Samstag, 27. Oktober 2007

1975: Was vom Menschen übrig bleibt



(Bildlegende: Strasse in Kutna Hora; Knochenkirche, im Kronleuchter wurden sämtliche Knochen des menschlichen Körpers verarbeitet)...............................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................

1975
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Der Vietnamkrieg endet mit der bedingungslosen Kapitulation Südvietnams und dem fluchtartigen Abzug der letzten US-Truppen sowie von rund 30000 Zivilisten aus Vietnam. Saigon wird in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt. In Kambodscha übernehmen die Roten Khmer die Macht. Der Tod von Gerneralissimo Franco bringt endlich das Ende der faschistischen Diktatur in Spanien. Seinem Testament entsprechend wird Juan Carlos I. König von Spanien. Die USA und die UdSSR unterzeichnen ein Abkommen zur Begrenzung unterirdischer Kernwaffentests. In Äthiopien herrscht Bürgerkrieg, Eritrea kämpft um seine Unabhängigkeit. Im Libanon liefern sich Christen und Moslems blutige Auseinandersetzungen. Nach Erlangen der Selbständigkeit bricht im ehemals portugiesischen Angola ein Bürgerkrieg aus. In Wien wird die OPEC-Konferenz von Terroristen überfallen, die Geiselnahme von elf Ministern endet mit drei Toten, und in Saudi-Arabien wird König Faisal ermordet. Die UNO-Vollversammlung verurteilt den Zionismus als Bedrohung des Weltfriedens. In den Mittagsnachrichten wird ein Erdbeben im türkischen Lice vermeldet, das über 2000 Tote fordert. Nach achtjähriger Schliessung wird der Suez-Kanal neu eröffnet. Liquid Chrystal Display, kurz LCD, nicht zu verwechseln mit LSD, kommt auf den Markt, und in den USA kann man den ersten Bausatz eines Personalcomputers kaufen. Bill Gates wird 20. Die Zusammenarbeit von Russen und Amerikanern im Weltall beginnt mit einem Apollo-Sojus-Koppelmanöver. Den Amerikanern gelingt mit den Raumsonde Viking 1 und Viking 2 eine weiche Landung auf dem Mars, Als erste Frau der Welt schafft es die Japanerin Junko Tabei, den Gipfel des Mount Everest zu erklimmen. Von Led Zeppelin erscheint der Song «Kashmir», von den Queen «Bohemian Rhapsody», von Bruce Springsteen «Born To Run» und «Toys In The Attic» von Aerosmith.
1975 treten die folgenden Personen von diesem Planeten ab: der äthiopische Kaiser Haile Selassie, die Schauspielerin Therese Giehse, der russische Komponist Schostakowitsch und der österreichische Komponist Robert Stolz, der in einer seiner Kompositionen die folgende Liedzeile ertönen lässt: «Wenn das Wasser des Rheins goldner Wein wär, ja dann möchte ich ein Fischlein sein. Ei, wie könnte ich dann saufen, brauchte keinen Wein zu kaufen, denn das Fass vom Vater Rhein wird niemals leer.» Dieses Liedlein hat Felix als Kind sehr beeindruckt, es hat sich gewissermassen unauslöschlich in seine Gehirnbahnen eingebrannt, und sollte Felix dereinst, was wir natürlich nicht hoffen, an Alzheimer erkranken, werden diese Worte und die ihnen entsprechende Melodie etwas vom Letzten sein, das Felix vergessen wird (so, wie seine Mutter mit dünnem Stimmchen immer noch das Schubertsche Lied von der Forelle singen kann – In einem Bächlein helle/Da schoss in froher Eil/Die launische Forelle/Vorüber wie ein Pfeil –, als sie längst nicht mehr weiss, wer sie ist). Es findet sich auf einer der ungefähr zehn Schallplatten, die die Eltern von Felix damals besitzen. Das Zeitliche segnen auch die amerikanische Tänzerin Josephine Baker, bekannt geworden mit ihrem Bananenröckchen und von Felix’ Vater hoch verehrt, und der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder («Our Town», «Unsere kleine Stadt», Pflichtlektüre im Englischunterricht am Gymnasium). 1975 betreten die Bühne, die diese Welt bedeutet, die amerikanische Schauspielerin und Filmproduzentin Drew Barrymore («3 Engel für Charlie»), der englische Fussballer David Beckham, der englische Fernsehkoch «Naked Chef» Jamie Oliver, die französische Tennisspielerin Mary Pierce und der deutsche Formel-1-Pilot Ralf Schumacher, der kleine und weniger erfolgreiche Bruder von Michael.

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Etwa ein Jahr später befindet sich Felix mit seiner Klasse, der 7e, auf Maturreise in Prag. Es ist das erste Mal, dass Felix irgendwohin mit dem Flugzeug unterwegs ist. Das ist für ihn ein spannendes und irgendwie metaphysisch gruseliges Erlebnis. Durch die Stadt Prag, damals noch Hauptstadt der damals noch sozialistischen CSSR, werden die Maturanden von ihrem schwulen und kunstbewanderten Deutschlehrer und einer offiziellen Reiseleiterin begleitet. Sie besuchen unter anderem ein Gebeinhaus in einem Ort etwa 70 Kilometer südöstlich von Prag. Es handelt sich dabei um die Knochenkirche von Kutná Hora oder Kuttenberg. Der historische Kern dieser Stadt gilt als architektonisches Kleinod von europäischer Bedeutung und wird 1995 in das UNESCO-Verzeichnis des Weltkulturerbes aufgenommen werden. 1975 präsentiert sich die Altstadt von Kutná Hora aber noch heruntergekommen und halb verfallen, so dass die Mauern vieler Gebäude mit Holzbalken abgestützt werden müssen. In der erwähnten Knochenkirche im Stadtteil Sedlec befinden sich als «Memento Mori» die Gebeine von etwa 40000 Menschen, mit denen der Innenraum einer kleinen Kapelle in penibler künstlerischer Kleinstarbeit ausgeschmückt wurde. Memento mori et carpe diem! Bedenke, dass du sterblich bist, darum pflücke den Tag! Der schwule und kunstsinnige Deutschlehrer rezitiert vor der Klasse ein Gedicht des barocken Dichters Andreas Gryphius:

Mir ist, ich weiss nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht; ich sitz' in tausend Schmerzen;
Und tausend fürcht' ich noch; die Kraft in meinem Herzen
Verschwindt, der Geist verschmacht', die Hände sinken mir.

Die Wangen werden bleich, der muntern Augen Zier
Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen.
Die Seele wird bestürmt, gleich wie die See im Märtzen.
Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?

Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und gross, und morgen schon vergraben;
Itzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,

Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;
Itzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.

Von filigranen Kronleuchtern bis hin zu imposanten Glocken aus Schädeln und Oberschenkelknochen ist im Gebeinhaus von Kuttenberg alles im wahrsten Sinn des Wortes aus Menschenmaterial. Es handelt sich dabei aber nicht etwa um den Veranstaltungsort für schwarze Messen oder einen Versammlungsort für Satanisten, sondern um ein ordentliches katholisches Gotteshaus – auch wenn heute in diesem makaberen Interieur keine Gottesdienste mehr abgehalten werden.
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Was von Menschen übrigbleibt
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Unvermittelt findet sich Felix im Jahr 1278 wieder und erlebt, wie der Abt des Klosters Sedlec, Jindřich, ein beleibter, rotgesichtiger Mann, von Jerusalem eine Hand voll Lehm vom Kalvarienberg mitbringt und diese auf dem Friedhof von Sedlec verstreut. Der Friedhof bekommt dadurch den Ruf, heilige Erde zu sein. Felix, der nun die Mönchskutte trägt, ist damit beschäftigt, Menschen in dieser heiligen Erde zu begraben, und zwar nicht nur solche aus der näheren Umgebung, sondern auch aus Polen, Bayern und Belgien importierte Leichen. So, wie es viele Hindus drängt, in Benares zu sterben, suchen die Menschen die Nähe des Klosters Sedlec, wenn sie fühlen, dass ihr Ende naht. Vor allem während der grossen Pest im Jahr 1318 ist der Zulauf enorm: Felix, der selber kränkelt, aber wie durch ein Wunder die Seuche überlebt, hat alle Hände voll zu tun; insgesamt sind es etwa 30000 Opfer des schwarzen Todes, die er und seine Mitbrüder in jener Zeit unter die Erde bringen, Gott hab sie selig. Die Zahl der Gräber wächst dann nochmals deutlich während der Hussitenkriege; die Ausdehnung des Friedhofs beträgt nun mehr als drei Hektaren. Das haben Kriege so an sich, dass sie tote Körper produzieren, aber auch, dass sie zur Verrohung der Sitten beitragen: Im Jahr 1421 brennen Hussiten genannte Revoluzzer und Mordbuben das Zisterzienserkloster nieder und massakrieren an die 500 Mönche. Bruder Felix entgeht auch diesem Schicksal, aber nur, weil er so alt und geschrumpft ist, dass er leicht übersehen werden kann.Nach den Hussitenkriegen kommt es zur schrittweisen Einebnung und Auflösung von Teilen des Friedhofs. Die Gebeine werden dabei zunächst um die Kapelle herum gelagert und später in ihren hinteren Teil verlegt. Hier ordnet sie erstmals im Jahr 1511 ein halbblinder, uralter Mönch zu sechs Pyramiden, und wir glauben zu wissen, wer jener Mönch ist. Dass die Sedlecer Kapelle zum heutigen bizarren Schmuckstück wird, verdankt sie jedoch dem Fürstengeschlecht Schwarzenberg aus Orlík. Dieses kauft das Anwesen 1866 und beauftragt den Holzschnitzer František Rint damit, das Interieur neu zu gestalten, und zwar so kunstvoll wie möglich. Welches Motiv die Schwarzenberg haben, das zu tun, darüber kann der kunstsinnige schwule Deutschlehrer nur spekulieren: Vielleicht, weil im Zeitalter der Romantik, das 1866 zwar eben gerade vorbei ist, das Memento Mori eine Renaissance erlebt, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass auch Eichendorff ein Memento Mori-Gedicht verfasst hat:

Schnapp Austern, Dukaten,
Musst dennoch sterben!
Dann tafeln die Maden
Und lachen die Erben.

Wie dem auch sei: Rint jedenfalls desinfiziert sämtliche Gebeine und präpariert sie mit chlorhaltigem Kalk, was sie äusserst haltbar macht. In der Mitte der Kapelle – und damit sind wir zusammen mit Felix wieder in der Gegenwart des Jahres 1975 angelangt – hängt ein Kronleuchter, in dem alle 206 Knochen des menschlichen Körpers verbaut sind. In den Nischen des Hauptaltars befinden sich die Monstranzen, die traditionell zur Aufbewahrung der Hostien genutzt werden und aus einem Schädel gebildet sind. An der Wand im linken Teil der Kapelle sieht Felix, nun nicht mehr als Mönch und auch nicht mehr uralt und halbblind, das Wappen der Schwarzenbergs in Form einer Knochenassemblage nachgebildet. Im rechten unteren Feld ist ein Rabe zu erkennen, der einem Türken ein Auge aushackt, was an den Sieg der Schwarzenbergs über die Türken in der Schlacht bei Rábu im Jahr 1591 erinnern soll. In den beleuchteten Glasvitrinen sind einige Schädel von Kämpfern der Hussitenkriege ausgestellt. Die eingeschlagenen Schädel lassen ahnen, wie brutal mit mittelalterlichen Waffen geführte Kriege waren. Felix überlegt, dass einer der Schädel, die er da bewundert, sein eigener sein könnte, und ein metaphysisches Gruseln überfällt ihn angesichts dieser reinkarnatorischen Vorstellung.
Menschliche Gebeine und Knochenschädel werden übrigens auch bei späteren Künstlern noch beliebt sein: So wird der englische Künstler Damian Hurst im Jahr 2007 unter dem Titel «For the Love of God» in einer Ausstellung den Platinabguss eines Menschenschädels präsentieren, der mit 8601 Diamanten überzogen ist. Mit einem Verkaufspreis von 50 Millionen Pfund wird dieses Kunstwerk allerdings nicht ganz billig sein, eine Armani- und Gucchi-Version des Memento-Mori-Motivs, wie sie ganz gut in die Zeiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts passen wird.

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Ungewollte Orgasmen und andere spirituelle Reisen
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An die Knochenkirche von Kuttenberg wird sich Felix auch nach dreissig Jahren noch ziemlich gut erinnern. Ebenfalls in Erinnerung bleiben wird ihm eine Busfahrt in einem völlig überfüllten Bus zu einer Diskothek etwas ausserhalb des Prager Stadtzentrums. Felix ist schon mehrere Jahr lang sehr heftig und sehr romantisch und auch sehr baraock in einen Schulkameraden verliebt – wir erwähnten es schon –, kam aber bisher nie auch nur in die Nähe des Ziels seiner Träume, Hoffnungen und sehnsüchtigen Fantasien; diese Liebe ist bisher also eher vanitas vanitatis et omina vanitas als carpe diem gewesen. Nun aber, auf jener Busfahrt, die wir nun in unseren Fokus nehmen wollen und die glücklicherweise recht lange dauert, will es das Schicksal, dass der Körpervon Felix durch die Menge und Dichte der Passagiere sehr heftig an den Körper seines begehrten Schulkameraden gepresst wird. Sowohl Felix als auch sein Angebeteter haben natürlich Kleider an, man stelle sich vor, sogar dicke Winterkleider, aber Felix ist seinem Schatz doch bisher noch nie so lange so nahe gewesen (und wird es auch später nie mehr sein), ausserdem findet Sex ja bekanntlich vor allem im Kopf statt und für die Vorstellungskraft eines Verliebten sind die paar Zentimeter Stoff oder Daunen oder was sonst an Material sich auch immer zwischen nackter Haut und nackter Haut befindet, natürlich kein wirkliches Hindernis. Eine heftige sexuelle Erregung ergreift in jenem Bus also Besitz von Felix und macht ihn ganz besoffen vor Geilheit im Kopf, worauf seine Lenden sich erhitzen, wie es so schön heisst. Schliesslich überwältigt ihn, obwohl er ihn durchaus zurückzuhalten versucht, der wohl heftigste Orgasmus, den er je hatte und je haben wird, die Neuronen in seinem Hirn versprühen ein Feuerwerk und gewaltige Fontänen von Sperma ergiessen sich in seine Unterhosen. Sein Schulkamerad scheint von all dem nichts zu bemerken; er zeigt auf jeden Fall keine Reaktion.

Felix ist dann noch einmal mit seiner ersten, ebenso grossen wie unerfüllten Liebe auf Reisen, aber leider auch dieses Mal in einer Gruppe, was es abermals verhindert, dass sie sich mehr als punktuell nahe kommen. Das ist jedoch schon mehr, als er sich je erhoffte. Denn Felix leidet zwar an seiner Sehnsucht nach einem uneingeschränkten sexuellen Zusammensein mit seinem Angebeteten, sie ist wie ein nicht lokalisierbarer Schmerz, der seine ganze Seele durchwirkt wie heisser Nebel einen Höllenort, aber sie erfüllt ihn auch, sie gibt seinem Leben einen Angelpunkt, und paradoxerweise sind der Hunger und der Durst selbst die Erfüllung und nicht etwa deren Stillung. Die physische Befriedigung entspricht selten der Intensität des Begehrens. Das haben die Tantriker erkannt, sie suchen gerade nicht den Orgasmus, sondern die unendliche Steigerung des Verlangens. Das ist übrigens auch ein «Arbeitsprinzip» des spirituellen Suchers, dessen glühende Gottessehnsucht, diese bis ins letzte gesteigerte Hingabe, selbst die Erleuchtung ist, denn die Vereinigung mit dem Göttlichen ist nicht personal, sondern setzt die Auflösung des Individuellen voraus. Deshalb sind alle Religionen grosse Lügen, theologische und ideologische Gedankenkerker, die Leid und Elend und Freudlosigkeit im Schlepptau haben. Aber das nur nebenbei. Diese Gedankensprünge bringen uns zurück zur zweiten Reise von Felix mit seinem spirituellen und vor allem sexuellen Fokus seiner damaligen Existenz (was ja nicht zwangsläufig ein Gegensatz sein muss). Sie wallfahren zum Guru seines Verehrten nach Kopenhagen, wo der Hof hält und seine Schäfchen um sich schart. Felix ist nämlich, der Not gehorchend, durch das Auf-den-Spuren-seines-Geliebten-Seins, auch auf die Spuren dieses Gurus geraten, eines jungen, eher fettleibigen indischen Meisters, den sein Geliebter verehrt und der damals einige Popularität geniesst und dem Felix einmal sogar die weissbesockten, durchaus frisch gewaschenen Füsse küsst. Und dann, in der Euphorie des Wir-sind-alles-Brüder-und-Schwestern-Gefühls, eines ein wenig überheblichen Auserwähltheitgefühls auch, darf Felix den Geliebten sogar, in aller Öffentlichkeit sozusagen, in die Arme schliessen. Solche Momente vergisst man nie wieder, wie dieser Bericht beweist.

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