäten des Arbeitsmarkts nur schlecht klarzukommen.
Flexibilisierungsstrategien im Arbeitsmarkt schliessen neben der flexiblen Gestaltung der zeitlichen Dimension von Arbeit wie Gleitzeit-, Teilzeit-, Temporärarbeit, Jobsharing usw. Veränderungen ihrer räumlichen, biografischen, funktionellen sowie lohnbezogenen Dimensionen ein. Stichworte dazu sind Tele- und Heimarbeit, flexibler Berufsausstieg, Laufbahnunterbrechung, verlängerte Lebensarbeitszeit, Outsourcing, Arbeit auf Abruf, Leistungslöhne, Boni und Aktienoptionen.
Modernisierungsgewinne und -verluste
Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse und berufliche Patchwork-Existenzen werden wohl zu beidem führen, zu „Modernisierungsgewinnen“ und „-verlusten“. Man kennt in der Psychologie den Begriff der Selbstwirksamkeit, der ein wichtiger Indikator dafür ist, ob sich jemand gesund und zufrieden fühlt. Erlebt jemand eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse als Gestaltungsraum, über den er oder sie (mehr oder weniger) frei verfügen kann, dann empfindet er/sie das als eine Zunahme an Selbstwirksamkeit und damit an subjektivem Wohlbefinden und an Glück. Sind mit einer solchen Flexibilisierung aber Gefühle der Ohnmacht, der Verunsicherung und der Existenzangst verbunden, dann wird sie im Gegenteil als Verlust von Selbstwirksamkeit erlebt und damit als Verlust von Lebensqualität. Es ist nicht „nur“ die Unsicherheit der materiellen Existenzgrundlage, die diese diffuse Angst provoziert; ebenso droht stets die Möglichkeit eines Status- und damit auch eines teilweisen Identitätsverlusts.
Ob es für den Einzelnen eher in die eine oder die andere Richtung gehen wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab:
- primär von seiner Ausbildung und seiner Herkunft
- von seiner Bildung und seiner Fähigkeit zum „Wissenmanagement“
- von seinem Alter
- von den familiäre Verhältnissen, in denen er lebt
- von seiner persönlichen Einstellung einer „offenen“/unsicheren Zukunft gegenüber
- von seinem Gesundheitszustand
Das positive Bild der „Zukunft der Arbeit“ entspricht für eine Minderheit von Menschen durchaus bereits der Wirklichkeit. Für diese sogenannten Wissensarbeiter/-innen, zu denen Manager, Beraterinnen und Wissenschaftler gehören, bedeuten Entgrenzungsprozesse meist ein Zugewinn an Freiheit, da sie in der Lage sind, eigene Normen aufzustellen und meist auch die Verhandlungsposition besitzen, diese durchzusetzen.
Anders zeigt sich die Situation am anderen Ende der Skala, bei den schlecht ausgebildeten und unqualifizierten Arbeitnehmerinnen und -nehmern. Die starke psychische Verunsicherung dieser Gruppe durch schwindende Arbeitsplatzsicherheit resultiert aus der zunehmenden Verwundbarkeit dieser Arbeitnehmer. Die Arbeitsbedingungen in den so genannten Entwicklungsländern vermitteln einen Eindruck davon, wie eine Arbeitswelt mit fehlender Durchsetzung von Arbeitsnormen und Rechten der Arbeitnehmer aussieht. Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse in dieser Form erfüllen zwar ihre Rolle als „Puffer“ der Globalisierung, die soziale Zeche bezahlen zunächst aber die Beschäftigten dieses „informellen Sektors“ allein. Dass sich bei jedem längeren Ampelstopp eine Horde von Scheibenputzern auf die wartenden Autos stürzte, war früher ein sicherer Hinweis darauf, dass man sich in der Metropole eines „Entwicklungslandes“ befand; heute ist dies auch in europäischen Grossstädten wie Berlin der Fall.
Bei der Mittelschicht, die von der eingangs erwähnten „Abwärtsmentatlität“ betroffen ist und unter denen sich durchaus auch gut ausgebildete „WissenarbeiterInnen“ befinden, sind die Erfahrungen mit flexibilisierten Arbeitsverhältnissen wohl eher ambivalent. Abhängig von Alter, Branche und Persönlichkeit, erleben sie die Entwicklung mal eher als grössere Gestaltungsfreiheit, mal eher als grössere Unsicherheit. Für jemanden, der keinen Job mehr findet, weil er zu alt ist oder den „falschen“ Beruf hat, reduziert sich die Wahlfreiheit allerdings auf den unfreiwilligen Gang zur Regionalen Arbeitsvermittlungsstelle und später zum Sozialamt.
Was tun gegen die negativen Folgen?
Massnahmen zur Verbesserung der Situation des „Prekariats“ verlangen nach einer Reform der öffentlichen Versicherungen, des Steuerwesens und der Arbeitslosenversicherungen. Um dem Prekariatsbetroffenen zu helfen, muss die Frage beantwortet werden, wie der Staat für die soziale Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger besorgt sein soll und welche Gegenleistung diese dafür zu erbringen haben. Auch die Altersvorsorge ist nicht auf die Gegebenheiten einer sich wandelnden Arbeitsgesellschaft eingestellt: Die „armen Alten“ von morgen sind die Langzeitarbeitslosen, erfolglosen Selbstständigen und Kleinstverdiener von heute.
Die Schaffung eines existenzsichernden Bürgergeldes oder garantierten Grundeinkommen ist zwar keine neue Idee, aber in dieser Frage vielleicht ein bedenkenswerter Lösungsansatz: Er würde bei den meisten Menschen zu einer «Mischarbeit» führen, die sich aus normaler Erwerbsarbeit, Gemeinschaftsarbeit und Versorgungsarbeit zusammensetzen könnte. Der Zeitanteil, der für Erwerbsarbeit genutzt würde, ginge insgesamt stark zurück – klassische Arbeitslosigkeit wäre wohl kaum noch ein Thema. Um das Bürgergeld zu finanzieren, müsste sich der Staat aus vielen Bereichen der Versorgung zurückziehen; dies würde aber durch den Anstieg von Gemeinschafts- und Versorgungsarbeit mehr als kompensiert. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich sagt dazu: „Wer Bürger eines Landes und volljährig ist, hätte Anspruch auf ein solches Grundeinkommen. Wie weit er darüber hinaus noch erwerbstätig sein möchte, bliebe ihm überlassen. Wer Kinder aufzieht, würde zusätzlich zum Beispiel ein halbes Grundeinkommen pro Kind bekommen.“ Dem Einwand, dass die Menschen dann womöglich keine Motivation mehr hätten, zu arbeiten, begegnet Ulrich mit dem Argument, dass nur die Kombination von Grund- und Erwerbseinkommen einen hohen Lebensstandard ermöglichen würde. Zudem bedeute die Erwerbsarbeit für die meisten Menschen weit mehr als nur Einkommen, nämlich innere Erfüllung und Selbstwertgefühl. Das Grundeinkommen dürfte allerdings nicht zu hoch sein, damit der Anreiz, eine Erwerbsarbeit anzunehmen, nicht allzu gering wäre. Es dürfte aber auch nicht zu tief sein – sonst würden weiterhin fast alle in den Arbeitsmarkt drängen. Es käme also darauf an, Grundeinkommen und Lohnanreize so auszubalancieren, dass weder Arbeitslosigkeit noch Arbeitskräftemangel daraus resultieren würde.
„Flexicurity“
„Flexicurity“ lautet das Zauberwort der Vertreter einer sozial abgesicherten Flexibilisierung, die überzeugt sind, dass in Zukunft Arbeitsmärkte weiter flexibilisiert werden müssen, wenn Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden sollen. Dies erfordere jedoch eine Weiterentwicklung des bisherigen Instrumentariums der sozialen Sicherung. Soziale Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit würden sich in einem neuen Gleichgewicht weiterentwickeln lassen und müssten nicht als gegensätzliche Interessen betrachtet werden. Zu den Elementen einer sogenannten "Flexicurity-Strategie" gehören derzeit die Schaffung von Übergangsarbeitsmärkten, die Instrumente einer beschäftigungssichernden Arbeitszeitpolitik und das Konzept des lebenslangen Lernens. Übergangsarbeitsmärkte versuchen, fliessende Übergänge zwischen Beschäftigung und Nicht-Beschäftigung zu schaffen. Sie sollten tarifvertraglich oder gesetzlich abgesichert sein und niedrige und unstetige Einkommen mit Sozialtransfers kombinieren.
„Flexicurity“ steht nicht grundsätzlich im Widerspruch zum Bürgergeld, klingt im Moment aber noch etwas gar vage und damit nach Absichtserklärung und gutem Willen. Weil es im Interesse der ganzen Gesellschaft liegt, dass sich soziale Konflikte in Zukunft nicht (wieder) zuspitzen, wäre es nötig, den Begriff mit Leben zu füllen. Eine Zweiklassengesellschaft kann auch nicht im Interesse jener sein, die sich auf der sicheren Seite wähnen. Der Arbeitsmarkt der Zukunft ist eine Herausforderung, die alle Beteiligten betrifft.
Der Begriff „Prekarisierung“ beschreibt die stetige Zunahme der Zahl von Arbeitsplätzen mit wenig (Einkommens-)Sicherheit. Mit einer prekären Beschäftigung kann man kaum seinen Lebensunterhalt verdienen und sich schon gar nicht auf Dauer sozial absichern. Eine homogene Klasse wie ehedem das Proletariat ist das „Prekariat“ aber nicht: Vom Arbeiter ohne Schulabschluss bis zum Privatdozenten sind viele Gruppen vertreten. Auch Radiojournalismus, früher mal ein Traumjob, kann ins „Prekariat“ führen: In der Deutschschweiz liegt das Durchschnittseinkommen dieser Branche gerade mal bei 3300 Franken. Minijobs, Zeitarbeit und Dauerpraktika schufen moderne Tagelöhner. Dies hat Auswirkungen auf die Mittelschicht: sie wird seit Jahren kleiner und ihre Vertreter steigen eher ab als auf ("Abwärtsmobilität").
Die Probleme des Prekariats sind primär organisatorischer Natur, verursacht dadurch, dass das soziale Netz noch nicht den neuen ökonomischen Realitäten angepasst worden ist. Der Arbeitsplatz als solcher, egal, ob in der Fabrik oder im Büro, ist prekär, unsicher geworden. Die rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik haben zu einem wachsenden Bedarf an hoch spezialisierten Fachkräften geführt – aber auch zu einem entsprechend geringeren Bedarf an Unspezialisierten. Dies erhöht die Prekarität der Arbeitssituation der sogenannten Unterschicht zusätzlich. Einfache Arbeit ist nichts mehr wert, weil irgendwo auf der Welt immer noch billiger produziert werden kann. Bereits ist zur Kennzeichnung der sozialen Position der grössten Verliererinnen und Verlierer dieser Entwicklung ein neuer Begriff kreiert worden: das „abgehängte Prekariat“ – Menschen, die mit den neuen Realitäten des Arbeitsmarkts nur schlecht klarzukommen.
Flexibilisierungsstrategien im Arbeitsmarkt schliessen neben der flexiblen Gestaltung der zeitlichen Dimension von Arbeit wie Gleitzeit-, Teilzeit-, Temporärarbeit, Jobsharing usw. Veränderungen ihrer räumlichen, biografischen, funktionellen sowie lohnbezogenen Dimensionen ein. Stichworte dazu sind Tele- und Heimarbeit, flexibler Berufsausstieg, Laufbahnunterbrechung, verlängerte Lebensarbeitszeit, Outsourcing, Arbeit auf Abruf, Leistungslöhne, Boni und Aktienoptionen.
Modernisierungsgewinne und -verluste
Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse und berufliche Patchwork-Existenzen werden wohl zu beidem führen, zu „Modernisierungsgewinnen“ und „-verlusten“. Man kennt in der Psychologie den Begriff der Selbstwirksamkeit, der ein wichtiger Indikator dafür ist, ob sich jemand gesund und zufrieden fühlt. Erlebt jemand eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse als Gestaltungsraum, über den er oder sie (mehr oder weniger) frei verfügen kann, dann empfindet er/sie das als eine Zunahme an Selbstwirksamkeit und damit an subjektivem Wohlbefinden und an Glück. Sind mit einer solchen Flexibilisierung aber Gefühle der Ohnmacht, der Verunsicherung und der Existenzangst verbunden, dann wird sie im Gegenteil als Verlust von Selbstwirksamkeit erlebt und damit als Verlust von Lebensqualität. Es ist nicht „nur“ die Unsicherheit der materiellen Existenzgrundlage, die diese diffuse Angst provoziert; ebenso droht stets die Möglichkeit eines Status- und damit auch eines teilweisen Identitätsverlusts.
Ob es für den Einzelnen eher in die eine oder die andere Richtung gehen wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab:
- primär von seiner Ausbildung und seiner Herkunft
- von seiner Bildung und seiner Fähigkeit zum „Wissenmanagement“
- von seinem Alter
- von den familiäre Verhältnissen, in denen er lebt
- von seiner persönlichen Einstellung einer „offenen“/unsicheren Zukunft gegenüber
- von seinem Gesundheitszustand
Das positive Bild der „Zukunft der Arbeit“ entspricht für eine Minderheit von Menschen durchaus bereits der Wirklichkeit. Für diese sogenannten Wissensarbeiter/-innen, zu denen Manager, Beraterinnen und Wissenschaftler gehören, bedeuten Entgrenzungsprozesse meist ein Zugewinn an Freiheit, da sie in der Lage sind, eigene Normen aufzustellen und meist auch die Verhandlungsposition besitzen, diese durchzusetzen.
Anders zeigt sich die Situation am anderen Ende der Skala, bei den schlecht ausgebildeten und unqualifizierten Arbeitnehmerinnen und -nehmern. Die starke psychische Verunsicherung dieser Gruppe durch schwindende Arbeitsplatzsicherheit resultiert aus der zunehmenden Verwundbarkeit dieser Arbeitnehmer. Die Arbeitsbedingungen in den so genannten Entwicklungsländern vermitteln einen Eindruck davon, wie eine Arbeitswelt mit fehlender Durchsetzung von Arbeitsnormen und Rechten der Arbeitnehmer aussieht. Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse in dieser Form erfüllen zwar ihre Rolle als „Puffer“ der Globalisierung, die soziale Zeche bezahlen zunächst aber die Beschäftigten dieses „informellen Sektors“ allein. Dass sich bei jedem längeren Ampelstopp eine Horde von Scheibenputzern auf die wartenden Autos stürzte, war früher ein sicherer Hinweis darauf, dass man sich in der Metropole eines „Entwicklungslandes“ befand; heute ist dies auch in europäischen Grossstädten wie Berlin der Fall.
Bei der Mittelschicht, die von der eingangs erwähnten „Abwärtsmentatlität“ betroffen ist und unter denen sich durchaus auch gut ausgebildete „WissenarbeiterInnen“ befinden, sind die Erfahrungen mit flexibilisierten Arbeitsverhältnissen wohl eher ambivalent. Abhängig von Alter, Branche und Persönlichkeit, erleben sie die Entwicklung mal eher als grössere Gestaltungsfreiheit, mal eher als grössere Unsicherheit. Für jemanden, der keinen Job mehr findet, weil er zu alt ist oder den „falschen“ Beruf hat, reduziert sich die Wahlfreiheit allerdings auf den unfreiwilligen Gang zur Regionalen Arbeitsvermittlungsstelle und später zum Sozialamt.
Was tun gegen die negativen Folgen?
Massnahmen zur Verbesserung der Situation des „Prekariats“ verlangen nach einer Reform der öffentlichen Versicherungen, des Steuerwesens und der Arbeitslosenversicherungen. Um dem Prekariatsbetroffenen zu helfen, muss die Frage beantwortet werden, wie der Staat für die soziale Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger besorgt sein soll und welche Gegenleistung diese dafür zu erbringen haben. Auch die Altersvorsorge ist nicht auf die Gegebenheiten einer sich wandelnden Arbeitsgesellschaft eingestellt: Die „armen Alten“ von morgen sind die Langzeitarbeitslosen, erfolglosen Selbstständigen und Kleinstverdiener von heute.
Die Schaffung eines existenzsichernden Bürgergeldes oder garantierten Grundeinkommen ist zwar keine neue Idee, aber in dieser Frage vielleicht ein bedenkenswerter Lösungsansatz: Er würde bei den meisten Menschen zu einer «Mischarbeit» führen, die sich aus normaler Erwerbsarbeit, Gemeinschaftsarbeit und Versorgungsarbeit zusammensetzen könnte. Der Zeitanteil, der für Erwerbsarbeit genutzt würde, ginge insgesamt stark zurück – klassische Arbeitslosigkeit wäre wohl kaum noch ein Thema. Um das Bürgergeld zu finanzieren, müsste sich der Staat aus vielen Bereichen der Versorgung zurückziehen; dies würde aber durch den Anstieg von Gemeinschafts- und Versorgungsarbeit mehr als kompensiert. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich sagt dazu: „Wer Bürger eines Landes und volljährig ist, hätte Anspruch auf ein solches Grundeinkommen. Wie weit er darüber hinaus noch erwerbstätig sein möchte, bliebe ihm überlassen. Wer Kinder aufzieht, würde zusätzlich zum Beispiel ein halbes Grundeinkommen pro Kind bekommen.“ Dem Einwand, dass die Menschen dann womöglich keine Motivation mehr hätten, zu arbeiten, begegnet Ulrich mit dem Argument, dass nur die Kombination von Grund- und Erwerbseinkommen einen hohen Lebensstandard ermöglichen würde. Zudem bedeute die Erwerbsarbeit für die meisten Menschen weit mehr als nur Einkommen, nämlich innere Erfüllung und Selbstwertgefühl. Das Grundeinkommen dürfte allerdings nicht zu hoch sein, damit der Anreiz, eine Erwerbsarbeit anzunehmen, nicht allzu gering wäre. Es dürfte aber auch nicht zu tief sein – sonst würden weiterhin fast alle in den Arbeitsmarkt drängen. Es käme also darauf an, Grundeinkommen und Lohnanreize so auszubalancieren, dass weder Arbeitslosigkeit noch Arbeitskräftemangel daraus resultieren würde.
„Flexicurity“
„Flexicurity“ lautet das Zauberwort der Vertreter einer sozial abgesicherten Flexibilisierung, die überzeugt sind, dass in Zukunft Arbeitsmärkte weiter flexibilisiert werden müssen, wenn Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden sollen. Dies erfordere jedoch eine Weiterentwicklung des bisherigen Instrumentariums der sozialen Sicherung. Soziale Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit würden sich in einem neuen Gleichgewicht weiterentwickeln lassen und müssten nicht als gegensätzliche Interessen betrachtet werden. Zu den Elementen einer sogenannten "Flexicurity-Strategie" gehören derzeit die Schaffung von Übergangsarbeitsmärkten, die Instrumente einer beschäftigungssichernden Arbeitszeitpolitik und das Konzept des lebenslangen Lernens. Übergangsarbeitsmärkte versuchen, fliessende Übergänge zwischen Beschäftigung und Nicht-Beschäftigung zu schaffen. Sie sollten tarifvertraglich oder gesetzlich abgesichert sein und niedrige und unstetige Einkommen mit Sozialtransfers kombinieren.
„Flexicurity“ steht nicht grundsätzlich im Widerspruch zum Bürgergeld, klingt im Moment aber noch etwas gar vage und damit nach Absichtserklärung und gutem Willen. Weil es im Interesse der ganzen Gesellschaft liegt, dass sich soziale Konflikte in Zukunft nicht (wieder) zuspitzen, wäre es nötig, den Begriff mit Leben zu füllen. Eine Zweiklassengesellschaft kann auch nicht im Interesse jener sein, die sich auf der sicheren Seite wähnen. Der Arbeitsmarkt der Zukunft ist eine Herausforderung, die alle Beteiligten betrifft.
Sonntag, 15. August 2010
Songs for Blue hours
Al Green: Aint no sunshine
Alan Parsons Project: The Turn Of A Friendly Card
The Allamn Brothers: Whipping Post
Alvin Lee & Ten Years After: The Bluest Blues
Atomic Rooster; Metal Minds
Audioslave: I Am the Highway
Bad Company: Holy Water
The Beatles: Eleanor Rugby
Ozzy Osbourne: Changes
Blue Oyster Cult: Don't Fear The Reaper
Coldplay: Violet Hill
The Dandy Warhols: Sleep
Dire Straits; Six Blade Knife
Green Day: Boulevard of Broken Dreams
Joe Cocker: First We Take Manhattan
John Mayall; Lying in My Bed
Led Zeppelin: Babe i'm Gonna Leave You
Leonard Cohen: Woke Up this Morning
Lionel Richie: Hello
Marianne Faithful: Guilt
Massive Attack: Dissolved Girl
Nirvana: Come as You Are
Willie Nelson: The Highwayman
to be continued
Dienstag, 6. Juli 2010
Ich bin empört, ja entsetzt
Also was hab ich da gehört: Die Mäusekammer, oder die Ärztekammer der Mausheit, ich weiss nicht mehr genau, hat beschlossen, dass die Amputation von Zehen in Menschenversuchen erlaubt sein soll. Da kann ich nur sagen: ich bin dagegen! Und zwar total. Und zwar radikal! Die armen Menschen! Haben Sie sich schon mal die Zehchen von so frisch geschlüpften Menschenkindern angeschaut? Diese feine Textur! Das ist doch ein Wunder der Natur. Und jetzt sollen diese Zehen für unser Wohlergehen geopfert werden.
Was in der Theorie simpel tönt, war in der Praxis bisher unmöglich. Jetzt leider nicht mehr. Ken Muneoka, Obermaus aus Osaka, bemüht sich seit Monaten, den Regenerationsprozess bei einer Menschenzehe auszulösen, da sie dem Fuss der Maus ähnelt. Eine Knacknuss sind insbesondere die Gelenke; ihre Bildung ist für die Forscher nach wie vor ein Rätsel. «Ich hoffe, dass Mensch und Maus sehr ähnlich sind und wir vielleicht bereits in 10 bis 20 Jahren einen Körperteil des Menschen nachwachsen lassen können», sagt Muneoka. Damit wäre der Heilige Gral der regenerativen Medizin gefunden. Und das ist der Gipfel: Regenerationsforscher liessen dem Menschen ein drittes Bein wachsen.
Wie gesagt: ich bin dagegen. Nieder mit den Menschenversuchen!
Was in der Theorie simpel tönt, war in der Praxis bisher unmöglich. Jetzt leider nicht mehr. Ken Muneoka, Obermaus aus Osaka, bemüht sich seit Monaten, den Regenerationsprozess bei einer Menschenzehe auszulösen, da sie dem Fuss der Maus ähnelt. Eine Knacknuss sind insbesondere die Gelenke; ihre Bildung ist für die Forscher nach wie vor ein Rätsel. «Ich hoffe, dass Mensch und Maus sehr ähnlich sind und wir vielleicht bereits in 10 bis 20 Jahren einen Körperteil des Menschen nachwachsen lassen können», sagt Muneoka. Damit wäre der Heilige Gral der regenerativen Medizin gefunden. Und das ist der Gipfel: Regenerationsforscher liessen dem Menschen ein drittes Bein wachsen.
Wie gesagt: ich bin dagegen. Nieder mit den Menschenversuchen!
Samstag, 3. Juli 2010
Montag, 21. Juni 2010
Ich bin in der richtigen Welt
Ich bin in der falschen Welt aufgewachsen - in dieser Welt. Das heisst: Die Welt ist schon okay, sie ist mehr als okay, sie ist sogar wunderschön. Die Welt ist von einer unbestechlichen, fast grausamen Schönheit, aber die Menschheit - die ist Scheisse. Das heisst, nicht die Menschheit ist Scheisse, nicht die Menschheit, soweit sie Teil der Welt ist, der Natur, des Lebens, des Lebendigen. Aber der mächtige Teil davon, die Menschheit als Machtsystem, die ist von einer abgrundtiefen Hässlichkeit und Verderbtheit. Weil dieses Machtsystem sich durchsetzen und alles kaputt machen kann, die ganze Poesie, die ganze Herrlichkeit der Schöpfung - das korrumpiert die Menschheit als Ganzes. Dass nur das Hässliche, Harte und Grausame erfolgreich ist nach den Massstäben der Menschenwelt, das ist das Traurige. Insofern bin ich in der falschen Welt. Es wäre die richtige Welt, aber diese Welt - eine wehrlose Welt - ist dem Untergang geweiht. Es macht mich unendlich traurig, ein Mensch zu sein. Ich fühle mich schuldig.
Nein, ich möchte nicht wiedergeboren werden - jedenfalls nicht als Mensch. Und ich hoffe, dass Gott den Menschen nicht nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Das wäre der Abgrund der Verzweiflung.
Nein, ich möchte nicht wiedergeboren werden - jedenfalls nicht als Mensch. Und ich hoffe, dass Gott den Menschen nicht nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Das wäre der Abgrund der Verzweiflung.
Sonntag, 13. Juni 2010
Sonntag, 30. Mai 2010
Samstag, 22. Mai 2010
Montag, 17. Mai 2010
Zwei Leben
Ich habe in den letzten Wochen zwei Lebengeschichten gelesen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Die eine, verfasst anfangs der Siebzigerjahre von Golo Mann, ist ein beinahe 1000 Seiten starker Wälzer zum Leben von Wallenstein, Generalissimus des Kaisers von Österreich, Ferdinand II., Herzog von Friedland und Mecklenburg, überragende Figur im dreissigjährigen Krieg und also die Lebensgeschichte eines bedeutenden Menschen. Andererseits die literarische Spurensuche von Markus Werner, der den Lebensstationen seines Ururgrossvaters Heinrich Bluntschli zu folgen versucht und darüber ein schmales Bändchen mit dem Titel „Der ägyptische Heinrich“ publiziert hat, das zum besten gehört, was die neuere Literatur der Schweiz zu bieten hat.
Heinrich war im Gegensatz zu Albrecht, Bluntschli anders als Wallenstein ein ganz gewöhnlicher Mensch und eigentlich das, was man nach den Normen seiner Zeit einen Versager zu nennen pflegte. Allerdings, rollt man die Lebensgeschichten der beiden vom Ende her auf, war Heinrich wahrscheinlich der glücklichere von beiden.
Wallenstein wurde zuletzt, als Verräter diffamiert, der er wahrscheinlich gar nicht war, und selber verraten und verkauft, im äussersten Winkel Böhmens, in Eger, niedergestochen; damals war er bereits seit Jahren chronisch krank, konnte sich wegen der Gicht, die er Podagra nannte, kaum mehr bewegen, litt an Verstopfung, Magenbrennen und wahrscheinlich auch Syphilis.
Überhaupt konnte er seinen Reichtum, den er sich unter mehr oder weniger dubiosen Umständen zusammengerafft hatte und der ebenso schnell zerronnen wie gewonnen war, nie so recht geniessen (er litt im Gegenteil stets unter der Furcht vor Verarmung), und auch Ruhm, Macht und Ehre waren ungetreue Gesellen, deren Freundschaft sich leicht ins Gegenteil verkehrte. Auch scheint es in Wallensteins Leben, folgt man der Beschreibung Golo Manns, wenig Liebe und Platz für weichere Gefühle als solche, die mit Kopfabschlagen, Rauben, Morden und Brandschatzen einhergingen, gegeben zu haben. Es waren eben harten Zeiten, und noch die Glücklichsten unter den Unglücklichen mussten erfahren, was alle Menschen im Zeitalter des Barock als Erkenntnis mit sich ins Grab nehmen durften, nämlich dass das Leben vor allem und in erster Linie Leiden ist, etwas, was die Buddhisten ja auch heute noch behaupten und was sich zu allen Zeiten schwerlich widerlegen lässt.
Am dreissigjährigen Krieg lässt sich sehr schön die Absurdität des menschlichen Daseins belegen, man erkennt aber im Kern der politischen Diskussionen, Entscheidungen und folgenreichen Handlungen jener Zeit das Debattieren, Entscheiden und folgenreiche Handeln unserer heutigen Politiker - insofern lässt sich schon etwas lernen aus der Geschichte.
Betrachtet man die Kriegszüge und Schlachten in der ersten Hälfte es siebzehnten Jahrhunderts, die Feindschaften, die nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Kursfürsten, Herzogen, Königen und Kaisern auf Kosten ihrer Völker ausgetragen wurden, erkennt man kein Muster und keinen Sinn. Irgendwie taktierten und paktierten und intrigierten aus rein egoistischen Gründen (obwohl natürlich edlere Gründe wie etwa der Kampf um die allein wahrhaftige Religion vorgeschoben wurden) alle gegen alle in stets wechselnden Koalitionen, mal die Österreicher mit den Bayern gegen die Norddeutschen und die Schweden, dann wieder die Österreicher mit den Spanier gegen die Franzosen, dann wieder die Bayern mit den Franzosen gegen die Spanier usw. usf., oder eben der österreichische Kaiser gegen den französischen König und dessen Richelieu, Kurfürst Maximilian von Bayern gegen König Gustav Adolf von Schweden etc., und mittendrin unser gichtgeplagter Wallenstein mit seinem gewaltigen, bis 100'000 Mann starken Heer.
Das grösste Problem des damaligen Kriegens waren nicht die Schlachten, von denen es wenige gab und die oft nicht sehr lange dauerten; sie waren zwar grausam und blutig, wurden aber immerhin Mann gegen Mann gefochten. Verheerender war vielmehr, dass die Heere verpflegt werden mussten und sie sich, weil zu ihrem Unterhalt von den Fürsten stets zuwenig finanzielle Mittel aufgebracht werden konnten, anderweitig durch Rauben, Morden, Vergewaltigen und Brandschatzen schadlos hielten. Welche verheerende Wirkung diese Tatsache in einem Krieg, der dreissig Jahre dauerte, für die betroffene Bevölkerung - im Verbund mit Pest und anderen Seuchen - hatte, kann man nur erahnen.
Der Ururgrossvater von Markus Werner (oder seinem literarischen Alter Ego) lebte etwa zweihundert Jahre nach Wallenstein und war ein Zeitgenosse von Gottfried Keller, auf dessen Grünen Heinrich sich Markus Werner mit dem Titel ja auch bezieht. Heinrich Bluntschli, Sohn des trinkfreudigen Pfarrers von Oberurdorf, war offenbar ein eher fantasiebegabtes Kind, das davon träumte, mit Seide zu handeln. Später war er beruflich vor allem eins: erfolglos.
Konsequent setzt der junge Mann, inzwischen verheiratet und mit Kind, ein geschäftliches Unternehmen nach dem andern in den Sand. Er lebt gern auf zu grossem Fuss und träumt lieber, auf dem Strohsack in einer Ecke seines Kontors liegend, von beruflichen Erfolgen, als etwas dafür zu tun. Nein, fleissig ist Heinrich nicht, und auch nicht unbedingt pflichtbewusst – vor den Ansprüchen seiner Familie und seiner Gläubiger entflieht er nach Ägypten, wo er es zum „Postdirektor“ von Isma’ilia, einer Stadt, die beim Timsahsee, einem den Bitterseen vorgelagerten Salzsee, am Sueskanal in der Mitte zwischen Port Said im Norden und Sues im Süden gelegen ist, etwa 120 km von Kairo entfernt. Vielleicht war er auch der Direktor eines Salzbergwerks, ein Bekannter und Mitarbeiter von Ferdinand Lesseps, dem Leiter der Erbauung des Suezkanals, ein Günstling des türkischen Paschas, der damals in Ägypten regierte - man weiss es nicht genau und der Autor, auf Spurensuche in Ägypten, findet es auch nicht heraus.
Sicher ist dagegen, dass dem Heinrich in Ägypten das Liebesglück in Gestalt der jungen und schönen Catherine, mit der er drei oder vier Kinder hat, noch einmal lacht. Wahrscheinlich, so darf spekuliert werden, hat der Träumer und Versager tatsächlich mehr vom Leben gehabt als der erfolgreiche Machtmensch mit den Kisten voller Gold, den Teppichen aus Venezien und den edlen arabischen Pferden.
Zwei Lebensgeschichten, die die Abfolge meiner Lektüre in zufällige Nachbarschaft gebracht hat. Gemeinsam ist ihnen, dass sie literarisch gespiegelt und deshalb hoch verfremdet sind; die Menschen, die hier beschrieben werden, hat es so ganz sicher nicht gegeben. Es sind interpretierte Leben; aber vielleicht sind Biografien nur so zu fassen, als Geschichten, die erzählt werden müssen, damit sie einen Zusammenhang haben und einen Sinn ergeben.
Heinrich war im Gegensatz zu Albrecht, Bluntschli anders als Wallenstein ein ganz gewöhnlicher Mensch und eigentlich das, was man nach den Normen seiner Zeit einen Versager zu nennen pflegte. Allerdings, rollt man die Lebensgeschichten der beiden vom Ende her auf, war Heinrich wahrscheinlich der glücklichere von beiden.
Wallenstein wurde zuletzt, als Verräter diffamiert, der er wahrscheinlich gar nicht war, und selber verraten und verkauft, im äussersten Winkel Böhmens, in Eger, niedergestochen; damals war er bereits seit Jahren chronisch krank, konnte sich wegen der Gicht, die er Podagra nannte, kaum mehr bewegen, litt an Verstopfung, Magenbrennen und wahrscheinlich auch Syphilis.
Überhaupt konnte er seinen Reichtum, den er sich unter mehr oder weniger dubiosen Umständen zusammengerafft hatte und der ebenso schnell zerronnen wie gewonnen war, nie so recht geniessen (er litt im Gegenteil stets unter der Furcht vor Verarmung), und auch Ruhm, Macht und Ehre waren ungetreue Gesellen, deren Freundschaft sich leicht ins Gegenteil verkehrte. Auch scheint es in Wallensteins Leben, folgt man der Beschreibung Golo Manns, wenig Liebe und Platz für weichere Gefühle als solche, die mit Kopfabschlagen, Rauben, Morden und Brandschatzen einhergingen, gegeben zu haben. Es waren eben harten Zeiten, und noch die Glücklichsten unter den Unglücklichen mussten erfahren, was alle Menschen im Zeitalter des Barock als Erkenntnis mit sich ins Grab nehmen durften, nämlich dass das Leben vor allem und in erster Linie Leiden ist, etwas, was die Buddhisten ja auch heute noch behaupten und was sich zu allen Zeiten schwerlich widerlegen lässt.
Am dreissigjährigen Krieg lässt sich sehr schön die Absurdität des menschlichen Daseins belegen, man erkennt aber im Kern der politischen Diskussionen, Entscheidungen und folgenreichen Handlungen jener Zeit das Debattieren, Entscheiden und folgenreiche Handeln unserer heutigen Politiker - insofern lässt sich schon etwas lernen aus der Geschichte.
Betrachtet man die Kriegszüge und Schlachten in der ersten Hälfte es siebzehnten Jahrhunderts, die Feindschaften, die nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Kursfürsten, Herzogen, Königen und Kaisern auf Kosten ihrer Völker ausgetragen wurden, erkennt man kein Muster und keinen Sinn. Irgendwie taktierten und paktierten und intrigierten aus rein egoistischen Gründen (obwohl natürlich edlere Gründe wie etwa der Kampf um die allein wahrhaftige Religion vorgeschoben wurden) alle gegen alle in stets wechselnden Koalitionen, mal die Österreicher mit den Bayern gegen die Norddeutschen und die Schweden, dann wieder die Österreicher mit den Spanier gegen die Franzosen, dann wieder die Bayern mit den Franzosen gegen die Spanier usw. usf., oder eben der österreichische Kaiser gegen den französischen König und dessen Richelieu, Kurfürst Maximilian von Bayern gegen König Gustav Adolf von Schweden etc., und mittendrin unser gichtgeplagter Wallenstein mit seinem gewaltigen, bis 100'000 Mann starken Heer.
Das grösste Problem des damaligen Kriegens waren nicht die Schlachten, von denen es wenige gab und die oft nicht sehr lange dauerten; sie waren zwar grausam und blutig, wurden aber immerhin Mann gegen Mann gefochten. Verheerender war vielmehr, dass die Heere verpflegt werden mussten und sie sich, weil zu ihrem Unterhalt von den Fürsten stets zuwenig finanzielle Mittel aufgebracht werden konnten, anderweitig durch Rauben, Morden, Vergewaltigen und Brandschatzen schadlos hielten. Welche verheerende Wirkung diese Tatsache in einem Krieg, der dreissig Jahre dauerte, für die betroffene Bevölkerung - im Verbund mit Pest und anderen Seuchen - hatte, kann man nur erahnen.
Der Ururgrossvater von Markus Werner (oder seinem literarischen Alter Ego) lebte etwa zweihundert Jahre nach Wallenstein und war ein Zeitgenosse von Gottfried Keller, auf dessen Grünen Heinrich sich Markus Werner mit dem Titel ja auch bezieht. Heinrich Bluntschli, Sohn des trinkfreudigen Pfarrers von Oberurdorf, war offenbar ein eher fantasiebegabtes Kind, das davon träumte, mit Seide zu handeln. Später war er beruflich vor allem eins: erfolglos.
Konsequent setzt der junge Mann, inzwischen verheiratet und mit Kind, ein geschäftliches Unternehmen nach dem andern in den Sand. Er lebt gern auf zu grossem Fuss und träumt lieber, auf dem Strohsack in einer Ecke seines Kontors liegend, von beruflichen Erfolgen, als etwas dafür zu tun. Nein, fleissig ist Heinrich nicht, und auch nicht unbedingt pflichtbewusst – vor den Ansprüchen seiner Familie und seiner Gläubiger entflieht er nach Ägypten, wo er es zum „Postdirektor“ von Isma’ilia, einer Stadt, die beim Timsahsee, einem den Bitterseen vorgelagerten Salzsee, am Sueskanal in der Mitte zwischen Port Said im Norden und Sues im Süden gelegen ist, etwa 120 km von Kairo entfernt. Vielleicht war er auch der Direktor eines Salzbergwerks, ein Bekannter und Mitarbeiter von Ferdinand Lesseps, dem Leiter der Erbauung des Suezkanals, ein Günstling des türkischen Paschas, der damals in Ägypten regierte - man weiss es nicht genau und der Autor, auf Spurensuche in Ägypten, findet es auch nicht heraus.
Sicher ist dagegen, dass dem Heinrich in Ägypten das Liebesglück in Gestalt der jungen und schönen Catherine, mit der er drei oder vier Kinder hat, noch einmal lacht. Wahrscheinlich, so darf spekuliert werden, hat der Träumer und Versager tatsächlich mehr vom Leben gehabt als der erfolgreiche Machtmensch mit den Kisten voller Gold, den Teppichen aus Venezien und den edlen arabischen Pferden.
Zwei Lebensgeschichten, die die Abfolge meiner Lektüre in zufällige Nachbarschaft gebracht hat. Gemeinsam ist ihnen, dass sie literarisch gespiegelt und deshalb hoch verfremdet sind; die Menschen, die hier beschrieben werden, hat es so ganz sicher nicht gegeben. Es sind interpretierte Leben; aber vielleicht sind Biografien nur so zu fassen, als Geschichten, die erzählt werden müssen, damit sie einen Zusammenhang haben und einen Sinn ergeben.
Montag, 3. Mai 2010
Traurige Jäger (Schluss)
Epilog
Tief unten schlängelt sich silbrig der Fluss. Links und rechts wachsen die Hügel, wachsen zu Bergen, zu gewaltigen bewaldeten Rücken und Buckeln, man sieht nur Wald, in hellerem Grün leuchten die Laubbäume, in dunklerem Grün dazwischengestreut die Tannen. Man sieht, da es Zeit nicht gibt, wie die Pflanzen sich mit kraftvollen Bewegungen der Sonne entgegen dehnen, man sieht nur Wald und das Schwimmen der Wolken am Horizont, ein Gewitter, das sich schwarz in den Himmel schiebt, tief unten das silbrige Band des Flusses und über den Hügeln die Sonne, die in ihrem Licht versinkt. Vögel gleiten durch die Luft, singen ihren Abendgesang. Sonst hört man nur den Wind, der auf Hohlkörpern seine Lieder spielt.
Aber mein Mund ist kein Auge, mein Mund ist nicht das Ohr. Der Zauber liegt nur ganz dünn wie goldener Staub auf meinen Gedanken und Worten, wenn ich beschreiben will, was das Wesen sieht und hört.
Das Wesen sitzt auf einem Felsvorsprung hoch oben über dem Fluss, sein Ohr ist offen und lauscht, es sitzt und schaut und lauscht die Ewigkeit des Moments, die absolute Gegenwart; sonst nichts. Es ist am Ziel seiner Träume angekommen; es ist am Ziel aller Träume angekommen, denke ich. Ich betrachte das Wesen nur ab und zu verstohlen aus den Augenwinkeln vom
Götzenhimmel der Sprache aus, denn ich fürchte mich vor seiner Schönheit, für die meine Worte zu dürr und zu kümmerlich sind.
Ich möchte es erlegen, das Wesen, wie ein Jäger sein Wild. Ich möchte es nicht verletzen oder vertreiben, denn ich weiss, es ist scheu. Ich möchte es beschützen, denn ich ahne, man wird es zerstören, wenn es nicht zu entwischen vermag.
Tief unten schlängelt sich silbrig der Fluss, und ich warte, bis die Dämmerung grösser geworden ist und ich mich im milderen Licht des Mondes näher an das Wesen heranwagen darf.
Jetzt sehe ich nur noch die Silhouette, die feine Linie des Profils, den zarten Umriss der Glieder. Ich weiss, dass es kein Mensch, sondern ein Engel ist.
Und ich bin sein Schatten.
Das Wesen wittert mich wie ein wildes Tier. Eine fast unmerkliche Bewegung, ein Schaudern geht durch seinen Körper.
Tief unten schlängelt sich silbrig der Fluss.
Tief unten schlängelt sich silbrig der Fluss. Links und rechts wachsen die Hügel, wachsen zu Bergen, zu gewaltigen bewaldeten Rücken und Buckeln, man sieht nur Wald, in hellerem Grün leuchten die Laubbäume, in dunklerem Grün dazwischengestreut die Tannen. Man sieht, da es Zeit nicht gibt, wie die Pflanzen sich mit kraftvollen Bewegungen der Sonne entgegen dehnen, man sieht nur Wald und das Schwimmen der Wolken am Horizont, ein Gewitter, das sich schwarz in den Himmel schiebt, tief unten das silbrige Band des Flusses und über den Hügeln die Sonne, die in ihrem Licht versinkt. Vögel gleiten durch die Luft, singen ihren Abendgesang. Sonst hört man nur den Wind, der auf Hohlkörpern seine Lieder spielt.
Aber mein Mund ist kein Auge, mein Mund ist nicht das Ohr. Der Zauber liegt nur ganz dünn wie goldener Staub auf meinen Gedanken und Worten, wenn ich beschreiben will, was das Wesen sieht und hört.
Das Wesen sitzt auf einem Felsvorsprung hoch oben über dem Fluss, sein Ohr ist offen und lauscht, es sitzt und schaut und lauscht die Ewigkeit des Moments, die absolute Gegenwart; sonst nichts. Es ist am Ziel seiner Träume angekommen; es ist am Ziel aller Träume angekommen, denke ich. Ich betrachte das Wesen nur ab und zu verstohlen aus den Augenwinkeln vom
Götzenhimmel der Sprache aus, denn ich fürchte mich vor seiner Schönheit, für die meine Worte zu dürr und zu kümmerlich sind.
Ich möchte es erlegen, das Wesen, wie ein Jäger sein Wild. Ich möchte es nicht verletzen oder vertreiben, denn ich weiss, es ist scheu. Ich möchte es beschützen, denn ich ahne, man wird es zerstören, wenn es nicht zu entwischen vermag.
Tief unten schlängelt sich silbrig der Fluss, und ich warte, bis die Dämmerung grösser geworden ist und ich mich im milderen Licht des Mondes näher an das Wesen heranwagen darf.
Jetzt sehe ich nur noch die Silhouette, die feine Linie des Profils, den zarten Umriss der Glieder. Ich weiss, dass es kein Mensch, sondern ein Engel ist.
Und ich bin sein Schatten.
Das Wesen wittert mich wie ein wildes Tier. Eine fast unmerkliche Bewegung, ein Schaudern geht durch seinen Körper.
Tief unten schlängelt sich silbrig der Fluss.
Donnerstag, 29. April 2010
Traurige Jäger (30)
Ich, der Verfasser, befinde mich seit einiger Zeit schon in diesem Zimmer, in dem alles weiss und sauber ist. Der Tagesablauf ist streng geregelt. Gott sei Dank. Pünktlich um viertel vor sieben am Morgen bringt mir die Schwester das Frühstück. Dann werde ich angehalten, mich zu waschen und zu rasieren. Wenn ich mal keine Lust dazu habe, werde ich mit sanftem Zwang dazu überredet. Im besten oder im schlimmsten Fall brauche ich weder das eine noch das andere zu tun. Zweimal pro Woche werde ich gebadet. Irgendwann im verlauf des Vormittags gibt’s einen Apfel und ein Glas Tee. Um halb zwölf ist Mittagessen, dann muss ich wieder für zwei Stunden ins Bett. Um halb sechs Abendessen. Manchmal erzähle ich einem freundlichen Onkel im weissen Kittel aus meiner Kindheit. Auch darf ich zeichnen und malen, in dieses Heft hier schreiben. Alles, was ich tue, wird gern gesehen. Es geht mir gut, man mag mich, ich werde hier bleiben.
Montag, 26. April 2010
Traurige Jäger (29)
Die Geschichte ist nun bald zu Ende erzählt. Don Quichotte und Sancho Pansa wurden, lese ich im Krankenbericht des zuständigen Psychiaters, anderntags vom Arrestlokal in die Klinik und damit in den zivilen Bereich zurückgestellt. Sie leisteten ihrer erneuten Internierung offenbar keinen nennenswerten Widerstand. Natürlich trennte man die beiden ungleichen Freunde in der Folge. Sancho wurde sogar an einen anderen Ort verlegt, da es die Ärzteschaft als sozusagen sicher erachtetem dass entweder Don Quichotte auf Sancho Pansa oder aber Sancho Pansa auf Don Quichotte oder sowohl der eine auf den andern als auch der andere auf den einen einen ungünstigen Einfluss ausübe.
Was weiter mit den beiden geschehen ist, wird in den Papieren nicht mehr erwähnt und entzieht sich somit den Kenntnissen des Berichterstatters. Es bleibt offen, ob sie zum guten Ende als geheilt entlassen werden konnten, darf aber mit gutem Grund bezweifelt werden.
Was weiter mit den beiden geschehen ist, wird in den Papieren nicht mehr erwähnt und entzieht sich somit den Kenntnissen des Berichterstatters. Es bleibt offen, ob sie zum guten Ende als geheilt entlassen werden konnten, darf aber mit gutem Grund bezweifelt werden.
Samstag, 17. April 2010
Traurige Jäger (28)
Tausenderlei bunte Vögelein auf den Bäumen begannen zu trillern und schienen mit ihrem mannigfaltigen frohen Gesängen Willkomm und Gruss zu bieten der frischen Morgenröte, die bereits an den Pforten und Erkern des Ostens die Reize ihres Angesichts enthüllte und aus ihren Locken eine unzählige Menge feuchter Perlen schüttelte, in deren süssem Nass sich die Pflanzen badeten und nun aus ihrem Schosse weissen feinen Perlenstaub auszustreuen und nieder zu regnen schienen. Die biegsamen Weiden tröpfelten erquickliches Manna, das Brünnlein lachte plätschernd, die Bäche murmelten, die Wälder wurden heiter, und die Wiesen schmückte reicher der Glanz des kommenden Morgens.
Sancho dehnte und reckte sich, dann öffnete er das linke Auge, dann ganz schnell das rechte. Er war überzeugt davon, tot und gestorben zu sein, gefressen von den kannibalischen Urmenschen; aber als er an sich hinunter schaute, war alles noch da, sogar sein dicker Wanst. Dann glaubte er für einen Moment, dieser Wanst sei vielleicht ein ätherischer und er befinde sich im Paradies oder sonst einer Art Überwelt, aber dann knurrte dieser Wanst ganz unätherisch und unesoterisch, und da wusste er, dass er sich noch in irdischen Gefilden befand, was aber nicht weniger erstaunlich war, als wenn er sich Harfe spielend auf einer Wolke sitzend wieder gefunden hätte.
Denn er konnte sich ganz und gar nicht erklären, wie er aus den Zähnen der Urmenschen so ganz und gar unbeschadet hatte hervor- und herausgehen können. Gewiss: es hatte in seinem Leben nun schon genug Wendungen gegeben, die nicht zu verstehen waren. Nicht mit dem Verstand, wenn man von eher durchschnittlicher Intelligenz war wie Sancho. Wenn er rekapitulierte: zuerst war da der Wachsaal mit der schlafenden Schwester gewesen (wie war er überhaupt in diesen gekommen? Er hatte sich ganz und gar nicht krank gefühlt), dann die Sache mit den Cerberanern, des Weiteren das Intermezzo als Weltdiktator, die schrecklich leeren, hell erleuchteten Strassen in der Nacht, Amerika und das Bermudadreieck des Fortschritts, die Schwester des Sheriffs und der Hund Idefix, der nur kurz seine Lebensbahn gekreuzt hatte, leider, Misericordia City, dieser Wahnsinn von einer Stadt, an die es nur ungern und mit Scham zurückdachte, die Schattenengel, das «Café Universum», ein Morde, den man auch als Sachbeschädigung verstehen konnte, die hungrigen Urmenschen und Urahnen – wenn man das alles so überblickte, dann war die momentane Situation an Harmlosigkeit und Heiterkeit gar nicht mehr so zu überbieten.
Sancho schaute sich um, ob er irgendwo seinen Herrn entdecken könne. Und richtig, nicht weit entfernt lag Don Quichotte mit weit offenem Mund im Gras, nur bekleidet mit einem Hemd, das ihm allerdings bis zu den Kniekehlen reichte, so dass man nur gerade die hageren und haarigen Unterschenkel sehen konnte, und schnarchte. Oben schaute sein Antlitz heraus mit leicht gekrümmter Adlernase, tief liegenden, jetzt geschlossenen Augen, lückenhaftem Gebiss und grossem melancholischem Schnurrbart, der noch ziemlich schwarz war und deshalb im Kontrast stand zu dem schütteren, ergrauten Haupthaar. Ein Gesicht, selbst jetzt, im Schlaf, voll feierlichem Ernst, und so hohlwangig, so wenig Backenzähne waren ihm verblieben, dass die Wangen einander im Innern zu berühren schienen.
Neben dem Ritter lag im Gras seine Kleidung: Ein Wams aus chamoisfarbenem Leder, an dem die Knöpfe entweder fehlten oder nicht zueinander passten, befleckt mit jenem Rost, den Regen und Schweiss auf dem löchrigen Panzer hinterlassen. Die enge braune Kniehose von lohfarbenen Flicken verunziert, die grünseidenen Strümpfe nur mehr ein Gitterwerk aus Laufmaschen. Und dann ein Sammelsurium aus Harnisch und Waffenzeug, eine von Schimmel befallene schwarze Ritterrüstung, der goldene Helm Mambrins in Form eines Bartbeckens, Schild, Lanze, Schwert.
Und richtig: Unter einem Baum weidete ein Pferd, hager und langhalsig wie sein Herr, man errät es, Rosinante, und neben ihm der Graue, sein liebes Eseltier.
Da machte Sanchos Herz einen Riesensprung. Ja, nun war man endlich daheim! Sofort musste er den Don wecken, um ihm die ungeheuerliche Tatsache dieser letzten und endgültigen Verwandlung vor Augen zu führen.
Don Quichotte richtete sich kerzengerade auf, als er von Sancho an den Schultern geschüttelt wurde, und schaute sich mit einem vom Schlaf noch etwas irren Blick um. «Wo sind wir?» Zum ersten Mal zeigte sein Gesicht einen Ausdruck von Unsicherheit und Verwirrung. «Aber mein Don!» rief Sancho da begeistert aus, «erkennen Sie denn unser gutes altes Spanien nicht wieder? Daheim sind wir, endlich wieder daheim, in unserem guten alten Buch!»
Don Quichotte liess sich indes von der Begeisterung seines Knappen nicht anstecken. Mit Befremden schaute er auf die im Gras liegenden Kleidungs- und Ritterstücke.
«Aber erinnern Sie sich denn nicht, mein lieber Herr?» insistierte Sancho, «Sie sind ein fahrender Ritter, die Blüte und der Spiegel des fahrenden Rittertums! Beschützer der Jungfrauen, der Witwen und Waisen, derjenige, der kein Gesetz anerkennt ausser jenem, das ihm die ritterliche Ehre diktiert, ein Löwe an Kraft und vor allem an Mut – und nicht zuletzt natürlich ein ergebener Diener der Dame seines Herzens, der schönen und edlen und nicht zu überbietenden Dulcinea von Toboso!» – «Was schwätzt er da für einen Unsinn, Sancho? Ich glaube fast, das, was wir in letzter Zeit an Verzauberungen über uns ergehen lassen mussten, hat ihm das letzte Restchen Verstand geraubt! Ein fahrender Ritter soll ich sein, angetan mit diesem verlumpten Karnevalszeug?! Willst du einen Narren aus mir machen? Wohl bin ich ein Streiter; und mein Kampf ist Handlung zwar ohne Zweck, nicht aber ohne Sinn. Gestritten einzig deshalb weil das Schicksal, das ich Cerberus nenne, den Höllenhund, es so will und man dem Schicksal gerade dadurch, dass man sich ihm zu entziehen versucht, erst recht in die Arme läuft. Denn, Sancho, wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Es ist ein Paradox und eine tiefe Wahrheit, die du aber nicht verstehst, Sancho, dass man den Verstrickungen des irdischen Daseins nur dadurch entkommen kann, dass man sich bewusst in sie fügt. – Und geh mir weg mit deiner Dame Dulcinea, die die Dame meines Herzens und aus Toboso sein soll! Sancho, Sancho, wer hat dir das nur eingeredet! Auf Toboso, diesem Stern jenseits der Hoffnung, gibt es keine Damen mehr, gibt es keine Trennungen mehr, weder nach Geschlecht, Ansehen, Aussehen, Alter, Einkommen, noch nach Hautfarbe, Rasse, Gerissenheit, Bosheit und Macht wie in dieser jämmerlich verkommenen Menschenwelt. Toboso ist das Element, in das man eintaucht wie der Tropfen in den Ozean, um ununterscheidbar eins mit ihm zu werden, erlöst von der Vereinzelung und verbunden mit Allem.»
Sancho betrübte sich sehr, als er diese eigenartige Rede von Don Quichotte, seinem lieben Herrn, hören musste. Er hatte sich so gefreut darüber, wieder einmal auf festem Boden zu stehen, mit seinem Herrn in ganz normale Abenteuer zu geraten, in handfeste Prügeleien mit handfesten Menschen, die währschafte spanische Küche und dazu einen handfesten Schluck aus der Bota zu geniessen. Hätte doch nur sein Herr geglaubt, ein fahrender Ritter zu sein! Das wäre doch viel normaler als diese Hirngespinste hier!
Nur war immer noch alles so schwankend wie eh und je, erbarmungslos verwirrend, gnadenlos fremd. Wie gerne wäre Sancho Pansa einfach heimgekehrt auf das kleine Bauerngut zu seiner Frau Teresa Pansa und seiner Tochter Sanchita und seinem Sohn Sanchito. Aber dieser Weg, so ist zu fürchten, war ihm ein- für allemal versperrt. Der Mensch weiss zuviel und zuwenig: Das ist seine Qual. Wer sich einmal in den Zeiten umgetan hat, findet nicht mehr zurück in eine einfach, unkomplizierte Gegenwart.
Sancho dehnte und reckte sich, dann öffnete er das linke Auge, dann ganz schnell das rechte. Er war überzeugt davon, tot und gestorben zu sein, gefressen von den kannibalischen Urmenschen; aber als er an sich hinunter schaute, war alles noch da, sogar sein dicker Wanst. Dann glaubte er für einen Moment, dieser Wanst sei vielleicht ein ätherischer und er befinde sich im Paradies oder sonst einer Art Überwelt, aber dann knurrte dieser Wanst ganz unätherisch und unesoterisch, und da wusste er, dass er sich noch in irdischen Gefilden befand, was aber nicht weniger erstaunlich war, als wenn er sich Harfe spielend auf einer Wolke sitzend wieder gefunden hätte.
Denn er konnte sich ganz und gar nicht erklären, wie er aus den Zähnen der Urmenschen so ganz und gar unbeschadet hatte hervor- und herausgehen können. Gewiss: es hatte in seinem Leben nun schon genug Wendungen gegeben, die nicht zu verstehen waren. Nicht mit dem Verstand, wenn man von eher durchschnittlicher Intelligenz war wie Sancho. Wenn er rekapitulierte: zuerst war da der Wachsaal mit der schlafenden Schwester gewesen (wie war er überhaupt in diesen gekommen? Er hatte sich ganz und gar nicht krank gefühlt), dann die Sache mit den Cerberanern, des Weiteren das Intermezzo als Weltdiktator, die schrecklich leeren, hell erleuchteten Strassen in der Nacht, Amerika und das Bermudadreieck des Fortschritts, die Schwester des Sheriffs und der Hund Idefix, der nur kurz seine Lebensbahn gekreuzt hatte, leider, Misericordia City, dieser Wahnsinn von einer Stadt, an die es nur ungern und mit Scham zurückdachte, die Schattenengel, das «Café Universum», ein Morde, den man auch als Sachbeschädigung verstehen konnte, die hungrigen Urmenschen und Urahnen – wenn man das alles so überblickte, dann war die momentane Situation an Harmlosigkeit und Heiterkeit gar nicht mehr so zu überbieten.
Sancho schaute sich um, ob er irgendwo seinen Herrn entdecken könne. Und richtig, nicht weit entfernt lag Don Quichotte mit weit offenem Mund im Gras, nur bekleidet mit einem Hemd, das ihm allerdings bis zu den Kniekehlen reichte, so dass man nur gerade die hageren und haarigen Unterschenkel sehen konnte, und schnarchte. Oben schaute sein Antlitz heraus mit leicht gekrümmter Adlernase, tief liegenden, jetzt geschlossenen Augen, lückenhaftem Gebiss und grossem melancholischem Schnurrbart, der noch ziemlich schwarz war und deshalb im Kontrast stand zu dem schütteren, ergrauten Haupthaar. Ein Gesicht, selbst jetzt, im Schlaf, voll feierlichem Ernst, und so hohlwangig, so wenig Backenzähne waren ihm verblieben, dass die Wangen einander im Innern zu berühren schienen.
Neben dem Ritter lag im Gras seine Kleidung: Ein Wams aus chamoisfarbenem Leder, an dem die Knöpfe entweder fehlten oder nicht zueinander passten, befleckt mit jenem Rost, den Regen und Schweiss auf dem löchrigen Panzer hinterlassen. Die enge braune Kniehose von lohfarbenen Flicken verunziert, die grünseidenen Strümpfe nur mehr ein Gitterwerk aus Laufmaschen. Und dann ein Sammelsurium aus Harnisch und Waffenzeug, eine von Schimmel befallene schwarze Ritterrüstung, der goldene Helm Mambrins in Form eines Bartbeckens, Schild, Lanze, Schwert.
Und richtig: Unter einem Baum weidete ein Pferd, hager und langhalsig wie sein Herr, man errät es, Rosinante, und neben ihm der Graue, sein liebes Eseltier.
Da machte Sanchos Herz einen Riesensprung. Ja, nun war man endlich daheim! Sofort musste er den Don wecken, um ihm die ungeheuerliche Tatsache dieser letzten und endgültigen Verwandlung vor Augen zu führen.
Don Quichotte richtete sich kerzengerade auf, als er von Sancho an den Schultern geschüttelt wurde, und schaute sich mit einem vom Schlaf noch etwas irren Blick um. «Wo sind wir?» Zum ersten Mal zeigte sein Gesicht einen Ausdruck von Unsicherheit und Verwirrung. «Aber mein Don!» rief Sancho da begeistert aus, «erkennen Sie denn unser gutes altes Spanien nicht wieder? Daheim sind wir, endlich wieder daheim, in unserem guten alten Buch!»
Don Quichotte liess sich indes von der Begeisterung seines Knappen nicht anstecken. Mit Befremden schaute er auf die im Gras liegenden Kleidungs- und Ritterstücke.
«Aber erinnern Sie sich denn nicht, mein lieber Herr?» insistierte Sancho, «Sie sind ein fahrender Ritter, die Blüte und der Spiegel des fahrenden Rittertums! Beschützer der Jungfrauen, der Witwen und Waisen, derjenige, der kein Gesetz anerkennt ausser jenem, das ihm die ritterliche Ehre diktiert, ein Löwe an Kraft und vor allem an Mut – und nicht zuletzt natürlich ein ergebener Diener der Dame seines Herzens, der schönen und edlen und nicht zu überbietenden Dulcinea von Toboso!» – «Was schwätzt er da für einen Unsinn, Sancho? Ich glaube fast, das, was wir in letzter Zeit an Verzauberungen über uns ergehen lassen mussten, hat ihm das letzte Restchen Verstand geraubt! Ein fahrender Ritter soll ich sein, angetan mit diesem verlumpten Karnevalszeug?! Willst du einen Narren aus mir machen? Wohl bin ich ein Streiter; und mein Kampf ist Handlung zwar ohne Zweck, nicht aber ohne Sinn. Gestritten einzig deshalb weil das Schicksal, das ich Cerberus nenne, den Höllenhund, es so will und man dem Schicksal gerade dadurch, dass man sich ihm zu entziehen versucht, erst recht in die Arme läuft. Denn, Sancho, wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Es ist ein Paradox und eine tiefe Wahrheit, die du aber nicht verstehst, Sancho, dass man den Verstrickungen des irdischen Daseins nur dadurch entkommen kann, dass man sich bewusst in sie fügt. – Und geh mir weg mit deiner Dame Dulcinea, die die Dame meines Herzens und aus Toboso sein soll! Sancho, Sancho, wer hat dir das nur eingeredet! Auf Toboso, diesem Stern jenseits der Hoffnung, gibt es keine Damen mehr, gibt es keine Trennungen mehr, weder nach Geschlecht, Ansehen, Aussehen, Alter, Einkommen, noch nach Hautfarbe, Rasse, Gerissenheit, Bosheit und Macht wie in dieser jämmerlich verkommenen Menschenwelt. Toboso ist das Element, in das man eintaucht wie der Tropfen in den Ozean, um ununterscheidbar eins mit ihm zu werden, erlöst von der Vereinzelung und verbunden mit Allem.»
Sancho betrübte sich sehr, als er diese eigenartige Rede von Don Quichotte, seinem lieben Herrn, hören musste. Er hatte sich so gefreut darüber, wieder einmal auf festem Boden zu stehen, mit seinem Herrn in ganz normale Abenteuer zu geraten, in handfeste Prügeleien mit handfesten Menschen, die währschafte spanische Küche und dazu einen handfesten Schluck aus der Bota zu geniessen. Hätte doch nur sein Herr geglaubt, ein fahrender Ritter zu sein! Das wäre doch viel normaler als diese Hirngespinste hier!
Nur war immer noch alles so schwankend wie eh und je, erbarmungslos verwirrend, gnadenlos fremd. Wie gerne wäre Sancho Pansa einfach heimgekehrt auf das kleine Bauerngut zu seiner Frau Teresa Pansa und seiner Tochter Sanchita und seinem Sohn Sanchito. Aber dieser Weg, so ist zu fürchten, war ihm ein- für allemal versperrt. Der Mensch weiss zuviel und zuwenig: Das ist seine Qual. Wer sich einmal in den Zeiten umgetan hat, findet nicht mehr zurück in eine einfach, unkomplizierte Gegenwart.
Mittwoch, 14. April 2010
Letzte-Runde-Trübseligkeit
«Vor nicht allzu langer Zeit sass ich in meinem Büro an meinem Schreibtisch, hatte meine bestrumpften Füsse hochgelegt und las im landesweiten Makler-Bulletin einen öden Artikel aus der Forschungsredaktion darüber, dass Cap-Floaters (variabel verzinsliche Anleihen mit einer Höchstmarke für die Verzinsung, C.U.) der Trend der Zukunft seien - als mein Blick nach unten zu einer Glosse glitt, in der stand: "Danach gefragt, welchen praktischen Nutzen das Wissen hätte, ob Neutrinos eine Masse besitzen, gestand Dr. Dieter von Reichstag vom Mains-Institut in Heidelberg, er hätte nicht die leiseste Ahnung, doch was ihn wirklich erstaune, sei die Tatsache, dass sich auf einem kleineren Planeten (der Erde), der einen durchschnittlich grossen Stern umkreise, eine Spezies entwickelt habe, die in der Lage sei, diese Frage überhaupt zu stellen."
Bestimmt gab es da irgendwelche interessante Verbindungen zu den Cap-Floaters und dazu, welch erstaunliche Produktankurbler sie auf dem Markt der Wohnhypotheken darstellen (ich habe nicht zu Ende gelesen). Aber das Erstaunen, das Dr. von Reichstag eingestand, entspricht mehr oder weniger dem Gefühl, das ich zurzeit häufiger empfinde, auch wenn es weniger gewichtige Dinge betrifft. Dr. von Reichstag kennt vielleicht wie ich die Letzte-Runde-Trübseligkeit, denn alle neuen Empfindungen tragen in ihrer DNS eine Ahnung von ihrem eigenen Ende mit sich. Wenn ich das Neue in dieser Weise betrachte, steht das ziemlich sicher in Verbindung mit meinem Krebs und dazu, dass ich selber ein älterer, schnell verlöschender Stern bin.»
Richard Ford: Die Lage des Landes. Frank Bascombe ist fünfundfünfzig Jahre alt und freut sich mit schöner Strandvilla und zweiter Ehefrau auf ein ruhiges Leben. Völlig unvorbereitet bringen eine Ehekrise und eine Krebsdiagnose alles ins Wanken. Nachfolgeroman von «Der Sportreporter» und «Unabhängigkeitstag». «Pflichtlektüre» für alle Fünfundfünfzigjährigen (dieses Doppelte-Schnapszahl-Jahr - 2010 - haben alle Fünfundfünfzigjährigen den Jahrgang 55), aber evtl. auch für andere Jahrgänger interessant.
Bestimmt gab es da irgendwelche interessante Verbindungen zu den Cap-Floaters und dazu, welch erstaunliche Produktankurbler sie auf dem Markt der Wohnhypotheken darstellen (ich habe nicht zu Ende gelesen). Aber das Erstaunen, das Dr. von Reichstag eingestand, entspricht mehr oder weniger dem Gefühl, das ich zurzeit häufiger empfinde, auch wenn es weniger gewichtige Dinge betrifft. Dr. von Reichstag kennt vielleicht wie ich die Letzte-Runde-Trübseligkeit, denn alle neuen Empfindungen tragen in ihrer DNS eine Ahnung von ihrem eigenen Ende mit sich. Wenn ich das Neue in dieser Weise betrachte, steht das ziemlich sicher in Verbindung mit meinem Krebs und dazu, dass ich selber ein älterer, schnell verlöschender Stern bin.»
Richard Ford: Die Lage des Landes. Frank Bascombe ist fünfundfünfzig Jahre alt und freut sich mit schöner Strandvilla und zweiter Ehefrau auf ein ruhiges Leben. Völlig unvorbereitet bringen eine Ehekrise und eine Krebsdiagnose alles ins Wanken. Nachfolgeroman von «Der Sportreporter» und «Unabhängigkeitstag». «Pflichtlektüre» für alle Fünfundfünfzigjährigen (dieses Doppelte-Schnapszahl-Jahr - 2010 - haben alle Fünfundfünfzigjährigen den Jahrgang 55), aber evtl. auch für andere Jahrgänger interessant.
Donnerstag, 1. April 2010
Blues im Blut
Es gab einen verborgenen, nur ihm offensichtlichen Widerspruch zwischen seinem banalen Leben und seinem Lebensgefühl, das geprägt war von einem gewissermassen pathetischen Hang zur grossen Leidenschaft, erfüllt von heisser Lebenslust und abgrundtiefer Trauer, umflort von leiser Melancholie und erhoben von den Schwingen der Sehnsucht. Er war sich in diesem Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit ebenso bewusst wie seiner Einzigartigkeit, seiner elementaren Unwissenheit ebenso sehr wie der grundsätzlichen Unbegrenztheit seines Bewusstseins. Kurz: er hatte den Blues nicht nur im Ohr, sondern auch im Gemüt, ja sogar im Blut. Dort kochte der seine dickflüssig-dunkelviolette, süss-saure Suppe.
Blues, das waren einmal schwarze Sklaven in Baumwollfeldern gewesen, die sich aus ihre Trauer und Wut ins wilde freie Leben spielten und sangen und schrieen und tanzten. Blues ist auch heute noch eine Beschwörung des Paradieses im irdischen Jammertal, ist der Sonnenstrahl, der durch den grau verhangenen Himmel bricht, ist ein Gefühl des Friedens nach einer langen Nacht in der blauen Stunde morgens um halb vier, in einer verrauchten Bar, mit Gästen, die wie die Geister ihrer selbst aussehen, während der Pianist, ganz in sich versunken und ganz für sich selbst, den schwarzweissen Tasten eine Melodie entlockt, eine Tonfolge, die direkt aus dem Herzen der Welt emporzusteigen scheint... Blues, das ist der Moment, der entschwindet, ist die Gegenwart, die sich nicht aufhalten lässt, sondern sich höflich empfiehlt, ist unsere Vergänglichkeit, das Erbärmliche, aber auch das Tröstliche unserer Vergänglichkeit, ist das Aufbegehren und der Schmerz, aber auch die Einsicht und das Annehmen. Blues, das ist jener Teil in uns, der sich nicht zähmen und domestizieren und verformen lässt, Blues ist unsere ureigenste Authentiziät, ist die Unvergänglichkeit unserer Jugend im Altsein und die Weisheit des Alters im Kind. Der Blues in uns ist subversiv, er unterläuft die Rollen, die uns zugedacht sind und die wir ausfüllen sollen, die aber nichts mit unserer echten Natur zu tun haben. Ja, Natur ist ein gutes Stichwort: Blues ist die Natur in uns, das Mineralische und das Pflanzliche und das Tierische in uns, das Salz unserer Tränen ebenso wie der Geschmack unseres Spermas und unseres Bluts.
Er hatte zwar den Blues im Blut, aber gleichzeitig war er sehr kompliziert. Ich will nicht gerade behaupten, dass er ein Intellektueller war – dagegen hätte er bestimmt Einspruch erhoben, wie ein Anwalt, der die Unschuld seines Klienten beteuert -, aber er hatte unzweifelhaft einen zum Komplizierten neigenden Geist, dem alles Eindeutige zuwider war – und deshalb auch eine eindeutige Selbstwahrnehmung seiner Gefühle. Das – eindeutige Gefühle zu haben oder eindeutige Gefühle zu sein -, dachte er, müsste man schon fast als psychologischen Kitsch wahrnehmen. Ich habe den Blues im Blut – lächerlich! Ich lasse mich von Sonnenstrahlen entzücken, die durch graue Wolkenmassen brechen – mehr als verdächtig einer geradezu esoterischen Gesinnung, nah angesiedelt bei der vollkommenen geistigen Verblödung. Der melancholische alte Barpianist klimpert am Klavier, während die besoffenen Gäste über dem Tresen träumen – ein Klischee, in tausend Schwarz-weiss-Filmen festgehalten, in tausend Songs beschworen. Singende Schwarze in Baumwollfeldern, die sich während der Arbeit im Rhythmus der schwermütigen Musik bewegen, und irgendwo spielt traurig eine Mundharmonika – geht es eigentlich noch? Vom Salz der Tränen zu schwärmen, vom süss-sauren Geschmack des Spermas und des Bluts – übelste Blut-und-Boden-Romantik! Jedesmal, wenn er einen echten Blueser sah – keinen intellektuellen Pseudoblueser, sondern zum Beispiel einen Rocker in schweissftriefender Lederkluft, oder einen echten, stinkenden Penner, der sich ein tatsächliches und nicht bloss eingebildetes Elend wegsoff, ergriff ihn so etwas wie eine falsche und auch vergebliche Sehnsucht. Niemals gelang es ihm, wirklich in das Klischee einzutauchen (oder das, was er dafür hielt). Er blieb draussen, auf seinem Beobachtungsposten. Er beobachtete andere, das wohl, aber er beobachtete vor allem auch sich selbst (und zwar vor allem dabei, wie er andere und sich selbst beobachtete). Nur selten gelang es ihm, sich einer kleinen Illusion hinzugeben. Von wegen Blues im Blut – diese Eier hatten vielleicht andere. Wenn überhaupt. Wäre ja schön.
Letzte Nacht träumte er, Janis Joplin zu begegnen. Und zwar nicht als der Zeitgenosse der Sängerin mit der rauen Stimme, der er tatsächlich war – die Joplin, obwohl schon lange tot, wäre tatsächlich nur wenige Jahre älter als er, würde sie noch leben -, sondern als ein Bote aus der Zukunft gewissermassen, als ein aus dem Strom der Zeit herausgerissener Beobachter, der alles von einer höheren Warte aus beurteilen kann. Die Sängerin war gutgelaunt und sah sogar glücklich aus. Er sagte anerkennend zu ihr: «Weisst du, Janis, ein paar von deinen Songs sind zu richtigen Klassikern geworden, die noch immer gespielt werden. Sie haben die kurzfristige Aktualität überdauert und sind in die Musikgeschichte eingegangen.» Worauf Janis nur ihr kehliges, durch Burbon, Zigaretten und Joints veredelte Lachen lachte und ihm den Vogel zeigte. Der war es so was von egal, ob sie in die Musikgeschichte eingegangen war oder nicht. So was!
In Baumwollfelder schuftende Sklaven, die wehmütige Lieder singen... Auch heute schuften Sklaven und machen sich andere ein fettes Leben auf deren Kosten, worauf man ihnen auch noch ihren mehr als verständlichen Neid vorzuwerfen die Stirn hat. Nicht weniger absurd sind die Zustände im heutigen Kapitalismus als die feudalen Zustände im 30jährigen Krieg oder meinetwegen auch im alten Rom oder eben auf den Baumwollfelder der 20er-Jahre im Süden des nördlichen Amerikas. Nicht weniger absurd und nicht weniger ungerecht. Nur das, das darf man heute nicht mehr beklagen. Klagelieder sind verboten; schliesslich leben wir in der besten aller Zeiten. Und aller politischen Systeme. Und aller wirtschaftlichen Systeme sowieso. Nein, wer die Zustände beklagt, macht sich verdächtig der hoffnungslosen Rückwärtserei. Optimismus ist angesagt. Blues, das gibt es heute bloss noch als Nostalgie.
Montag, 29. März 2010
Traurige Jäger (27)
Sie froren beide. Die spärlich bewachsenen Steppe oder Tundra war beleuchtet von einem kalten nördlichen Licht. Ein Gefühl von ungeheurer Weite erfasste einen angesichts dieser Landschaft. Sie standen auf einem Hügel, der sich kaum hundert Meter über die Ebene erhob und dennoch ein majestätischer Aussichtspunkt war. In der Ebene sah man riesengrosse schwarze Vögel durch die Luft gleiten; ihr schauerliches Kra kra gab der Grösse und Weite dieser Landschaft eine durchaus adäquate akustische Dimension. Kleine Wölkchen schwammen zum fernen Horizont dieses weiten Himmels, der über die weite Landschaft gespannt war. Ja, Ehrfurcht rührte die beiden angesichts dieser Landschaft und berauschte ihr Herz; eine schmerzliche Sehnsucht, toska, angoisse, saudade, soledad. Sie begriffen nun, aus welcher Stimmung heraus die Religion – die Angst vor den Göttern und die Hoffnung auf eine Erlösung von den Furchtbarkeiten der Welt und des Lebens – in den Morgenstunden der Menschheit geboren wurde. Es sind schreckliche Götter, vor denen wir nackt stehen, und doch wissen wir, sie sind gut – zu gross und zu mächtig nur für uns, sie zu verstehen.
Don Quichotte und Sancho Pansa standen stumm und staunend vor dieser Szenerie. Wie lange schon? Sie schienen da in eine Zeit geraten zu sein, die noch kein Zeitmass kannte. Dass jetzt in der Ferne die königlich-plumpe Silhouette eines Dinosaurus Rex auftauchte, war allerdings schon fast zu viel des Guten. Wenn es nicht so kalt und unwirtlich gewesen wäre, hätte man beinahe meinen können, in ein überdimensioniertes Disney-Land geraten zu sein. Sancho entfuhr ein Ausruf des Erstaunens.
«Ich glaube fast, jetzt sind wir gar in die Vorzeit geraten! Hijcho des puta, was soll denn noch alles kommen! Jetzt reichts mir aber wirklich! Ich frage mich, ob wir jemals wieder nach Hause kommen.» – «Schweig, du kleinmütiger Sancho!», sagte Don Quichotte streng, «was störst du mit deinem dummen hasenherzigen Geschnatter diese heilige Ruhe?! Sind wir denn bis jetzt nicht noch aus jedem Abenteuer heil und ganz hervor gegangen? Unsere Schutzengel, deiner Sancho, und meiner, haben uns bisher mit wohltätiger Hand durch die eigenartigsten Geschichten geführt. Und du jammerst, statt dankbar zu sein! In welcher Zeit sind wir denn zu Hause? Und an welchem Ort? Kannst du mir das sagen? Ich jedenfalls weiss, dass ich durch die Zeiten und die Räume als ein ruheloser Wanderer gehen muss, bis sich mein Schicksal erfüllt haben wird, und ich ohne Murren annehmen will, was es mir bereitet!»
Sancho kam nicht mehr dazu, auf diese fatalistische Rede zu antworten, denn jetzt taucht ein Wesen auf, genau in der Mitte zwischen einem Menschen und einem Affen. Man mag nun einwenden, dieses Auftauchen eines Neandertalers passe erdgeschichtlich in keinster Weise zum Vorhandensein der majestätischen Silhouette des einige Zeilen weiter oben erwähnten Dinosaurus Rex. Aber die Zeiten sind in dieser Geschichte nun mal ziemlich durcheinander gerutscht. Wir können deshalb also auch nicht dafür, dass das seltsame vormenschliche Wesen nun auf die beiden Gestalten unserer Helden zuhüpft, gelächterartige Geräusche ausstossend und den Sancho am Bart, zu dem dieser wie die Jungfrau zum Kind gekommen sein muss, packend.
Das mochte als Geste der Zuneigung gemeint sein oder nicht – vielleicht erkannte der Halbaffe oder Halbmensch den Sancho als seinen fernen Nachkommen an, Blut ist, wie man weiss, dicker als Wein –, Sancho begann sich jedenfalls gegen dieses Bartziehen zu wehren, sodass sich schliesslich aus dem, was als zärtliche Neckerei begonnen hatte, ein handfestes Schlagen, Knuffen, Reissen und Beissen entwickelte, bei dem sich Sanchon nicht einmal so schlecht behauptete.
Schliesslich gelang es Don Quichotte aber doch, die beiden ineinander verkeilten Kämpfer zu trennen. Der Urmensch oder Neandertaler schnaufte nicht weniger heftig als Sancho, der den haarigen, wulstäugigen, niedrigstirnigen, langarmigen Körper seines Vorfahren voller Verachtung musterte. Dieser grunzte und gab andere nicht zu definierende Laute von sich, schüttelte die Arme und hüpfte von einem Bein aufs andere, als wollte er damit etwas Bestimmtes mitteilen. «Eine anständige Sprache scheinen die noch nicht erfunden zu haben», meinte Sancho kopfschüttelnd. Don Quichotte belehrte seinen Assistenten: «Und doch will er sich uns verständlich machen. Der gute Wille ist zu honorieren. Vielleicht verstehen wir seine Sprache auch einfach nur nicht. Sieh, wie niedlich er die Augen rollt, wie er den Arm und den Finger streckt – ich glaube, er will, dass wir ihm folgen. Er will uns etwas zeigen.» – «Vielleicht will er uns zum Essen einladen», witterte Sancho da Morgenluft, «hoffentlich haben sie wenigstens das Feuer schon erfunden. Roh schmeckt der Dinosaurierbraten sicher nicht sonderlich gut.»
Während sie ihrem neuen Freund folgten, begann es bereits wieder dämmrig zu werden – auch die gwöhnlichen Tageszeiten scheinen in dieser Geschichte etwas ausser Kontrolle geraten zu sein – und wurde bald stockdunkle Nacht. Mit beklommenem Herzen folgten die beiden Abenteuer – der widerwillige und der mutwillige – ihrem Vorfahren oder Urahnen. Der Boden, über den sie gingen, war weich und feucht; nur gut, dass unsere beiden Helden ihre Stiefel, zu denen sie im Verlauf dieser Geschichte in einem unbemerkten Moment gekommen sein müssen und wiederum wie die Jungfrau zum Kind, aus zivilisierteren Tagen in diese hoffnungslose graue finstere Vorzeit hinübergerettet hatten. Der Halbaffe oder Halbmensch ging nacktfüssig, wie sich das gehört, überhaupt trug er kein einziges Kleidungsstück ausser seinem körpereigenen Fell.
Schliesslich wurde die Dunkelheit von einem rötlich-gelben Schimmer etwas aufgehellt, und bald zeigte es sich, dass das Feuer glücklicherweise schon erfunden war. Es erhellte eine geräumige und ganz gemütliche Höhle, in der mindestens zehn Urmenschen auf Fellen hockten, zottelige Männer, Frauen und Kinder, die jetzt angesichts des Besuch, den Vati da mit nach Hause brachte, in ein aufgeregtes Geschmatze und Gegrunze ausbrachen, das aber eher erfreut als ärgerlich klang. Über dem Feuer bruzelte an einem Spiess ein enttäuschend kleines Stück Fleisch, das eher von einer Ratte als einem Dinosaurier stammte. Ausserdem roch es in der Höhle etwas streng, was die Aussicht auf eine Mahlzeit zu einer etwas zwiespältigen Sache machte. Sancho dachte mit Wehmut an die siebengängigen Menus im Palast zurück, für die er jetzt ohne Zweifel den nötigen Appetit gehabt hätte. Don Quichotte hob, um seine freundliche Absicht zu bekunden und ein Beispiel für seine sanfte Gemütsart und edle Gesinnung zu geben, zu einer grossen Rede an: «Liebe Freundlinnen, liebe Freunde, seid gegrüsst! Wir sind von weit her zu euch gekommen, von sehr weit her, nämlich aus den Tiefen der Zeit, um euch als Engel der Zukunft eine Verheissung dessen zu sein, was einst zum modernen Menschen wird aus dem in einem dumpfen geistigen Schlaf verharrenden Material der Evolution, für das ihr euch vielleicht betrübt halten möget. Aber nein! Wisset! Der Mensch ist ein Seil, über den Abgrund gespannt...» Aber weiter kam Don Quichotte nicht.
Er wurde nämlich von mehreren der Urmenschen gepackt und zu Boden gerissen. Jetzt war die Mordgier, die sich auf dieser Stufe der menschlichen Entwicklung als simple Fresslust entpuppte, in den Augen der Halbaffen ganz deutlich. Obwohl Don Quichotte bestimmt keinen wohlschmeckenden Braten abgeben würde, war er in diesen mageren Zeiten immerhin besser als nichts. Und erst unser guter Freund Sancho! Zwar auch nicht mehr der Allerzarteste, aber immerhin war an dem ganz schön was dran. Sancho, der wandelnde Festtagsschmaus! Der allerdings schrie Zeter und Mordio. «Hört auf, ihr Kannibalen, ihr Monster, ihr Menschenfresser, ihr könnt mich gar nicht fressen! So jung und zart und frisch wie ich kann ein Braten gar nicht sein, da ich doch eigentlich noch gar nicht geboren bin! Weg da, weg mit den Dreckpfoten habe ich gesagt!»
Aber an dieser Logik musste etwas falsch sein, denn die Urmenschen hielten sich an das, was ihnen ihr Magen befahl. Und so war denn das Letzte, was Sancho hörte, das Geräusch brechender Knochen (und zwar seiner eigenen) und das zufriedene Mahlen von Kiefern, denen ein gütiger Gott für einmal doch ein saftiges Stück Fleisch zwischen die Zähne gezaubert hatte (der allerdings so zart auch wieder nicht war). Des einen Leid ist des anderen Freud, hätte wohl Sancho dazu gesagt, wenn er noch etwas hätte sagen können.
Don Quichotte und Sancho Pansa standen stumm und staunend vor dieser Szenerie. Wie lange schon? Sie schienen da in eine Zeit geraten zu sein, die noch kein Zeitmass kannte. Dass jetzt in der Ferne die königlich-plumpe Silhouette eines Dinosaurus Rex auftauchte, war allerdings schon fast zu viel des Guten. Wenn es nicht so kalt und unwirtlich gewesen wäre, hätte man beinahe meinen können, in ein überdimensioniertes Disney-Land geraten zu sein. Sancho entfuhr ein Ausruf des Erstaunens.
«Ich glaube fast, jetzt sind wir gar in die Vorzeit geraten! Hijcho des puta, was soll denn noch alles kommen! Jetzt reichts mir aber wirklich! Ich frage mich, ob wir jemals wieder nach Hause kommen.» – «Schweig, du kleinmütiger Sancho!», sagte Don Quichotte streng, «was störst du mit deinem dummen hasenherzigen Geschnatter diese heilige Ruhe?! Sind wir denn bis jetzt nicht noch aus jedem Abenteuer heil und ganz hervor gegangen? Unsere Schutzengel, deiner Sancho, und meiner, haben uns bisher mit wohltätiger Hand durch die eigenartigsten Geschichten geführt. Und du jammerst, statt dankbar zu sein! In welcher Zeit sind wir denn zu Hause? Und an welchem Ort? Kannst du mir das sagen? Ich jedenfalls weiss, dass ich durch die Zeiten und die Räume als ein ruheloser Wanderer gehen muss, bis sich mein Schicksal erfüllt haben wird, und ich ohne Murren annehmen will, was es mir bereitet!»
Sancho kam nicht mehr dazu, auf diese fatalistische Rede zu antworten, denn jetzt taucht ein Wesen auf, genau in der Mitte zwischen einem Menschen und einem Affen. Man mag nun einwenden, dieses Auftauchen eines Neandertalers passe erdgeschichtlich in keinster Weise zum Vorhandensein der majestätischen Silhouette des einige Zeilen weiter oben erwähnten Dinosaurus Rex. Aber die Zeiten sind in dieser Geschichte nun mal ziemlich durcheinander gerutscht. Wir können deshalb also auch nicht dafür, dass das seltsame vormenschliche Wesen nun auf die beiden Gestalten unserer Helden zuhüpft, gelächterartige Geräusche ausstossend und den Sancho am Bart, zu dem dieser wie die Jungfrau zum Kind gekommen sein muss, packend.
Das mochte als Geste der Zuneigung gemeint sein oder nicht – vielleicht erkannte der Halbaffe oder Halbmensch den Sancho als seinen fernen Nachkommen an, Blut ist, wie man weiss, dicker als Wein –, Sancho begann sich jedenfalls gegen dieses Bartziehen zu wehren, sodass sich schliesslich aus dem, was als zärtliche Neckerei begonnen hatte, ein handfestes Schlagen, Knuffen, Reissen und Beissen entwickelte, bei dem sich Sanchon nicht einmal so schlecht behauptete.
Schliesslich gelang es Don Quichotte aber doch, die beiden ineinander verkeilten Kämpfer zu trennen. Der Urmensch oder Neandertaler schnaufte nicht weniger heftig als Sancho, der den haarigen, wulstäugigen, niedrigstirnigen, langarmigen Körper seines Vorfahren voller Verachtung musterte. Dieser grunzte und gab andere nicht zu definierende Laute von sich, schüttelte die Arme und hüpfte von einem Bein aufs andere, als wollte er damit etwas Bestimmtes mitteilen. «Eine anständige Sprache scheinen die noch nicht erfunden zu haben», meinte Sancho kopfschüttelnd. Don Quichotte belehrte seinen Assistenten: «Und doch will er sich uns verständlich machen. Der gute Wille ist zu honorieren. Vielleicht verstehen wir seine Sprache auch einfach nur nicht. Sieh, wie niedlich er die Augen rollt, wie er den Arm und den Finger streckt – ich glaube, er will, dass wir ihm folgen. Er will uns etwas zeigen.» – «Vielleicht will er uns zum Essen einladen», witterte Sancho da Morgenluft, «hoffentlich haben sie wenigstens das Feuer schon erfunden. Roh schmeckt der Dinosaurierbraten sicher nicht sonderlich gut.»
Während sie ihrem neuen Freund folgten, begann es bereits wieder dämmrig zu werden – auch die gwöhnlichen Tageszeiten scheinen in dieser Geschichte etwas ausser Kontrolle geraten zu sein – und wurde bald stockdunkle Nacht. Mit beklommenem Herzen folgten die beiden Abenteuer – der widerwillige und der mutwillige – ihrem Vorfahren oder Urahnen. Der Boden, über den sie gingen, war weich und feucht; nur gut, dass unsere beiden Helden ihre Stiefel, zu denen sie im Verlauf dieser Geschichte in einem unbemerkten Moment gekommen sein müssen und wiederum wie die Jungfrau zum Kind, aus zivilisierteren Tagen in diese hoffnungslose graue finstere Vorzeit hinübergerettet hatten. Der Halbaffe oder Halbmensch ging nacktfüssig, wie sich das gehört, überhaupt trug er kein einziges Kleidungsstück ausser seinem körpereigenen Fell.
Schliesslich wurde die Dunkelheit von einem rötlich-gelben Schimmer etwas aufgehellt, und bald zeigte es sich, dass das Feuer glücklicherweise schon erfunden war. Es erhellte eine geräumige und ganz gemütliche Höhle, in der mindestens zehn Urmenschen auf Fellen hockten, zottelige Männer, Frauen und Kinder, die jetzt angesichts des Besuch, den Vati da mit nach Hause brachte, in ein aufgeregtes Geschmatze und Gegrunze ausbrachen, das aber eher erfreut als ärgerlich klang. Über dem Feuer bruzelte an einem Spiess ein enttäuschend kleines Stück Fleisch, das eher von einer Ratte als einem Dinosaurier stammte. Ausserdem roch es in der Höhle etwas streng, was die Aussicht auf eine Mahlzeit zu einer etwas zwiespältigen Sache machte. Sancho dachte mit Wehmut an die siebengängigen Menus im Palast zurück, für die er jetzt ohne Zweifel den nötigen Appetit gehabt hätte. Don Quichotte hob, um seine freundliche Absicht zu bekunden und ein Beispiel für seine sanfte Gemütsart und edle Gesinnung zu geben, zu einer grossen Rede an: «Liebe Freundlinnen, liebe Freunde, seid gegrüsst! Wir sind von weit her zu euch gekommen, von sehr weit her, nämlich aus den Tiefen der Zeit, um euch als Engel der Zukunft eine Verheissung dessen zu sein, was einst zum modernen Menschen wird aus dem in einem dumpfen geistigen Schlaf verharrenden Material der Evolution, für das ihr euch vielleicht betrübt halten möget. Aber nein! Wisset! Der Mensch ist ein Seil, über den Abgrund gespannt...» Aber weiter kam Don Quichotte nicht.
Er wurde nämlich von mehreren der Urmenschen gepackt und zu Boden gerissen. Jetzt war die Mordgier, die sich auf dieser Stufe der menschlichen Entwicklung als simple Fresslust entpuppte, in den Augen der Halbaffen ganz deutlich. Obwohl Don Quichotte bestimmt keinen wohlschmeckenden Braten abgeben würde, war er in diesen mageren Zeiten immerhin besser als nichts. Und erst unser guter Freund Sancho! Zwar auch nicht mehr der Allerzarteste, aber immerhin war an dem ganz schön was dran. Sancho, der wandelnde Festtagsschmaus! Der allerdings schrie Zeter und Mordio. «Hört auf, ihr Kannibalen, ihr Monster, ihr Menschenfresser, ihr könnt mich gar nicht fressen! So jung und zart und frisch wie ich kann ein Braten gar nicht sein, da ich doch eigentlich noch gar nicht geboren bin! Weg da, weg mit den Dreckpfoten habe ich gesagt!»
Aber an dieser Logik musste etwas falsch sein, denn die Urmenschen hielten sich an das, was ihnen ihr Magen befahl. Und so war denn das Letzte, was Sancho hörte, das Geräusch brechender Knochen (und zwar seiner eigenen) und das zufriedene Mahlen von Kiefern, denen ein gütiger Gott für einmal doch ein saftiges Stück Fleisch zwischen die Zähne gezaubert hatte (der allerdings so zart auch wieder nicht war). Des einen Leid ist des anderen Freud, hätte wohl Sancho dazu gesagt, wenn er noch etwas hätte sagen können.
Mittwoch, 24. März 2010
Montag, 22. März 2010
Traurige Jäger (26)
Er stand auf, mitten in einem Chaos von spitzen Dingen, die ihm gleichsam in den Kopf stachen. Er wusste nicht, für welche der Identitäten, von denen er geträumt hatte und die alle ganz zweifellos zu ihm gehörten, er sich entscheiden sollte. Der Mensch braucht, tritt er in der Aussenwelt auf, eine einheitliche Form. Sonst ist er verrückt. Er stand auf, die spitzen Dinge drangen in seinen Kopf, er blieb in der Schwebe zwischen den möglichen Identitäten, die von verschiedenen Seiten mit der gleichen Kraft an seinem Schwerpunkt zerrten. Er konnte sich nicht entscheiden, das heisst, es ergab sich für einen vielleicht nur winzigen Moment nicht die richtige Eindeutigkeit, nicht das, was ihn sonst beim Erwachen in die Form presste, in irgendeine Form. Der Boden schwankte, er selbst schwankte, alles schwankte. Das dauerte aber, wie gesagt, nur einen Moment. Dann, mit einem Blick auf die vielen leeren Flaschen, die er durch den Schleier vor sich auf dem Boden sah, bahnte sich die Erinnerung einen Weg in sein Hirn: Ich war besoffen, dachte er sich, und nun verfestigte sich alles auf einen Schlag. Die spitzen Dinge in seinem Kopf waren die Krallen des Katers. Die leeren Flaschen auf dem Boden Weinflaschen, Schnapsflaschen. Die Dunkelheit Dunkelheit, Dunkelheit in einem ärmlichen Zimmer, unvollständige Dunkelheit: Ein schmaler Streifen war Licht, verursacht von der Sonne, die draussen schien, denn es war schon Tag. Ja, Tag, ein Blick auf die Uhr bewies es: Mittag sogar. Das pelzige Gefühl im Hals war Durst.
Durst: Das heisst, es gab etwas zu tun. Man musste Schritte machen, Muskeln bewegen. Eigentlich ging das ganz automatisch, trotz der Schmerzen in den Gliedern. Der Impuls liess ihn wie eine Puppe tanzen. Die kleine Kammer war voller Rotz und Dreck, aber es gab in ihr nichts zu trinken. Auch im Korridor, wo es kühler war als im Zimmer, lag Unrat, war zudem ein Summen und Brummen wie von einer Legion Insekten zu hören. Sancho wunderte sich nicht über das Geräusch und fragte sich nicht nach dessen Ursache, er war es offenbar gewohnt, das Geräusch zu hören, ausserdem hatten sich bei ihm, wie wir wissen, vor kurzem erst die spitzen Dinge in Kopfschmerzen verwandelt, der pelzige Ball, an dem er herumwürgte, in Durst. Er ging so schnell wie möglich und so langsam wie nötig die Treppenstufen hinunter, er wollte nicht stürzen, mit dem Schädel auf die Stufen knallen, liegen bleiben und verrecken. In diesem Haus, dachte er, warten die Ratten doch nur darauf, dass du hilflos am Boden liegst.
Auch er, Sancho, war eine Ratte. Eine weisse Ratte mit roten, entzündeten Augen.
Jetzt war er eine Strassenratte, der das grelle Mittagslicht um die Ohren geschlagen wurde, als müsste er weich geprügelt werden. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, das Licht war spitzer, als es die spitzesten Dinge im sanften Halbdunkel gewesen waren, war überspitz, überblendete für Momente den Durst. So stand er, die Hände im Gesicht, wurde von Hunden angebellt; es stank in der Strasse wie immer nach Benzin und Kot und Leichen, wie immer, wenn er auf die Strasse trat, musste er sich übergeben. Das tat gut. Jetzt konnte er die Augen wieder öffnen. Wie immer lagen Leichen im Dreck, erstochen, verfault, gedunsen.
Er schaute sie sich gewohnheitsmässig an, drehte sie auf den Bauch, wenn sie auf dem Rücken lagen, auf den Rücken, wenn sie auf dem Bauch lagen, vielleicht gab es bei ihnen etwas zu finden. Und es gab etwas zu finden, dies war sein Glückstag. Ein dicker Mann, den die Hunde noch fast unberührt gelassen hatten, dem aber ganze Heerscharen von Ameisen aus den Ohren, den Nasenlöchern und dem Mund entströmten, trug eine Pistole in der verkrampften Hand. Neben einem anderen Kadaver, der schon fast abgenagt war bis auf die Knochen, lag wie durch ein Wunder eine noch fast unangebrachte Packung mit Tabletten.
Don Quichotte steckte ganz automatisch die Pistole in die linke, die Tabletten in die rechte Tasche. Als er um die Ecke eines verfallenden Hauses in eine Hauptstrasse einbog, begegnete ihm das erste Mal auf diesem Gang lebende Menschen: einige Ratten zuerst, dann zwei Schattenengel. Dir Ratten gehörten zu den wenigen Überlebenden der ehemaligen Menschenrasse: Sie hatten durch einen ungeheuerlichen Zufall die vierfache Katastrophe – die
Kriege, den Hunger, die Seuchen, die Zerstörung der «natürlichen Lebensgrundlagen» – überlebt. Wer oder was die Schattenengel waren, wusste Don Quichotte im Grunde nicht. Vielleicht waren es Abkömmlinge eines fremden, weit entfernten Planeten, Besucher aus dem All; vielleicht Mutanten, die sich aus dem untergehenden Menschengeschlecht entwickelt hatten – eine neue Art und Gattung von Lebewesen, genauso weit entfernt von diesem wie der «Homo sapiens» es vom Affen gewesen waren – Wesen vom Typus des «Übermenschen», wie ihn Friedrich Nietzsche, Philosoph eines lange vergangenen Jahrhunderts, in Visionen vorausgeahnt hatte. Schattenengel nannte Don Quichotte diese Wesen deshalb, weil sie von tiefschwarzer Hautfarbe waren; ansonsten aber hatte sie weder mit dem negroiden noch dem asiatischen Menschentypus etwas gemein. Diese Schattenengel hatten Gesichtszüge von im wahrsten Sinn des Wortes unbegreiflicher, un-menschlicher Schönheit, die man weder als jung noch als alt, weder als männlich noch als weiblich hätte beschreiben können. Ihre Bewegungen waren von einer solchen Grazie, dass selbst ein Nurejeff neben ihnen wie ein Tanzbär oder Gorilla gewirkt hätte. Auch schienen sie tatsächlich geschlechtslos zu sein oder vielmehr zweigeschlechtlich; Don Quichotte erinnerte sich vage an das Gleichnis aus der griechischen Philosophie von den Kugeln, die ein eifersüchtiger Gott entzweigeschnitten hatte – diese Wesen waren noch Kugeln, metaphorisch gesprochen. Sie waren ganz, männlich im Weiblichen, weiblich im Männlichen Yin im Yang und Yang im Yin. Die Schattenengel kümmerten sich in keinster Weise um die Ratten, behandelten sie wie Luft. Überhaupt strahlten ihre Augen so schwarz und entrückt (genauso genommen waren ihre Augen wie Seehundaugen, man wusste nie, ob sie einen anschauten oder nicht), als würden sie sich in ständiger Ekstase befinden. Was sie taten tagsüber oder nachts war nicht ersichtlich, es sah ganz so aus, als würden sie gar nichts Bestimmtes tun.
Sancho kümmerte sich, von seinem Durst getrieben, weder um Ratten noch Schattenengel. Da trat auch schon das «Café Universum» in sein Blickfeld. Er keuchte jetzt in der Hitze, vor seinem Mund stand Schaum. Er versuchte zu rennen, fiel hin. Lag da, vermochte nicht mehr aufzustehen. Sein herz schlug ihm schmerzhaft in den Hals. Auf seiner Brust hockte eine dicke fette Katze, die hiess Durst. Die wollte ihn zerquetschen. In seinem Kopf zog sich der Nebel rot zusammen und wurde zu einem kleinen heissen giftigen Punkt. Da erinnerte sich Sancho an den von Hunden geschändeten Kadaver, an die neben der Leiche liegende, noch fast unangebrauchte Packung Tabletten. Der bewegte seine Hand langsam zur Taschen hin, riss mit zwei Fingern unendlich mühsam die Packung auf und hatte nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, endlich eine Tablette im Mund.
Aber nun konnte er nicht schlucken. Sein Mund war trocken, wie von Papier ausgekleidet. Da rutschte seine Aufmerksamkeit in einem überwältigenden Moment der Erschöpfung den Körper hinunter in die Gegend der Lenden, wo er einen Druck spürte. Er musste pissen, und in diesem Moment liess er das Wasser auch schon fahren. Seine Finger berührten fast zärtlich das Nass, als wären sie am Verdursten. Er führte die feuchten Finger zum Mund; und jetzt konnte er auch die Tablette schlucken.
Wenige Sekunden später spürte er Kraft von der Gegend des Sonnengeflechts aus den ganzen Körper durchströmen. Ein unendliches Wohlbefinden löste seine Glieder, liess ihn aufstehen und die paar Schritte zum «Café Universum» tun. Das Café hatte riesige Dimensionen und ehemals vielleicht als Parlamentssaal oder Fabrikhalle für die Montage von Gleitern der «Moon and Mars-Company» gedient. Es war angenehm kühl hier in der Mitte der Welt, Sanchon inzwischen in Hochform. Er hatte zwar noch immer Durst, aber dieser Durst existierte gewissermassen nur noch am Rande seines Bewusstseins. Er bewegte sich wie ein Prinz im Farbenspiel der Lasershow. Oder vielleicht doch eher wie eine Prinzessin, oder eine Prinzessinnen-Mutter, mit ausladendem Sonnenhut im geblümten Kleid? Dieser Gedanke, der ihm von irgendwoher zugeflogen war, brachte ihn zum Lachen. Wie dem auch sei: Der Prinz bewegte sich auf die Bar zu, die von einer Traube von Albinoratten mit Sonnenbrillen vor den wahrscheinlich roten Augen umlagert war. Man machte der königlichen Hoheit Platz, man spürte, dass ihr Wille jetzt unbeugbar war, chemisch gepanzert, gefüllt, satt. Straff wie ehemals ein junger Leutnant in Galauniform vor seinem Kaiser. Stählern wie ein riefenstahlscher Athlet in einer Sportarena der Dreissigerjahre. Prinz Sancho von Pansa bestellte sich ein riesengrosses Glas. Er trank wie ein Mann nach Wüstenfahrt. Ahhhhhhhh! Die Prinzessinnen-Mutter dehnte sich aus, schneller, als ihr Verstand es fassen konnte, wurde unendlich, grenzenlos, alles durchdringend. Ein Fluss ohne Ufer. Griff in die Tasche, nahm eine weitere Tablette. Es hatte noch paradiesisch viele Tabletten in der Packung, es reichte für eine Ewigkeit. Das Leben war ein Schlaraffenland: Sancho trank Nektar, den Trank der Götter, aus grossen Gläsern, spülte Ambrosia (Marque déposée) hinunter ins Uferlose des riesigen Magens, in den sich alles verwandelt hatte.
Aber mit der Zeit (Zucken der Lichter, Wirbeln der Töne) genügte Don Quichotte das nicht mehr. Von seiner augenblicklichen Fallhöhe aus konnte Sancho genau erkennen, dass der rattenhaft mit der Möglichkeit der Stillung sich steigernde Durst auf diese Art nicht mehr zu befriedigen war. Don Quichotte schaute sich um. Sein Blick fiel auf einen Schattenengel, der sich wie ganz zufällig in das postmoderne Café mit den riesigen Ausmassen verirrt hatte und abwesend und entrückt einfach dastand, und nun wusste Sancho, worauf sein Hunger und sein Durst aus waren. Er nahm eine weitere Pille, trank ein neues Glas. Don Quichotte versuchte, den Blick des Schattenengels zu fassen kraft seines unbeugsamen Willens. Aber die seehundhaft schwarzen Augen des Schattenengels gaben keinerlei Antwort. Sanchos Gier wurde zur Wut.
Er schob sich an den Schattenengel heran. Dieser nahm noch immer keine Notiz von ihm. In Sanchos Kopf tönten die Textzeilen des Songs «My Passion»:
Obey me, seduce me, please me
Now touch me, adore me and serve me
I'll
harvest without
sorrow
Obey me, seduce me, please me
Now touch me, adore me and serve me
Trust me,
I'll be your guide
Die Pistole, die er erbeutet hatte, lag plötzlich glatt und schwarz in seiner Hand. Dann gab es einen trockenen Knall. Der Schattenengel fiel um, nicht wie ein sterbender Mensch, sondern wie ein Ding, das zu Boden gestossen wird.
In Don Quichotte wurde es für einen Moment der Erkenntnis ganz still. Er sah das schwarze Blut, das träge und dickflüssig wie Marmelade aus dem Schattenengel floss. Sanchos Finger, der sich hinabtasten wollte, um zu kosten, war wie steif gefroren. Eine grosse Kälte wie aus den Tiefen des Alls, schien es ihm, strömte bei diesem Impuls durch den Finger bis ans Herz. Sancho hatte Angst, eine noch viel tiefere Angst, als er sie vorher, verdurstend auf dem stinkenden Boden liegend, empfunden hatte.
Er flüchtete in Panik aus dem Café «Universum». Er fürchtete nicht, dass ihn jemand verfolgen könnte; er fürchtete, sie könnten ihn nicht verfolgen. Und es verfolgte ihn auch tatsächlich niemand. Es gab keine Polizei mehr und keine Strafverfolgung und kein Rechtssystem. Es galt das Gesetz des «Jeder gegen Jeden», es galt das Recht des Stärkeren. Niemand verfolgte ihn, und niemand wartete auf ihn, und allen war alles egal.
Durst: Das heisst, es gab etwas zu tun. Man musste Schritte machen, Muskeln bewegen. Eigentlich ging das ganz automatisch, trotz der Schmerzen in den Gliedern. Der Impuls liess ihn wie eine Puppe tanzen. Die kleine Kammer war voller Rotz und Dreck, aber es gab in ihr nichts zu trinken. Auch im Korridor, wo es kühler war als im Zimmer, lag Unrat, war zudem ein Summen und Brummen wie von einer Legion Insekten zu hören. Sancho wunderte sich nicht über das Geräusch und fragte sich nicht nach dessen Ursache, er war es offenbar gewohnt, das Geräusch zu hören, ausserdem hatten sich bei ihm, wie wir wissen, vor kurzem erst die spitzen Dinge in Kopfschmerzen verwandelt, der pelzige Ball, an dem er herumwürgte, in Durst. Er ging so schnell wie möglich und so langsam wie nötig die Treppenstufen hinunter, er wollte nicht stürzen, mit dem Schädel auf die Stufen knallen, liegen bleiben und verrecken. In diesem Haus, dachte er, warten die Ratten doch nur darauf, dass du hilflos am Boden liegst.
Auch er, Sancho, war eine Ratte. Eine weisse Ratte mit roten, entzündeten Augen.
Jetzt war er eine Strassenratte, der das grelle Mittagslicht um die Ohren geschlagen wurde, als müsste er weich geprügelt werden. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, das Licht war spitzer, als es die spitzesten Dinge im sanften Halbdunkel gewesen waren, war überspitz, überblendete für Momente den Durst. So stand er, die Hände im Gesicht, wurde von Hunden angebellt; es stank in der Strasse wie immer nach Benzin und Kot und Leichen, wie immer, wenn er auf die Strasse trat, musste er sich übergeben. Das tat gut. Jetzt konnte er die Augen wieder öffnen. Wie immer lagen Leichen im Dreck, erstochen, verfault, gedunsen.
Er schaute sie sich gewohnheitsmässig an, drehte sie auf den Bauch, wenn sie auf dem Rücken lagen, auf den Rücken, wenn sie auf dem Bauch lagen, vielleicht gab es bei ihnen etwas zu finden. Und es gab etwas zu finden, dies war sein Glückstag. Ein dicker Mann, den die Hunde noch fast unberührt gelassen hatten, dem aber ganze Heerscharen von Ameisen aus den Ohren, den Nasenlöchern und dem Mund entströmten, trug eine Pistole in der verkrampften Hand. Neben einem anderen Kadaver, der schon fast abgenagt war bis auf die Knochen, lag wie durch ein Wunder eine noch fast unangebrachte Packung mit Tabletten.
Don Quichotte steckte ganz automatisch die Pistole in die linke, die Tabletten in die rechte Tasche. Als er um die Ecke eines verfallenden Hauses in eine Hauptstrasse einbog, begegnete ihm das erste Mal auf diesem Gang lebende Menschen: einige Ratten zuerst, dann zwei Schattenengel. Dir Ratten gehörten zu den wenigen Überlebenden der ehemaligen Menschenrasse: Sie hatten durch einen ungeheuerlichen Zufall die vierfache Katastrophe – die
Kriege, den Hunger, die Seuchen, die Zerstörung der «natürlichen Lebensgrundlagen» – überlebt. Wer oder was die Schattenengel waren, wusste Don Quichotte im Grunde nicht. Vielleicht waren es Abkömmlinge eines fremden, weit entfernten Planeten, Besucher aus dem All; vielleicht Mutanten, die sich aus dem untergehenden Menschengeschlecht entwickelt hatten – eine neue Art und Gattung von Lebewesen, genauso weit entfernt von diesem wie der «Homo sapiens» es vom Affen gewesen waren – Wesen vom Typus des «Übermenschen», wie ihn Friedrich Nietzsche, Philosoph eines lange vergangenen Jahrhunderts, in Visionen vorausgeahnt hatte. Schattenengel nannte Don Quichotte diese Wesen deshalb, weil sie von tiefschwarzer Hautfarbe waren; ansonsten aber hatte sie weder mit dem negroiden noch dem asiatischen Menschentypus etwas gemein. Diese Schattenengel hatten Gesichtszüge von im wahrsten Sinn des Wortes unbegreiflicher, un-menschlicher Schönheit, die man weder als jung noch als alt, weder als männlich noch als weiblich hätte beschreiben können. Ihre Bewegungen waren von einer solchen Grazie, dass selbst ein Nurejeff neben ihnen wie ein Tanzbär oder Gorilla gewirkt hätte. Auch schienen sie tatsächlich geschlechtslos zu sein oder vielmehr zweigeschlechtlich; Don Quichotte erinnerte sich vage an das Gleichnis aus der griechischen Philosophie von den Kugeln, die ein eifersüchtiger Gott entzweigeschnitten hatte – diese Wesen waren noch Kugeln, metaphorisch gesprochen. Sie waren ganz, männlich im Weiblichen, weiblich im Männlichen Yin im Yang und Yang im Yin. Die Schattenengel kümmerten sich in keinster Weise um die Ratten, behandelten sie wie Luft. Überhaupt strahlten ihre Augen so schwarz und entrückt (genauso genommen waren ihre Augen wie Seehundaugen, man wusste nie, ob sie einen anschauten oder nicht), als würden sie sich in ständiger Ekstase befinden. Was sie taten tagsüber oder nachts war nicht ersichtlich, es sah ganz so aus, als würden sie gar nichts Bestimmtes tun.
Sancho kümmerte sich, von seinem Durst getrieben, weder um Ratten noch Schattenengel. Da trat auch schon das «Café Universum» in sein Blickfeld. Er keuchte jetzt in der Hitze, vor seinem Mund stand Schaum. Er versuchte zu rennen, fiel hin. Lag da, vermochte nicht mehr aufzustehen. Sein herz schlug ihm schmerzhaft in den Hals. Auf seiner Brust hockte eine dicke fette Katze, die hiess Durst. Die wollte ihn zerquetschen. In seinem Kopf zog sich der Nebel rot zusammen und wurde zu einem kleinen heissen giftigen Punkt. Da erinnerte sich Sancho an den von Hunden geschändeten Kadaver, an die neben der Leiche liegende, noch fast unangebrauchte Packung Tabletten. Der bewegte seine Hand langsam zur Taschen hin, riss mit zwei Fingern unendlich mühsam die Packung auf und hatte nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, endlich eine Tablette im Mund.
Aber nun konnte er nicht schlucken. Sein Mund war trocken, wie von Papier ausgekleidet. Da rutschte seine Aufmerksamkeit in einem überwältigenden Moment der Erschöpfung den Körper hinunter in die Gegend der Lenden, wo er einen Druck spürte. Er musste pissen, und in diesem Moment liess er das Wasser auch schon fahren. Seine Finger berührten fast zärtlich das Nass, als wären sie am Verdursten. Er führte die feuchten Finger zum Mund; und jetzt konnte er auch die Tablette schlucken.
Wenige Sekunden später spürte er Kraft von der Gegend des Sonnengeflechts aus den ganzen Körper durchströmen. Ein unendliches Wohlbefinden löste seine Glieder, liess ihn aufstehen und die paar Schritte zum «Café Universum» tun. Das Café hatte riesige Dimensionen und ehemals vielleicht als Parlamentssaal oder Fabrikhalle für die Montage von Gleitern der «Moon and Mars-Company» gedient. Es war angenehm kühl hier in der Mitte der Welt, Sanchon inzwischen in Hochform. Er hatte zwar noch immer Durst, aber dieser Durst existierte gewissermassen nur noch am Rande seines Bewusstseins. Er bewegte sich wie ein Prinz im Farbenspiel der Lasershow. Oder vielleicht doch eher wie eine Prinzessin, oder eine Prinzessinnen-Mutter, mit ausladendem Sonnenhut im geblümten Kleid? Dieser Gedanke, der ihm von irgendwoher zugeflogen war, brachte ihn zum Lachen. Wie dem auch sei: Der Prinz bewegte sich auf die Bar zu, die von einer Traube von Albinoratten mit Sonnenbrillen vor den wahrscheinlich roten Augen umlagert war. Man machte der königlichen Hoheit Platz, man spürte, dass ihr Wille jetzt unbeugbar war, chemisch gepanzert, gefüllt, satt. Straff wie ehemals ein junger Leutnant in Galauniform vor seinem Kaiser. Stählern wie ein riefenstahlscher Athlet in einer Sportarena der Dreissigerjahre. Prinz Sancho von Pansa bestellte sich ein riesengrosses Glas. Er trank wie ein Mann nach Wüstenfahrt. Ahhhhhhhh! Die Prinzessinnen-Mutter dehnte sich aus, schneller, als ihr Verstand es fassen konnte, wurde unendlich, grenzenlos, alles durchdringend. Ein Fluss ohne Ufer. Griff in die Tasche, nahm eine weitere Tablette. Es hatte noch paradiesisch viele Tabletten in der Packung, es reichte für eine Ewigkeit. Das Leben war ein Schlaraffenland: Sancho trank Nektar, den Trank der Götter, aus grossen Gläsern, spülte Ambrosia (Marque déposée) hinunter ins Uferlose des riesigen Magens, in den sich alles verwandelt hatte.
Aber mit der Zeit (Zucken der Lichter, Wirbeln der Töne) genügte Don Quichotte das nicht mehr. Von seiner augenblicklichen Fallhöhe aus konnte Sancho genau erkennen, dass der rattenhaft mit der Möglichkeit der Stillung sich steigernde Durst auf diese Art nicht mehr zu befriedigen war. Don Quichotte schaute sich um. Sein Blick fiel auf einen Schattenengel, der sich wie ganz zufällig in das postmoderne Café mit den riesigen Ausmassen verirrt hatte und abwesend und entrückt einfach dastand, und nun wusste Sancho, worauf sein Hunger und sein Durst aus waren. Er nahm eine weitere Pille, trank ein neues Glas. Don Quichotte versuchte, den Blick des Schattenengels zu fassen kraft seines unbeugsamen Willens. Aber die seehundhaft schwarzen Augen des Schattenengels gaben keinerlei Antwort. Sanchos Gier wurde zur Wut.
Er schob sich an den Schattenengel heran. Dieser nahm noch immer keine Notiz von ihm. In Sanchos Kopf tönten die Textzeilen des Songs «My Passion»:
Obey me, seduce me, please me
Now touch me, adore me and serve me
I'll
harvest without
sorrow
Obey me, seduce me, please me
Now touch me, adore me and serve me
Trust me,
I'll be your guide
Die Pistole, die er erbeutet hatte, lag plötzlich glatt und schwarz in seiner Hand. Dann gab es einen trockenen Knall. Der Schattenengel fiel um, nicht wie ein sterbender Mensch, sondern wie ein Ding, das zu Boden gestossen wird.
In Don Quichotte wurde es für einen Moment der Erkenntnis ganz still. Er sah das schwarze Blut, das träge und dickflüssig wie Marmelade aus dem Schattenengel floss. Sanchos Finger, der sich hinabtasten wollte, um zu kosten, war wie steif gefroren. Eine grosse Kälte wie aus den Tiefen des Alls, schien es ihm, strömte bei diesem Impuls durch den Finger bis ans Herz. Sancho hatte Angst, eine noch viel tiefere Angst, als er sie vorher, verdurstend auf dem stinkenden Boden liegend, empfunden hatte.
Er flüchtete in Panik aus dem Café «Universum». Er fürchtete nicht, dass ihn jemand verfolgen könnte; er fürchtete, sie könnten ihn nicht verfolgen. Und es verfolgte ihn auch tatsächlich niemand. Es gab keine Polizei mehr und keine Strafverfolgung und kein Rechtssystem. Es galt das Gesetz des «Jeder gegen Jeden», es galt das Recht des Stärkeren. Niemand verfolgte ihn, und niemand wartete auf ihn, und allen war alles egal.
Donnerstag, 18. März 2010
Another Brick in The Wall (2)
«Ich war nie sehr wählerisch bei dem, was ich tat. Ich war mit allem einverstanden, hielt meine Termine ein, beklagte mich nie, schrieb lesbar. Kurzum, ich war ein gewissenhafter Mensch. Wo andere Kollegen schluderten, leistete ich manierliche Arbeit. Ich verzog nie eine Miene, auch nicht, wenn das Honorar niedrig war. Wenn nachts um halb drei ein Anruf kam, ob ich bis sechs Uhr morgens zwanzig Seiten (zum Thema Vorteile analoger Uhren oder Der Charme von Frauen in den Vierzigern oder Die Schönheit von Helsiniki, wo ich natürlich noch nie gewesen war) abliefern könne, war ich schon um halb sechs fertig. Und wenn sie mich um eine Überarbeitung baten, hatte ich das bis sechs Uhr erledigt. Kein Wunder, dass ich einen guten Ruf hatte.
Es war wie Schneeschaufeln.
Wenn es schneite, leistete ich hocheffiziente Räumarbeit.
Ohne ein Fünkchen Ehrgeiz, ohne die geringste Erwartung. Es ging mir lediglich darum, Dinge systematisch zu erledigen, eins nach dem anderen. Manchmal fragte ich mich natürlich, ob ich mein Leben nicht verplemperte. Aber abgesehen davon, so lautete mein Fazit, hatte ich kein Recht, mich darüber aufzuregen, dass Papier und Tinte verschwendet wurde. Wir leben schliesslich in einer hochkapitalistischen Gesellschaft. Verschwendung gilt hier als höchste Tugend. Politiker nennen es «Verfeinerung des einheimischen Konsums». Ich hingegen nenne es sinnlose Verschwendung. Die Auffassungen unterscheiden sich eben. Doch trotz dieser Differenzen ist es nun einmal die Gesellschaft, in der wir leben. Wenn mir das nicht passt, kann ich ja auswandern, nach Bangladesch oder in den Sudan.
Ich brannte nicht darauf, in Bangladesch oder im Sudan zu leben.
Also erledigte ich stillschweigend meine Arbeit.»
Haruki Murakami, in: Tanz mit dem Schafsmann.
Es war wie Schneeschaufeln.
Wenn es schneite, leistete ich hocheffiziente Räumarbeit.
Ohne ein Fünkchen Ehrgeiz, ohne die geringste Erwartung. Es ging mir lediglich darum, Dinge systematisch zu erledigen, eins nach dem anderen. Manchmal fragte ich mich natürlich, ob ich mein Leben nicht verplemperte. Aber abgesehen davon, so lautete mein Fazit, hatte ich kein Recht, mich darüber aufzuregen, dass Papier und Tinte verschwendet wurde. Wir leben schliesslich in einer hochkapitalistischen Gesellschaft. Verschwendung gilt hier als höchste Tugend. Politiker nennen es «Verfeinerung des einheimischen Konsums». Ich hingegen nenne es sinnlose Verschwendung. Die Auffassungen unterscheiden sich eben. Doch trotz dieser Differenzen ist es nun einmal die Gesellschaft, in der wir leben. Wenn mir das nicht passt, kann ich ja auswandern, nach Bangladesch oder in den Sudan.
Ich brannte nicht darauf, in Bangladesch oder im Sudan zu leben.
Also erledigte ich stillschweigend meine Arbeit.»
Haruki Murakami, in: Tanz mit dem Schafsmann.
Mittwoch, 17. März 2010
Venezianische Freundschaft
«Darin ist das ganze Phänomen seiner grossen, wenn auch labilen Schönheit enthalten, die Tatsache, dass er einen halböffentlichen Körper besitzt – man wird von seinem Körper angesprochen. Mit seiner Zielstrebigkeit, mit jener Willensstärke, die seinen Handlungen eingraviert ist, und mit seiner Autorität als exhibitionistische Gestalt repräsentiert er wahrlich den Glanz der Welt. Hier glimmt das Schicksal auf, eine gewaltige, im Dunkeln lauernde Macht, und man nimmt wahr, wie prachtvoll und skandalös es ist, am Leben zu sein.»
aus: Harold Brodkey: Profane Freundschaft. Rowohlt Verlag
Kaum eine Stadt ist Gegenstand so vieler Romane wie Venedig. Beliebt ist die Stadt vor allem bei amerikanischen Autoren, man denke nur an Patricia Highsmith (Venedig kann sehr kalt sein) oder Donna Leon (Brunetti-Kriminalromane). Aber natürlich zehren auch deutsche Dichter vom Fluidum dieser Stadt (Thomas Mann, Franz Werfel).
Montag, 15. März 2010
Traurige Jäger (25)
Am andern Morgen schmerzte zwar der Kopf und der Geschmack im Mund war eklig, aber seine Erregung hatte sich ein wenig gelegt. Der gesunde Menschenverstand hatte wieder die Oberhand gewonnen. Gewissermassen über Nacht war in ihm zudem der Entschluss gereift, baldest möglich abzureisen, nicht erst in zwei Wochen, sondern schon morgen oder übermorgen. Die Aussagen des komischen farbigen Arztes konnten doch einfach nicht stimmen. Diese ungeheuerliche Geschichte war lächerlich, abstrus, einem paranoiden Gehirn entsprungen. Er würde sich von einem Arzt untersuchen lassen, einem echten, medizinischen
Arzt, damit wäre alles geklärt und bewiesen, und er würde später eine Glosse über die angebliche Krankheit im Land der Gesundheit schreiben. Andererseits erinnerte sich Sancho noch immer voller Widerwillen an gewisse Dinge, zu denen er sich in Misericordia hatte hinreissen lassen und die ihm, wenn er daran dachte, die blutrote Scham in die Wangen trieben.
Zum Frühstück nahm Sancho nur schwarzen Kaffee und eine Kopfwehtablette. Dann erkundigte er sich bei einer Angestellten des Hotels, die natürlich mit Schwester anzureden war und auch wie eine echte Krankenschwester aussah, nach einem Arzt, einem Doktor der Medizin; er fühle sich nicht ganz wohl. Was er denn habe, fragte die Schwester, ein Drache, wie er im Buch stand, eine impertinente Person, die einem kopfwehgeplagten Menschen den Rest geben konnte. Ob denn nicht sie helfen könne; er, Sancho, wisse es vielleicht nicht, aber alle Frauen in Misericordia seien in der Behandlung leichterer Unpässlichkeiten bestens geschult. Es handle sich um eine intime Unpässlichkeit, und auch um mehr als eine Unpässlichkeit, log er, eine gewissermassen psychosomatische, die unmöglich mit einer Frau verhandeln könne und wolle. Die Schwester schaute ihn tadelnd und mit wenig Sympathie in den Augen an. Sie werde sehen, was sich tun lasse, meinte sie, und verschwand, um zu telefonieren. Es dauerte eine ganze Weile. Warum muss die jetzt auch so lange telefonieren, dachte Sancho nervös. Sancho hätte jetzt gern ein Bier gehabt, nur ein kleines, gegen die Nervosität und den Kater. Als der Drachen endlich vom Telefonieren zurückkam, sagte sie mit einem Mund, als hätte sie soeben etwas Bitteres gegessen: «Gut, man ist bereit, Sie kurzfristig zu einer Konsultation zu empfangen. Weil Sie ein Gast unseres Landes sind. In zwei Stunden können Sie bei Professor Doktor Ochsenknecht vorsprechen. Er ist ein berühmter Venerologe. Ein Forscher. Er empfängt sonst keine Patienten», fühlte sie sich bemüssigt, in strengem Ton hinzu zu fügen.
Dr. Ochsenknecht war ein kräftiger Mann wie ein Stier, mit breiten Schultern und für eine Kapazität erstaunlich jung. Er hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug enge weisse Lederhosen, die seinen Schritt auffällig betonten. Als Sancho zu sprechen anfangen wollte, hiess der Doktor ihn mit einer gebieterischen Geste zu schweigen. Noch während er von dem schweigsamen Arzt auf das Gründlichste untersucht wurde, wusste Sancho, dass er diese Untersuchung ebenso gut hätte bleiben lassen können. Es gab nichts auf der Welt, das ihm seinen Seelenfrieden hätte zurück bringen können. Die Frage, ob er krank war oder nicht, schien auf dieser Ebene plötzlich absurd.
«Sie sind vollkommen gesund», waren die ersten Worte des Arztes, «so gesund, wie man sein kann bei dem Lebenswandel, den Sie führen. Aber das wissen Sie wohl selbst. Es gibt bei uns in Misericordia wirklich keine unheilbaren Krankheiten mehr. Misericordia ist zwar noch nicht das Paradies auf Erden, aber in diesem Punkt sind wir dem Paradies immerhin ein gutes Stück näher gerückt. Krankheiten sind Schnee von gestern. Wir beschäftigen uns längst mit anderem: mit der physischen Unsterblichkeit, der ewigen Jugend, der endgültigen Beseitigung von Angst, Schmerz und Unlust. Das ist alles eine Frage der Hirnchemie. Alle Probleme und Spannungen fallen von Ihnen ab. Sie fühlen sich leicht und frei. Alles ist gut.»
Nach der Konsultation eilte Sancho sofort in den Keller, denn wenn er sich jetzt auch ganz leicht und frei fühlte und alles gut war, so brauchte er jetzt doch immer noch ein kleines oder mittleres Bier gegen die Nervosität und den Kater. Auch hegte er die wahnwitzige Hoffnung, noch einmal auf seinen gestrigen Gesprächspartner zu stossen. Aber es war überhaupt niemand in dem Lokal, ausser natürlich dem lakonischen Barkeeper. Das enttäuschte Sancho auf übertriebene Weise, wie er selber fand; er fühlte sich wie ein Kind, dem man seine Weihnachtsüberraschung vorenthält. Diese Enttäuschung und Verlorenheit liess sich auch mit ein paar Bieren nicht wegspülen. Er versuchte, sich an dem tröstlichen Gedanken empor zu ranken und aufzurichten, dass er dann Misericordia morgen schon weit hinter sich gelassen haben, mit seinen Freunden in der «Merkur»-Bar sitzen und auf das Ganze wie auf einen absurden Alptraum zurück blicken werde. Aber gleichzeitig schien es ihm, als ob das unmöglich, Misericordia auch anderswo und überall sei. So, wie auch Don Quichotte überall war, in jeder Welt, in die sich Sancho verirrte. Überhaupt, Don Quichotte! Sancho begann, seinen hageren Freund zu verstehen. Don Quichotte hatte Heimweh nach Toboso, seinem Planeten. Auch er, Sancho, hatte Heimweh, nur war dieses nicht benennbar, weil er sein heiliges Land noch gar nicht kannte und es dieses vielleicht noch nicht einmal gab. Also war dieses Heimweh vielleicht doch eher ein Fernweh, gegen das es einmal mehr anzutrinken galt.
Arzt, damit wäre alles geklärt und bewiesen, und er würde später eine Glosse über die angebliche Krankheit im Land der Gesundheit schreiben. Andererseits erinnerte sich Sancho noch immer voller Widerwillen an gewisse Dinge, zu denen er sich in Misericordia hatte hinreissen lassen und die ihm, wenn er daran dachte, die blutrote Scham in die Wangen trieben.
Zum Frühstück nahm Sancho nur schwarzen Kaffee und eine Kopfwehtablette. Dann erkundigte er sich bei einer Angestellten des Hotels, die natürlich mit Schwester anzureden war und auch wie eine echte Krankenschwester aussah, nach einem Arzt, einem Doktor der Medizin; er fühle sich nicht ganz wohl. Was er denn habe, fragte die Schwester, ein Drache, wie er im Buch stand, eine impertinente Person, die einem kopfwehgeplagten Menschen den Rest geben konnte. Ob denn nicht sie helfen könne; er, Sancho, wisse es vielleicht nicht, aber alle Frauen in Misericordia seien in der Behandlung leichterer Unpässlichkeiten bestens geschult. Es handle sich um eine intime Unpässlichkeit, und auch um mehr als eine Unpässlichkeit, log er, eine gewissermassen psychosomatische, die unmöglich mit einer Frau verhandeln könne und wolle. Die Schwester schaute ihn tadelnd und mit wenig Sympathie in den Augen an. Sie werde sehen, was sich tun lasse, meinte sie, und verschwand, um zu telefonieren. Es dauerte eine ganze Weile. Warum muss die jetzt auch so lange telefonieren, dachte Sancho nervös. Sancho hätte jetzt gern ein Bier gehabt, nur ein kleines, gegen die Nervosität und den Kater. Als der Drachen endlich vom Telefonieren zurückkam, sagte sie mit einem Mund, als hätte sie soeben etwas Bitteres gegessen: «Gut, man ist bereit, Sie kurzfristig zu einer Konsultation zu empfangen. Weil Sie ein Gast unseres Landes sind. In zwei Stunden können Sie bei Professor Doktor Ochsenknecht vorsprechen. Er ist ein berühmter Venerologe. Ein Forscher. Er empfängt sonst keine Patienten», fühlte sie sich bemüssigt, in strengem Ton hinzu zu fügen.
Dr. Ochsenknecht war ein kräftiger Mann wie ein Stier, mit breiten Schultern und für eine Kapazität erstaunlich jung. Er hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug enge weisse Lederhosen, die seinen Schritt auffällig betonten. Als Sancho zu sprechen anfangen wollte, hiess der Doktor ihn mit einer gebieterischen Geste zu schweigen. Noch während er von dem schweigsamen Arzt auf das Gründlichste untersucht wurde, wusste Sancho, dass er diese Untersuchung ebenso gut hätte bleiben lassen können. Es gab nichts auf der Welt, das ihm seinen Seelenfrieden hätte zurück bringen können. Die Frage, ob er krank war oder nicht, schien auf dieser Ebene plötzlich absurd.
«Sie sind vollkommen gesund», waren die ersten Worte des Arztes, «so gesund, wie man sein kann bei dem Lebenswandel, den Sie führen. Aber das wissen Sie wohl selbst. Es gibt bei uns in Misericordia wirklich keine unheilbaren Krankheiten mehr. Misericordia ist zwar noch nicht das Paradies auf Erden, aber in diesem Punkt sind wir dem Paradies immerhin ein gutes Stück näher gerückt. Krankheiten sind Schnee von gestern. Wir beschäftigen uns längst mit anderem: mit der physischen Unsterblichkeit, der ewigen Jugend, der endgültigen Beseitigung von Angst, Schmerz und Unlust. Das ist alles eine Frage der Hirnchemie. Alle Probleme und Spannungen fallen von Ihnen ab. Sie fühlen sich leicht und frei. Alles ist gut.»
Nach der Konsultation eilte Sancho sofort in den Keller, denn wenn er sich jetzt auch ganz leicht und frei fühlte und alles gut war, so brauchte er jetzt doch immer noch ein kleines oder mittleres Bier gegen die Nervosität und den Kater. Auch hegte er die wahnwitzige Hoffnung, noch einmal auf seinen gestrigen Gesprächspartner zu stossen. Aber es war überhaupt niemand in dem Lokal, ausser natürlich dem lakonischen Barkeeper. Das enttäuschte Sancho auf übertriebene Weise, wie er selber fand; er fühlte sich wie ein Kind, dem man seine Weihnachtsüberraschung vorenthält. Diese Enttäuschung und Verlorenheit liess sich auch mit ein paar Bieren nicht wegspülen. Er versuchte, sich an dem tröstlichen Gedanken empor zu ranken und aufzurichten, dass er dann Misericordia morgen schon weit hinter sich gelassen haben, mit seinen Freunden in der «Merkur»-Bar sitzen und auf das Ganze wie auf einen absurden Alptraum zurück blicken werde. Aber gleichzeitig schien es ihm, als ob das unmöglich, Misericordia auch anderswo und überall sei. So, wie auch Don Quichotte überall war, in jeder Welt, in die sich Sancho verirrte. Überhaupt, Don Quichotte! Sancho begann, seinen hageren Freund zu verstehen. Don Quichotte hatte Heimweh nach Toboso, seinem Planeten. Auch er, Sancho, hatte Heimweh, nur war dieses nicht benennbar, weil er sein heiliges Land noch gar nicht kannte und es dieses vielleicht noch nicht einmal gab. Also war dieses Heimweh vielleicht doch eher ein Fernweh, gegen das es einmal mehr anzutrinken galt.
Sonntag, 7. März 2010
Vorsatz
Einen Roman (oder eine Erzählung) schreiben mit dem Titel «Desaster. Auf der Kriechspur des Lebens».
Samstag, 6. März 2010
Traurige Jäger (24)
Nach getaner Arbeit betrat Sancho erneut einen der Keller, die behördlicherseits ignoriert wurden, aber es war nicht Claudes Keller, vielleicht gab es Claudes verruchten Keller wirklich nicht und hatte ihn nie gegeben, vielleicht hatte er, Sancho Pansa, Journalist mit Embonpoint, Halluzinationen gehabt, was wusste man schon in diesem verfluchten Land der chemischen Substanzen, ein Getränk, eine Speise konnten vergiftet sein, es galt auf jeden Fall aufzupassen. Trotzdem trank er, Sancho Pansa, leidenschaftlicher Porschefahrer, in langsamen Schlucken das Bier, das vor ihm stand. Sancho war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht merkte, wie sich jemand neben ihn setzte. «Darf ich Sie etwas fragen?» fragte dieser Jemand zu Sancho herüber. Es war ein etwa fünfundvierzigjähriger, grosser und dicker Mann mit grauen Strähnen im Haar und auch in dem sehr gepflegten Schnurrbart. «Schon passiert», sagte Sancho mit einer vagen Handbewegung. Der Mann war sorgfältig, aber nicht geschmackvoll gekleidet, in Farben, die Sanchos Meinung nach nicht zueinender passten. Das Hemd zum Beispiel war zu pink, die Krawatte zu hellblau, mit zu gelben Punkten getüpfelt, er trug, wie das in diesen Kellern üblich war, nicht das offizielle Weiss, wein Anzug war in einem zarten Hellgrün gehalten. Ein Papagei, dachte Sancho, ein Paradiesvogel. Viele, auch nicht zu einander passende Farben zu tragen entsprach wohl in Misericordia einem kompensatorischen Bedürfnis. «Sie sind, wie ich gehört habe, ein ausländischer Journalist?» fragte der Mann in höflichem Tonfall. «Woher wissen Sie das?» Sancho war etwas alarmiert. «Ach», sagte der Mann obenhin, «von irgendwoher. Gerüchte. Klatsch. Ich weiss es nicht mehr, ehrlich. Da einer wie Sie in Misericordia Seltenheitswert hat, sind Sie natürlich eine Sensation. Und in gewisser Hinsicht ist Misericordia City ein grosses Dorf. Man sieht Ihnen den Ausländer übrigens von weitem an», meinte der farbige Herr schelmisch und drohte scherzhaft mit dem Finger. «Wieso?» fragte Sancho perplex. «Nun, Sie wirken ein bisschen… verwildert. Schön verwildert. Frei.» Sancho winkte ab. «Bei uns ist auch nicht alles Gold, was glänzt», meinte er grosszügig, «Mensch bleibt schliesslich Mensch – bei allen ethnischen, kulturellen und politischen Unterschieden.» Immer beim Bier hatte Sancho den Hang zu banalen Redensarten. «Der Mensch ist des Menschen Wolf – auch wenn gleichzeitig alle Menschen Brüder sind. Und Schwestern», fügte er ziemlich zusammenhangslos bei. Sancho lachte. «Was wollten Sie mich also fragen?» – «Sie haben natürlich auch bemerkt, mein Verehrter, dass wir Misericordianer, bildlich gesprochen, in zwei verschiedenen Stiefeln herumlaufen. Herumhinken. Herumtorkeln. Dass auch wir zwei Seelen…» – «Sicher habe ich gewisse Widersprüche zwischen Theorie und Praxis wahrgenommen. Ist ja logisch. Solche Widersprüche gibt es überall. Vielleicht sind sie anderswo nicht ganz so krass wie bei euch. Nehmen wir nur mal diese Kneipe…» – «Und?» unterbrach ihn der farblich nicht zueinender passende Herr. «Werden Sie über diese Widersprüche in Ihrer Zeitung berichten?» – «Aber klar doch, aber sicher, schliesslich bin ich Journalist und kein PR-Heini! Ich werde das ganze ein bisschen humoristisch-satirisch verpacken und im Rahmen des Schicklichen… Hören Sie, was wollen Sie eigentlich? Ich bin hier Gast und… Das journalistische Gewissen hat ein grosses Herz, wenn Sie mir dieses schiefe Bild erlauben. Widersprüche gibt es, wie gesagt, überall, und die Leser unserer Medien wollen sowohl printmässig wie auch online in allererster Linie unterhalten werden.» Sancho wusste gar nicht, was ihn dazu brachte, so viel zu reden. Vielleicht doch eine Droge? «Ich weiss», seufzte der farbige Herr, «es geht um das, worum es immer geht: Um Reklame, Absatz, Umsatz, Geld…Werden Sie dafür, dass Sie diplomatisch bleiben, auch entsprechend bezahlt?» Der Herr fragte das im gleichen, sachlich-höflichen Tonfall. «Also bitte, erlauben Sie mal!» protestierte Sancho mit rotem Kopf. «Nein, ich werde natürlich nicht dafür bezahlt, dass ich diplomatisch bleibe. Ich werde natürlich von meinem Arbeitgeber bezahlt, und der wiederum wird von den Inserenten bezahlt, aber die Redaktion ist natürlich strikt unabhängig.» – «Warum schweigen Sie dann zu dem Skandal, der sich in Misericordia nicht ereignet, sondern der Misericordia ist!» – «Ich schweige ja gar nicht. Ich werde, wie gesagt, im Rahmen meiner Möglichkeiten und so objektiv wie möglich… Ich weiss ja gar nicht, worüber ich schweigen sollte, falls ich darüber schweigen möchte! Ach, das ist alles zu kompliziert. Ich kriege regelmässig Kopfschmerzen, wenn ich über Misericordia nachdenke. Gewiss, Misericordia ist ein seltsames Land, ein Land mit für mich exotischen Sitten. Aber so seltsam und exotisch denn auch wieder mich. Manches hier ist mir nur allzu vertraut. Einiges glaube ich zu verstehen, anderes lässt mich völlig ratlos, kann ich in keinster Weise in mein Weltbild platzieren. Ich begreife zum Beispiel nicht, was mit mir ganz persönlich vorgeht, seit ich in Misericordia bin. Ich glaube, dieses Land spielt ein Verwirrspiel mit mir. Deshalb bin ich lieber ein bisschen vorsichtig. Ich halte nichts von jenen Haudrauf-Journalisten, die meinen, partout die Helden spielen zu müssen. Kriegsberichterstatter, Frontschweine – das sind doch alles Desperados und Spinner. Ich tue meinen Job, das ist alles. – Wer garantiert mir eigentlich, dass Sie nicht auch zu jener ominösen Gegenseite gehören, die es in einem paranoiden Land wie Misericordia einfach geben muss? Vielleicht gehören Sie ja zu den Hals-, Nasen-, Augen- und vor allem Ohrenärzten! Wer garantiert mir, dass Sie überhaupt wirklich sind – was immer das heissen mag – und nicht ein Trugbild, ein Phantom, chemisch erzeugt in meinem Hirn? Gott, es ist wirklich nicht leicht, unter solchen Voraussetzungen Journalist zu sein.» – «Da haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen», antwortete der bunte Hund von einem Herrn betrübt, «die Wirklichkeit von wem oder was auch immer kann Ihnen niemand garantieren. Umgekehrt gilt natürlich auch. Wir befinden uns in einer Erkenntnisfalle. Also müssen wir von der Hypothese ausgehen, dass wir uns beide zumindest auf der gleichen fiktiven Ebene befinden, sollte es uns denn etwas an handfester Realität mangeln. Denn wie können Sie mich halluzinieren, während ich gleichzeitig Sie halluziniere? Das wäre ein eigenartiger Zufall. Aber zugegeben – ausgeschlossen ist es nicht. – Ich muss Ihnen übrigens einen Gruss ausrichten. Vom schönen Claude.» Der Herr schaute ernst. «Das heisst, so schön ist er nicht mehr, der schöne Claude.» «Von Claude?» Sancho war erstaunt, ja erschrocken. «Ja, ist denn Claude…?» – «Er wurde interniert. Ins Hospital verfrachtet. Traurig, aber wahr. Andererseits aber auch nicht allzu verwunderlich. Claude hatte schon immer eine besondere Begabung, mit dem DmG in Konflikt zu geraten. Ausserdem ist es nämlich ganz und gar nicht so, dass es in Misericordia keine Krankheiten mehr gibt. Gewiss, es wurde die eine oder andere Krankheit überwunden, dafür tauchte umgehend eine neue auf. Diese Mär von der ausserordentlichen Gesundheit der Misericordianer ist eine reine Propaganda lüge, gut für die Pharmaindustrie und ihre Exporte. Aber das wissen Sie ja. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass seit einiger Zeit eine mysteriöse Krankheit in Misericordia grassiert (und, soviel wir wissen, grassiert sie vorläufig nur in Misericordia, Folge der Abschottung des Landes), die konsequent tödlich ist und gegen die man bis vor Kurzem weder ein Heilmittel noch einen Impfstoff kannte. Wäre das offiziell bekannt geworden, hätte es bestimmt unangenehme Folgen für die Glaubwürdigkeit des Systems und das internationale Ansehen dieses Landes gehabt, und es wäre sehr schlecht für die Exportquote unserer Pharmaindustrie gewesen. Jetzt scheint diese Industrie vor einem entscheidenden Durchbruch zu stehen, wie gemunkelt wird. Man rechnet also damit in Kürze ein Heilmittel und vor allem einen entsprechenden Impfstoff zu finden. Es handelt sich bei der Krankheit, von der hier diem Rede ist, übrigens um eine Virusinfektion. Die hauptsächlich durch Geschlechtsverkehr übertragen wird. Wann haben Sie eigentlich vor, Misericordia wieder zu verlassen?» – «In etwa zwei Wochen läuft meine Aufenthaltsbewilligung aus.» – «Dann nehmen Sie sich in Acht, mein Herr», sagte der Herr uns schwieg.
Auch Sancho schwieg. Er erinnerte sich an seine Ankunft in Misericordia, an seine Verhaftung danach, an die traumatische Fahrt im roten Porsche, während der er, nachdem er gewissermassen durch ein Wurmloch geschlüpft war, eine Begegnung mit sich selbst hatte, an den Oberchefarzt, der so sehr Don Quichotte glich, an die äusserst verwirrende Begegnung mit Claude, einem fast androgynen Wesen, das weder Mann noch Frau oder vielmehr sowohl Mann als auch Frau war, oder vielleicht auch ein Engel (oder ein Schattenengel oder ein Engelsschatten), so anziehend und die Sinnlichkeit Sanchos erregend, dass er einen Pflaumensturz um den anderen erlitten hatte, an seine Kontakte als Journalist mit dem «offiziellen» Misericordia… Das Unbehagen in seinem Baum verdickte sich zu einem schweren Klumpen.
«Sie meinen…» fing er an, wagte aber nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Stattdessen sagte er: «Darf ich Sie zu einem Bier einladen?» – «Aber bitte!» meinte der blassrosa-hellblaugrüne Mann gönnerhaft, «ein Schlückchen Champagner, auch Chlöpfmost oder Nuttendiesel genannt, wäre mir allerdings lieber. Bier macht dick. Und ich bin schon dick genug. Sehen Sie denn nicht, wo das alles hinaus läuft, lieber, guter, bester und ebenfalls eher vollschlanker Freund? Man kennt Sie doch hier in Misericordia! Sie sind ein offenes Buch: Sie sind der goldrichtige Mann. Das Departement für moralische Gesundheit mit seinen hartgeschliffenen Fundamentalisten, diesen Taliban, die, was den Zustand der Moral im ausländischen Teil der Weltbevölkerung betrifft, immer noch eine missionarische Hoffnung in sich tragen, empfiehlt Sie wärmstens dem Departement für Pharmazie. Man ködert Sie, und es braucht nicht viel, um Sie in eine Falle zu locken. Sie sind Journalist; aber das ist unwichtig, so lange Sie nichts wissen. Sie ahnen nichts davon, dass Sie angesteckt sind; ebenso wenig, dass uns wie sehr Sie ansteckend sind, denn die Krankheit bricht erst mehrere Jahre nach der Ansteckung aus. Und mit jedem Geschlechtsverkehr, den Sie als ein polygam veranlagter und mit einer gesunden sexuellen Neugier ausgestatteter Mensch vollziehen, potenziert sich die Zahl der Angesteckten und neuen Anstecker enorm und erhöhen sich damit die Marktchancen für unser in Kürze entwickeltes geniales Serum und Medikament. Da staunen Sie, was! So was nennt man aktives Marketing, mein Herr! Da müssen nur noch ein paar solche wandelnde Zeitbomben wie Sie in die grosse weite Welt entlassen werden, und schon steht unserer Pharmaindustrie ein Bombengeschäft ins Haus. Ausserdem ist diese Krankheit für unsere Regierung dann eine gewissermassen aussenpolitische Angelegenheit uns erst recht ein Grund, uns vornehm vom Rest der bösen Welt abzukapseln.» – «Aber das ist ja ungeheuerlich! Bestätigen Sie mir auf der Stelle, dass das alles nur zusammengesponnen und restlos erfunden ist!» Sancho war so schockiert, dass er sich gar nicht mehr erholen konnte. «Woher wollen Sie denn das alles überhaupt wissen?» – «Ich weiss es, weil ich das Geschäft und die Menschen kenne. Ich arbeite selbst im DmG, als Arzt zweiten Grades. Natürlich, die Geschichte um diese Krankheit kann sich auch ganz anders abspielen, aber das heisst nicht auf eine weniger schockierende Art. Ich muss jetzt gehen. War mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Und denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe. Seien Sie vorsichtig – wenn Sie das können und wollen. Und nun adieu.»
Der Mann war verschwunden. So etwas durfte doch einfach nicht wahr sein! So etwas gab es nicht einmal in den absurdesten Alpträumen. Nein, es war unmöglich, dieser farbige Heini ein Wichtigtuer und Scharlatan. Plötzlich schreckte er auf, eilte zur Tür. Aber der so genannte Arzt hatte sich in seiner ganzen farblich nicht zusammen passenden Pracht bereits in Luft aufgelöst. Frechheit. Zum Teufel mit diesem ganzen Scheiss-Misericordia. In erregtem Ton fragte er den Kellner: «Kennen Sie den Herrn, der soeben gegangen ist? Können Sie mir sagen, wer das ist? Es ist wichtig!» – Aber der Kellner schüttelte nur den Kopf. «Welcher Herr? Ich habe keinen Herrn gesehen. Sie müssen sich täuschen», sagte er abweisend. Sancho blieb nichts anderes übrig, als durch die inzwischen menschenleeren Strassen, die gewisse nebelhafte Erinnerungen an sehr unangenehme Gefühle (und an voll geschissene Hosen) in ihm weckten, zu seinem Hotel zurück zu kehren, da eine starke Schlaftablette, von denen es in jedem misericordianischen Schlaf- und Hotelzimmer grosse Mengen gab, zu sich zu nehmen und dann die Reserveflasche, die Notfallfalsche mit der brennenden Flüssigkeit in langen tiefen Schlucken leer zu trinken und dann diesen höchst unerfreulichen Tag schleunigst zu vergessen.
Auch Sancho schwieg. Er erinnerte sich an seine Ankunft in Misericordia, an seine Verhaftung danach, an die traumatische Fahrt im roten Porsche, während der er, nachdem er gewissermassen durch ein Wurmloch geschlüpft war, eine Begegnung mit sich selbst hatte, an den Oberchefarzt, der so sehr Don Quichotte glich, an die äusserst verwirrende Begegnung mit Claude, einem fast androgynen Wesen, das weder Mann noch Frau oder vielmehr sowohl Mann als auch Frau war, oder vielleicht auch ein Engel (oder ein Schattenengel oder ein Engelsschatten), so anziehend und die Sinnlichkeit Sanchos erregend, dass er einen Pflaumensturz um den anderen erlitten hatte, an seine Kontakte als Journalist mit dem «offiziellen» Misericordia… Das Unbehagen in seinem Baum verdickte sich zu einem schweren Klumpen.
«Sie meinen…» fing er an, wagte aber nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Stattdessen sagte er: «Darf ich Sie zu einem Bier einladen?» – «Aber bitte!» meinte der blassrosa-hellblaugrüne Mann gönnerhaft, «ein Schlückchen Champagner, auch Chlöpfmost oder Nuttendiesel genannt, wäre mir allerdings lieber. Bier macht dick. Und ich bin schon dick genug. Sehen Sie denn nicht, wo das alles hinaus läuft, lieber, guter, bester und ebenfalls eher vollschlanker Freund? Man kennt Sie doch hier in Misericordia! Sie sind ein offenes Buch: Sie sind der goldrichtige Mann. Das Departement für moralische Gesundheit mit seinen hartgeschliffenen Fundamentalisten, diesen Taliban, die, was den Zustand der Moral im ausländischen Teil der Weltbevölkerung betrifft, immer noch eine missionarische Hoffnung in sich tragen, empfiehlt Sie wärmstens dem Departement für Pharmazie. Man ködert Sie, und es braucht nicht viel, um Sie in eine Falle zu locken. Sie sind Journalist; aber das ist unwichtig, so lange Sie nichts wissen. Sie ahnen nichts davon, dass Sie angesteckt sind; ebenso wenig, dass uns wie sehr Sie ansteckend sind, denn die Krankheit bricht erst mehrere Jahre nach der Ansteckung aus. Und mit jedem Geschlechtsverkehr, den Sie als ein polygam veranlagter und mit einer gesunden sexuellen Neugier ausgestatteter Mensch vollziehen, potenziert sich die Zahl der Angesteckten und neuen Anstecker enorm und erhöhen sich damit die Marktchancen für unser in Kürze entwickeltes geniales Serum und Medikament. Da staunen Sie, was! So was nennt man aktives Marketing, mein Herr! Da müssen nur noch ein paar solche wandelnde Zeitbomben wie Sie in die grosse weite Welt entlassen werden, und schon steht unserer Pharmaindustrie ein Bombengeschäft ins Haus. Ausserdem ist diese Krankheit für unsere Regierung dann eine gewissermassen aussenpolitische Angelegenheit uns erst recht ein Grund, uns vornehm vom Rest der bösen Welt abzukapseln.» – «Aber das ist ja ungeheuerlich! Bestätigen Sie mir auf der Stelle, dass das alles nur zusammengesponnen und restlos erfunden ist!» Sancho war so schockiert, dass er sich gar nicht mehr erholen konnte. «Woher wollen Sie denn das alles überhaupt wissen?» – «Ich weiss es, weil ich das Geschäft und die Menschen kenne. Ich arbeite selbst im DmG, als Arzt zweiten Grades. Natürlich, die Geschichte um diese Krankheit kann sich auch ganz anders abspielen, aber das heisst nicht auf eine weniger schockierende Art. Ich muss jetzt gehen. War mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Und denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe. Seien Sie vorsichtig – wenn Sie das können und wollen. Und nun adieu.»
Der Mann war verschwunden. So etwas durfte doch einfach nicht wahr sein! So etwas gab es nicht einmal in den absurdesten Alpträumen. Nein, es war unmöglich, dieser farbige Heini ein Wichtigtuer und Scharlatan. Plötzlich schreckte er auf, eilte zur Tür. Aber der so genannte Arzt hatte sich in seiner ganzen farblich nicht zusammen passenden Pracht bereits in Luft aufgelöst. Frechheit. Zum Teufel mit diesem ganzen Scheiss-Misericordia. In erregtem Ton fragte er den Kellner: «Kennen Sie den Herrn, der soeben gegangen ist? Können Sie mir sagen, wer das ist? Es ist wichtig!» – Aber der Kellner schüttelte nur den Kopf. «Welcher Herr? Ich habe keinen Herrn gesehen. Sie müssen sich täuschen», sagte er abweisend. Sancho blieb nichts anderes übrig, als durch die inzwischen menschenleeren Strassen, die gewisse nebelhafte Erinnerungen an sehr unangenehme Gefühle (und an voll geschissene Hosen) in ihm weckten, zu seinem Hotel zurück zu kehren, da eine starke Schlaftablette, von denen es in jedem misericordianischen Schlaf- und Hotelzimmer grosse Mengen gab, zu sich zu nehmen und dann die Reserveflasche, die Notfallfalsche mit der brennenden Flüssigkeit in langen tiefen Schlucken leer zu trinken und dann diesen höchst unerfreulichen Tag schleunigst zu vergessen.
Abonnieren
Posts (Atom)