Freitag, 26. Oktober 2007

Verwirrung der Gefühle unter der Mitternachtssonne



Seine zweite Reise ist eigentlich die erste richtige Reise, sie soll einen Monat dauern und Felix bezahlt sie mit in der Forstwirtschaft und dem Strassenbau selber verdientem Feriengeld. Felix ist immer noch Gymnasiast an der Kantonsschule von Biel, und er hat die Reise mit seinem Schulkameraden Marcel geplant, der ein Freund, aber nicht sein nächster Freund ist und an den er schon gar nicht sein Herz verloren hat. Natürlich würde er viel lieber mit jenem anderen verreisen, an den er wirklich sein Herz verloren hat, aber der kann oder will irgendwie nicht oder leider stehen sie sich nicht nahe genug oder der steht jemandem anderen näher. Eifersucht ist schon damals ein Dauerthema im Leben von Felix. Nun ja, schweren Herzens findet er sich mit Marcel als Reisekameraden ab, denn reisen will er. Unbedingt. Zu reisen, das scheint ihm unabdingbar. Ein Leben, in welchem nicht gereist wird, scheint ihm ein ungelebtes, ungereistes, verpfuschtes Leben zu sein. Felix leidet als Jugendlicher an seiner mangelnden Lebenserfahrung, die ihm irgendwie unangemessen vorkommt. Damals sind Interrail-Reisen angesagt, die es Jugendlichen bis 20 erlauben, für 300 oder 500 Franken einen ganzen Monat lang das europäische – und das heisst in jenen Jahren noch: das westeuropäische – Schienennetz zu befahren. Ihre Reiseroute soll sie in den Norden führen, nach Schweden, Finnland und Norwegen. Auf dieser Reise sitzen Felix und sein Kumpel meistens endlos lang in Zügen oder auf Zeltplätzen und manchmal auch auf Fähren herum und ernähren sich vorwiegend von Milch und Brötchen und etwas Primitivem – zum Beispiel weissen Bohnen in roter Sauce – aus einer Dose, die sie über dem Campingkocher wärmen. In Schweden und Finnland ist es überraschend sommerlich und warm, nur die Atlantikküste Norwegens präsentiert sich kühl und regnerisch. Felix erinnert sich an Moskitos und daran, dass sie sich auf einem finnischen Zeltplatz zusammen mit anderen Touristen gnadenlos volllaufen lassen, worauf sie die Duschräumlichkeiten des Zeltplatzes vollkotzen. Die beiden verstehen sich so weit ganz gut – das Problem ist nur: Marcel darf, soll oder muss nicht wissen, dass Felix schwul ist (so, wie es auch sein Angebeteter nicht weiss, obwohl dieser, nennen wir ihn Andi, Felix einmal misstrauisch gefragt hat: Bist du eigentlich verliebt in mich? Was Felix natürlich erschrocken verneinte). Marcel weiss also nicht, dass Felix schwul ist – dumm nur, dass es auf solchen skandinavischen Zeltplätzen junge Mädchen gibt, die nach jungen Burschen Ausschau halten, und dass sich der stockheterosexuelle Reisebegleiter von Felix mitten im Saft der Pubertät befindet, und so sind Komplikationen natürlich vorprogrammiert. Es geschieht auf dem Zeltplatz von Tampere. Marcel will wieder einmal, wohl, weil er sich allein nicht so recht traut, dass sie zusammen «Weiber aufreissen» gehen, und das ist auch gar nicht schwer, weil es letztendlich eher die Mädchen sind, die die beiden Jungs aufreissen. Es sind zwei hübsche Mädchen, zwei Freundinnen, wie unsere beiden Freunde zu zweit unterwegs, und also kriegt Marcel die eine (natürlich die hübschere) ab und Felix muss, will er sich nicht blossstellen, die andere nehmen, mit der er sich nicht einmal richtig unterhalten kann, weil sie kaum Englisch spricht. Die Augen von Marcel glänzen, als er mit «seinem» Mädchen im Zelt verschwindet – um sie zu poppen, wie Felix mit pochendem Herz annimmt. Felix glaubt nicht, dass sein Kumpel Kondome dabei hat, aber das ist eigentlich nicht sein Problem. Er, Felix, hat jedenfalls ganz sicher keine Kondome dabei, denn er will ja auch ganz sicher nicht mit dem Mädchen poppen, mit dem er jetzt romantisch in der nie ganz dunklen skandinavischen Sommernacht herumspazieren muss. Aber die junge Finnin will schon, und also muss Felix mit ihr im anderen Zelt verschwinden, will er sich vor seinem Reisebegleiter nicht blamieren. Sie küssen und knutschen da ein bisschen herum, aber das Mädchen merkt natürlich bald, dass sich bei Felix nichts regt, weder physisch noch mental, und die Stimmung wird ein bisschen komisch und Felix ist froh, dass sie kaum Englisch spricht. Am anderen Morgen will Marcel ganz begeistert wissen, wie es denn bei Felix so gelaufen sei, bei ihm ist es offenbar ganz toll gewesen, oooch, ganz gut, sagt Felix und versucht, den Obercoolen zu markieren, meint dann aber, sie müssten jetzt wirklich weiterreisen, schliesslich sei Skandinavien gross und weit und es gebe doch noch so viel zu sehen bei den Nordlichtern, und Rentiere hätten sie bisher auch noch keine gesichtet. Das glaubt sein Kumpel verschmerzen zu können – gibt es etwas Wichtigeres als Sex, wenn man siebzehn ist? –, aber Felix wird in seiner Verzweiflung, Marcel könnte von seinem «Versagen» erfahren, und vor allem in seiner Panik, er, Felix, würde sich erneut dazu gezwungen sehen, mit diesem oder auch einem anderen Mädchen herumzuknutschen, so eindringlich, dass Marcel schliesslich, wenn auch enttäuscht, nachgibt.

(Fortsetzung folgt)

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