Donnerstag, 25. Oktober 2007

1972: Kümmelbrot und Trockfleisch












...................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................(Bildlegende: Jardin des Tuileries, Paris; Richard Nixon, «der mächtigste Mann der Welt»; Vicky Leandros singt «Après toi»; Ulrike Meinhoff most wanted; der Mailänder Dom, in den Himmel abhebendes steinernes Tier.) Seine allererste Reise ins Ausland führt den, den wir hier Felix nennen wollen, als vielleicht Sechsjährigen Anfang der Sechzigerjahre mit seinen Eltern und Geschwistern nach Mailand – ein Tagesausflug während Ferien im Tessin. Das ist keine grosse Reise, aber als kleinem Knirps erscheint Felix die neue Welt, in die er da eintaucht, als sehr fremd (die Distanzen werden in seinem Empfinden mit zunehmendem Alter schrumpfen). Die Eltern von Felix haben nicht genug Geld, um im Ausland Ferien zu machen; das hat aber damals kaum jemand von den «gewöhnlichen Leuten». Allenfalls fährt man mal an die Adria, nach Cattolica oder Rimini. Felix erinnert sich, wenn er an seinen ersten Aufenthalt in Mailand denkt, knapp fünfzig Jahre später, vor allem an Kümmelbrot, Trockenfleisch, eine ganze Armada von Tauben, die alle mit Kümmelbrot gefüttert werden wollen, und den grossen Platz vor dem Dom. Und dass der riesige Dom ihn fast ein wenig einschüchtert – wie ein urtümliches, monumentales steinernes Tier, das momentan schläft, aber irgendwann zu fantastischem Leben erwachen kann, zum Beispiel als gigantische, surrealistisch verfremdete, in den Details barock überladene Taube, die plötzlich abhebt und gen Himmel fliegt. Und an den Geruch im Mailänder Bahnhof erinnert sich der kleine Felix mit den grossen blauen staunenden Augen und dem offenen Mund auch: Eine unglaubliche Mischung aus Eisenstaub, warmen Panini und Schweiss, die ihn fasziniert, aber auch ein wenig ängstigt. Das Gefühlsleben von Felix war und ist stets mit Gerüchen verbunden, von Gerüchen durchwirkt und von ihnen beeinflusst: Felix riecht, also ist er. Und er erinnert sich, wenn er an seine erste Reise hinaus in die grosse weite Welt denkt, an die gewaltige Müdigkeit, die ihn auf dem Heimweg im Zug in den Schlaf hinein zwingt, an diese gewaltige Müdigkeit, die zu jeder richtigen Reise gehört.

1972
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Wer ist 1972 Präsident in den für Felix so fernen Vereinigten Staaten von Amerika? Richtig, es ist ein Mann namens Richard Nixon, wie Felix aus den Mittagsnachrichten, denen die ganze Familie jeweils andächtig lauscht und die durch keine Gespräche unterbrochen werden dürfen, weiss. Ein ziemlich unsympathischer Mensch. Dieser Grobian, dieser ungehobelte Kerl, der fluchen kann wie ein Bierkutscher, ist aber der erste Präsident der USA, der China und die UdSSR besucht – eben 1972. Dafür wird er im Herbst wiedergewählt. Allerdings ertappt im Juni des Jahres auch ein Nachtwächter des Watergate-Hotels Einbrecher, die Abhörgeräte im Hauptquartier der Demokraten anbringen wollen, ein Umstand, der am 9. August 1974 schliesslich zum Rücktritt Nixons aus seinem Amt führen wird; Nixon wird übrigens 1994 an einem Schlaganfall sterben. 1972, das ist noch mitten im kalten Krieg. Immerhin unterschreiben in diesem Jahr 28 Staaten ein Abkommen zur Ächtung von Biowaffen, und das Salt-Abkommen zwischen der UdSSR und den USA begrenzt die strategische Rüstung. China und Japan nehmen diplomatische Beziehungen auf und beenden damit den seit 1937 bestehenden Kriegszustand zwischen den beiden Ländern. Der Österreicher Kurt Waldheim, später mit seiner Nazi-Vergangenheit konfrontiert, wird als Nachfolger von Sithu U Thant neuer UN-Generalsekretär. EWG und EFTA unterzeichnen ein Freihandelsabkommen.
Ein palästinensisches Terrorkommando nimmt an den Olympischen Spielen in München elf israelische Sportler als Geisseln, worauf bei einem missglückten Befreiungsversuch durch deutsche Sicherheitskräfte 17 Tote zu beklagen sind. Die Amerikaner Bardeen, Cooper und Schrieffer erhalten für die Theorie der Supraleitung den Nobelpreis für Physik, in England wird der erste Computer-Tomograph eingesetzt und die Russen landen die Sonde Wenera 8 ohne einen allzugrossen Rums auf der Venus. Aber auch die Amerikaner lassen sich in der Weltraumfahrt in diesem Jahr nicht lumpen und starten die Raumsonde Pioneer 10, die nach einem ausserordentlich erfolgreichen Erkundungsflug am 13.6.1983 als erstes Gerät menschlicher Produktion das Sonnensystem verlassen wird; eine Nachricht an ausserirdische Intelligenzen befindet sich vorsichtshalber mit an Bord, verfasst in jedem nur möglichen und von Menschen denkbaren Sprachen- und Zeichensystem (was natürlich trotzdem nicht garantiert, dass allfällige Ausserirdische diese Botschaften verstehen werden, weil allfällige ETs ja eben höchstwahrscheinlich kein menschliches oder auch nur entfernt menschenähnliches Gehirn besitzen). Felix ist unglaublich beeindruckt, als er von dieser Weltraummission hört. Zudem beginnt 1972 die bisher letzte bemannte Mondmission mit den Herren Cernan, Evans und Schmitt, die mit 110 Kilogramm Mondgestein im Gepäck zur Erde zurückkehren. In Deutschland wird mit Ulrike Meinhoff das letzte Führungsmitglied der Terrorbande RAF verhaftet und in Frankreich gewinnt im Juli zum vierten Mal in Folge der Belgier Eddy Merckx die Tour de France. Felix findet Sport öde, aber sein Vater und sein Bruder sind ganz verrückt danach, speziell auf die Velorennen und speziell auf die Tour de France, die wohl schon damals nicht ohne Doping zu schaffen war. Und Heinrich Böll, Literatur ist schon eher das Gebiet von Felix, erhält den Literatur-Nobelpreis. In der Schweiz gibt es immerhin schon seit einem Jahr das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene (es wurde im Februar 1971 eingeführt). In der Radio-Hitparade hört Felix (jeweils am späten Samstagnachmittag und nach dem wöchentlichen Bad) zusammen mit seinem Bruder, neben dem Nummer-1-Hit «Popcorn» der Gruppe «Hot Butter», «Sacramento» von den «Middle Of The Road», «One Way Wind» von «The Cats», «Après toi» von Vicky Leandros und «Song Sung Blue» von Neil Diamond (die Schweizer Hitparade wird übrigens damals noch von Jürg Marquart, dem späteren Verleger und schweizerischen Luxus-Protz-Promi mit eigenem Jet, moderiert und heisst «Bestseller auf dem Plattenteller»). Von Deep Purple erscheint das Album «Machine Head», Glam Rock erlebt einen Höhepunkt mit Bands wie T-Rex, Slade und Sweet. Felix kauft sich von seinem Taschengeld die LPs «Pictures of an Exhibition» von Emerson, Lake and Palmer, «Harvest» von Neil Young sowie «Thick As A Brick» von Jethro Tull. Neben vielen anderen sterben 1972 der deutsche Lyriker Günter Eich und der französische Chansonnier Maurice Chevalier. 1972 geboren werden neben vielen vielen anderen der Tennisprofi Michael Chang, Letitia Ortiz Rocasolano, die 2004 den spanischen Thronfolger Felipe heiraten wird, der amerikanische Schauspieler Ben Affleck, die Schweizer Skifahrerin Corinne Rey-Bellet, die 2006 von ihrem Mann ermordet werden wird, der Rapper Eminem und Ramzi bin Ash-Schaiba, jemenitischer Staatsbürger und späteres Mitglied der Terrororganisation al Qaida, die am 1. September 2001 die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York einstürzen lassen wird.
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Die erste einigermassen selbstständige Reise führt Felix im Herbst 1972 als Siebzehnjährigen für ein Wochenende nach Paris. Er hat diese Reise in einem Radiowettbewerb gewonnen, von «Schweiz Tourismus», wie die Institution später heissen wird, die aber 1972 noch den Namen «Schweizerischer Verband für Tourismus» oder so ähnlich trägt. Felix hat per Postkarte einen Slogan für das Reiseland Schweiz («Tausend Winkel, tausend Gesichter – eine Schweiz!») erfunden und ans Radio, das noch Radio Beromünster heisst, geschickt. (Wir fragen uns, was wohl die Jury bewogen haben mag, diesen Slogan als preiswürdig zu taxieren.) Obwohl der Trip nur gerade zwei Tage dauert, ist Felix wohl aufgeregter als vor jeder anderen Reise, die er später je antreten wird. Er hat damals zwar, der Mode entsprechend, mädchenhaft lange, blonde Haare, aber für diese Reise wirft Felix sich ganz altmodisch in Schale, dem Rat oder vielmehr der Anweisung seiner Mutter folgend, und trägt den strengen dunkelbraunen Konfirmandenanzug, so dass er mit Sicherheit auf den ersten Blick als die Landpomeranze identifiziert werden kann, die er ja damals auch ist, als das unschuldige Landei, das der Grossstadt in den Rachen geschmissen werden soll. Wir übertreiben natürlich, und wir übertreiben gern. Zwar gibt es schon auf der Hinfahrt im TEE, dem legendären Trans-Europ-Express, der den urhelvetischen Namen «Arbalète» (Armbrust) trägt, ein Techtelmechtel mit einem japanischen Touristen, der ihn eindeutig anmacht, indem er Felix weismachen will, er sei Soziologiestudent und schreibe eine Arbeit zum Thema «Homosexualität bei europäischen Jugendlichen», weshalb er den langhaarigen blonden Felix in seinem braven Konfirmandenanzug zu seinem (damals so gut wie nur in seiner allerdings sehr lebhaften Einbildungs- oder vielmehr Vorstellungskraft existierenden) Sexualleben und zu seinen sexuellen Fantasien ausfragen wolle oder vielmehr, als treuer Jünger der Wissenschaft, sich sogar dazu verpflichtet fühle, Felix in dieser Hinsicht auf den Zahn oder was auch immer zu fühlen. Eine nicht unoriginelle Anbaggermethode, wie wir zugeben müssen, aber Felix ist damals eindeutig noch nicht so weit, auf diese oder auch jede andere Art und Weise erfolgreich angebaggert zu werden. Er weiss zwar schon seit längerem ganz genau, dass er schwul ist, und er ist zu diesem Zeitpunkt auch sehr leidenschaftlich in einen heterosexuellen Schulkameraden verliebt, aber er ist auch fürchterlich gehemmt und verklemmt, so dass er den japanischen Kinsey zwar nicht gerade abblockt, denn irgendwie gefällt ihm die Situation natürlich schon, aber doch mit Ausflüchten mehr oder weniger auflaufen lässt, so dass dieser ihn auf dem Bahnhof in Paris unverrichteter Dinge ziehen lassen muss, zumal Felix vom Pariser Angestellten des Tourismusverbandes in Empfang genommen wird, einem Mann, der drei- oder viermal so alt wie Felix ist und der sich etwas überrascht über den Jüngling zeigt, der nun ein Wochenende lang sein Gast sein soll. Er weiss eindeutig nicht so genau, wie man einem Siebzehnjährigen die Stadt Paris zeigt. Aber er hat nun einmal diesen Job gefasst, und so führt er Felix unbeirrt von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit und erzählt ihm, was er von Paris weiss, und das ist eine ganze Menge. Auch erinnert sich Felix später, dass sein persönlicher Reiseführer ihn an einen Apéro der späteren Firma Pernot-Ricard schleppt, die – noch unfusioniert – entweder Pernod oder Ricard heisst, wo der Junge in seinem für Pariser Verhältnisse exotisch anmutenden Konfirmandenanzug von entzückten, geschminkten und natürlich französisch zwitschernden Damen umflattert wird, die diese vor lauter Verlegenheit weitgehend stumm bleibende Unschuld vom Land wohl charmant, aber sehr bald auch ziemlich langweilig finden. Das Abendprogramm bereitet dem Tourismusvertreter von Felix ebenfalls einiges Kopfzerbrechen, führt er etwas ältere Besucher in einem solchen Fall nach dem Abendessen doch immer ins Kabarett oder bei Bedarf auch in ein Puff. Schliesslich fragt er Felix etwas ratlos, was dieser selbst denn nun tun möchte, worauf unser junger Freund meint, er komme jetzt schon zurecht, er, der Reiseführer, sei sicher froh, endlich Feierabend zu haben, er, Felix, werde allein in sein Hotel zurückfinden. Der Tourismusmensch hat ihm ein paar hundert Franc in die Hand gedrückt, die im Wettbewerbspreis inbegriffen sind, und Felix hofft jetzt doch noch vage auf ein nächtliches Abenteuer der schwulen Art, aber da steht er nun mitten in dieser grossen Stadt und hat keine Ahnung, in welcher Richtung so ein Abenteuer zu finden sein könnte. Also läuft er einfach ein bisschen herum, nichts passiert, und schliesslich wird Felix müde und lässt sich von einem Taxi ins Hotel zurückbringen.

(Fortsetzung folgt)

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