Sonntag, 20. September 2009

20. September

Heute ist Id'ul Fitri, der Tag des Fastbrechens für Millionen von Muslimen in der ganzen Welt. Fendi, mein Partner, hat zwar nur spordaisch gefastet, gefestet wird heute gleichwohl. Während ich mit schmerzender Hüfte vor dem Computer sitze, gelangt eine bunte Geräuschkulisse aus javanischen Gesprächsfetzen, indonesischem Gesang und leisem Fernsehmurmeln an mein Ohr. Und es duftet! Leider ist meine Handykamera kaputt und die mit den Supercard bestellte Kamera noch nicht bei mir eingetroffen, so dass ich die Bilder zur Beschreibung leider nicht liefern kann. Die schmerzende Hüfte kommt übrigens nicht vom Sport oder von sonstigen Eskapaden, sondern wahrscheinlich von einem Reumathismus oder einem artritischen Schub, also vom Alter. Seit Freitagmorgen kann ich mich also kaum mehr dem täglichen Vergnügen des Bauchtanzes frönen. Und im Bett liegen - etwas, was ich sonst sehr gern mache - ist momentan auch kein ungetrübtes Vergnügen. Aber jetzt werde ich zum Essen gerufen.

Mittwoch, 16. September 2009

Traurige Jäger (10)

Ein weiteres Gerücht, von dem ich gehört habe, wenn Sie erlauben. Schauplatz Mumbai, im Büro von Phanishwa Singh. Einem vollgeklonten B-Typen, der für die Gebiete Finanzwesen und Controlling programmiert ist. Oder vielmehr war. Phanishwa Singh seit mehr als acht Stunden am Bildschirm, eine wichtige Revision musste abgeschlossen werden für eine Firma in Dubai, London oder Singapur. Was irgendwann während dieser acht Stunden mit Phanishwa Singh passiert ist, weiss bis heute niemand. Eine nachträgliche Überprüfung des Computers ergab nichts Aussergewöhnliches. Möglich, dass sich temporär ein Cerberaner in das System eingeschaltet, eingeschlichen oder eingehackt hat, später aber wieder spurlos daraus verschwunden ist. Andertags hielt Phanishwa Singh jedenfalls, statt die Resultate der Revision zu raportieren, ein Aufsehen erregendes Referat, das für viel Verwirrung sorgte. Phanishwa Singh sprach nämlich in fremden Zungen, einem altertümlichen Idiom, mit dem er sicherlich nie in seinem Leben in Berührung gekommen war. Auch schien es so, als hätte sich Phanishwa Singh gänzlich aus seiner Person und seiner Zeit entfernt und wäre ein völlig anderer geworden, unberührbar für die Gegenwart. Mit grossem Pathos hat er nämlich Folgendes rezitiert: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen! Im Jahre 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am fünften und die Fürsten und Vornehmen am sechsten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt, undsoweiterundsofort der Unsinnigkeiten mehr. Phanishwa Singh ist seither überzeugt, der längst verstorbene Dichter und Naturwissenschaftler Georg Büchner zu sein und in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu leben. Derart, Herr von und zu Bockfuss, stiften die Cerberaner Verwirrung!»

«Gerüchte, Herr Botschafter von Toboso, Gerüchte», meinte Herr von Bockfuss cool. «Ich will ja nicht bestreiten, dass die Cerbereaner nach wie vor in einem gewissen Grad aktiv sind. Und sie können uns glauben, dass wir – allerdings auf unsere Weise – alles tun, um sie unschädlich zu machen.

Die Cerberaner Sind, sie sagen es selbst, verdammt geschickt darin, sich zu tarnen. Wie aus dem Nichts tauchen sie mal hier, mal dort auf. Mail in dieser, mal in jener Gestalt. Und dann verschwinden sie wieder im Nichts. Zurück bleibt eine unschuldige «Maschine». Das ist doch der Tatbestand.

Wir können nun diese «Maschine» – in Wirklichkeit ein komplziertes Netzwerk und Informationssystem – natürlich zerstören, ausschalten, löschen – aber was bringt es uns? Treffen wir damit die Cerberaner, wie sie auch etwa genannt werden? Sie sehen selbst, dass das eine rethorische Frage ist. Von dieser Seite her ist unserem gemeinsamen Feind nicht beizukommen. Unsere Methode hat – durchlachtigste Hohheit wird mir darin gewiss beipflichten – einen ganz anderen Ansatzpunkt.

Die Cerberaner sind unberechenbar, aber sie arbeiten mit System. Als Sender bleiben sie zunächst einmal unfassbar, unangreifbar. Ihr Medium – die Mittel, womit sie «arbeiten» – ist aber bekannt. Ich darf mich wiederholen: Sie bedienen sich der von uns erfundenen klaren, logisch aufgebaut sind, ganz selbstverständlich verlassen, und verändern sie für eine gewisse Zeit, indem sie als ein gleichsam Irreales oder Surreales die Gesetze der Logik und Folgerichtigkeit ausser Kraft setzen. Wir wissen leider noch nicht, wie sie das tun. Aber unsre Wissenschaft wird dieses Phänomen sicher mit der Zeit in den Griff (oder vielmehr die Begriffe) bekommen, so, wie sie vor langer Zeit so etwas wie die Relativität von Raum und Zeit, die Quantenphysik etc. in den Griff und die Begriffe zu bekommen hat.

Die Cerberaner treiebn ihre Possen und Kapriolen vielleicht nicht zu einem bestimmten Zweck, aber sicher ist, dass diese einen bestimmten Effekt, und zwar einen für uns äusserst unerwünschten, haben. Wie Sie wissen, versuchen wir die äusserst schwierig und für die Menschheit als Ganzes gar lebensbedrohlich gewordene Situation auf der Welt dadurch zu meistern, dass wir eben dieser Menschheit selbst zu einem auf Logik aufgebauten „Informationssystem“, oder, um das altmodische Bild zu gebrauchen, zu einer perfekt funktionierenden Maschine umzugestalten versuchen. Sie wissen: Genau dies ist das Fernziel unseres genetischen Programms. Wir können es uns heute einfach nicht mehr leisten, die Mneschheit in ihrer altgewohnten Dummheit und primitiven Art vor sich hinwursteln zu lassen – verzeihen Sie meine saloppe Ausdrucksweise. Soll die Menschheit als solche überleben, dann muss sie veredelt werden. So einfach ist das.

Der Effekt des Wirkens der Cerebraner ist doch der, dass er unser Genprojekt durcheinanderbringt. Diese Störung ist verheerend, eine Katastrophe! Das Wirken der Cerberaner bringt das Irreale und Surreale im einzelnen Menschen und in Menschengruppen, aber auch in der Menschheit als grosser Familie, sozusagen, wieder zum Vorschein – nachdem wir es längst überwunden und gebannt glaubten, wieder zum Vorschein. Die Cerberaner sind wie Viren in einem Organismus, die dasImmunsystem des Gesellschaftskörpers lahm legen. Deshalb, Herr Botschafter, sind Mittel des Verteidigungsministeriums, das wir für unser Programm beanspruchen, auch Mitel für die Verteidigung gegen Cerberus. Nur darin können wir die Cerberaner treffen, dass wir unser Menschenmaterial gegen sie immunisieren. Und wir können diese humane Biomasse dadurch gegen sie immunisieren, dass wir unser Programm verbessern. Das Unberechenbare, Herr Botschafter, ist unser wirklicher Feind!»

Herr von Klumpfuss schwieg, beeindruckt und erschöpft von der eigenen Rede. Don Quichotte vermochte nicht so recht Gefallen an ihr zu finden, aber der konnte der Logik des Gesagten nicht widersprechen. Es fehlte ihm jedoch eindeutig das Heroische in der lange Rede kurzem Sinn. Herr von Klumpfuss verfocht im Grunde keinen anderen ethischen Gedanken als den, das nackte Überleben der Menschenrasse als Menschenmasse zu sichern. Das war ihm, zumal er ja Toboser und damit kein Erdling oder Mensch war, zu dürftig, zu mager, Was gingen ihn also die Menschen an? Und waren denn die Menschen ohne ihre Fehler und Mängel, ohne das Primitive an ihnen, als perfekte Teile einer Gesellschaftsmaschine überhaupt noch Menschen? Eine zu komplizierte und zu bedeutungslose Frage für Don Quichotte. Er kämpfte gegen die Cerberaner aus einer Lebenseinstellung heraus. Im Grunde ging es ihm gar nicht darum, sie zu besiegen. So rigoros sind Toboser nicht. Denn für ihre Lebenshaltung brauchen die Toboser die Cerberaner geradezu, ebenso, wie das Licht den Schatten braucht, um Licht zu sein: sonst ist es einfach Leere.

Aber das alles sagte Don Quichotte dem Herrn von Klumpfuss nicht. Herr von Klumpfuss war ein unernbittlicher, ein praktisch denkender Philosoph.

«Ja, ja, Sie haben ja Recht», seufzte Don Quichotte deshalb nur; eigentlich sehnte er sich danach, weiter zu reisen, und bedauerte nur, dass sein Begleiter Sancho, der inzwischen unbemerkt in seinem Harem verschwunden war, offenbar Gefallen an seiner Rolle als der grosse Diktator gefunden hatte. Ausserdem erinnerte er sich gar nicht mehr daran, wo er die Lufthunde gelassen hatte.

Montag, 31. August 2009

Traurige Jäger (9)

Aber der Adjutant ignorierte diese Einwände und sagte, zu Don Quichotte gewandt:«Natürlich wird Herr von Bockfuss gleichzeitig eine Lagebeurteilung von der Kampffront Cerberus abgeben, Herr Botschafter:» Der Ausdruck höchster Aufmerksamkeit verstärkte sich noch in Don Quichottes Miene, auch wenn er nach wie vor äusserlich ganz ruhig blieb.

Sancho ergab sich resigniert in das Erscheinen von Herrn Bockfuss. Inzwischen stand der unerwünschte Besucher nämlich im Raum und entbot ebenfalls, wenn auch lockerer und legerer als der Adjutant, den Führergruss. Er war klein und mager, hatte ein unsympathisches, raubvogelartiges Gesicht, dem alle Gefühle und Leidenschaften fremd zu sein schienen. Seltsamerweise trug er Alpentracht, irgendwas Besticktes und Krachledernes und Kariertes. «Also, was gibt’s?» fragte Sancho weinerlich und alles andere als neugierig. «Ich komme direkt von unserem Einsatz- und Forschungszentrum Uri Rotstock mit der Bitte, uns den Rücken zu stärken, Führer. Gerade jetzt, wo wir in unserem Bemühen so schöne Fortschritte machen, versucht eine Gruppe von Humanitätsduslern, Schwächlingen und Gutmenschen uns in den Rücken zu fallen. Ich glaube kaum, mein Führer, dass das in Ihrem Sinn und Geist ist. Sie sind uns als ein Mann der grossen Entwürfe, als ein Mann mit Visionen bekannt. Nicht umsonst werden Sie "Baumeister des Zehntausendjährigen Reichs" genannt. Sie sind also mit uns der Ansicht, dass diese Störenfriede umgehend zu eliminieren sind. Auszureissen wie Unkraut, das sonst überhand zu nehmen droht. Ich fordere Sie deshalb auf, uns, das heisst mir, freie Hand zu lassen, und, was das Finanzielle betrifft, alles Nötige zu veranlassen. Da es Waffen im herkömmlichen Sinn als Kampfflugzeuge, Marschhflugkörper, Raketensysteme etc. jetzt glücklicherweise oder auch bedauerlicherweise nicht mehr gibt, muss der Etat des Vertedigungsministeriums vollumfänglich uns zur Verfügung gestellt werden.

Wie Sie wissen, Herr Botschafter», wandte sich Bockfuss nun wieder Don Quichotte als dem eigentlich Adressat seiner Botschaft zu, «sind wir daran, grosse Fortschritte in der Erzeugung einer effizienten und störungsfreien Menschheit zu machen. Ferner ist es uns bekanntlich gelungen, den Anteil asozialer Elemente in der Gesamtbevölkerung mittels hochwirksamer und äusserst suchtintensiver Drogengifte – das gute alte Heroin ist im Vergleich das reinste Baldrian –, ferner mittels unheilbarer, epidemisch in unerwünschten Bevölkerungsgruppen sich verbreitender Krankheiten signifikant zu senken. Sie sehen also, dass unser Volkskörper als Ganzes daran ist, allmählich zu gesunden. Wir haben dies in unseren Geheimberichten dokumentiert. Natürlich braucht die gentechnologische Spezifikation noch etwas Zeit. Aber auch die letzten noch existierenden Ghettos, in denen sich die totale innere Ordnung noch nicht ganz durchgesetzt hat, werden in einigen Jahren verschwunden sein. Natürlich nur dann, wenn man uns machen lässt. Ich sage immer, dass wir den Krieg erst dann gewonnen haben werden, wenn der letzte Ordnungshüter überflüssig geworden sein wird. Und wenn das, was einst als Jurisprudenz Recht und Gesetz war, endgültig in den Mistkübel der Geschichte geworfen wird.»

Sancho, der sich den Generalshut vom runden Kopf genommen hatte, kratzte sich intensiv am selbigen. Er war eher eine charismatische als eine intellektuelle Persönlichkeit, ganz im Gegensatz zu Herrn Bockfuss, dem er gern das Denken überliess. «Was meinen Sie, Herr Botschafter?» fragte er deshalb etwas ratlos den hageren Herrn zu seiner Rechten. Dieser antwortete heiser mit vom langen Schweigen etwas eingerosteter Stimme: «Sie wissen, verehrte Exzellenz, dass ich mich als offizieller Vertreter Tobosos nicht erfrechen darf, mich in Ihre innenpolitischen Anngelegenheiten einzumischen. Unser gemeinsames Interesse liegt in der Bekämpfung der Bedrohung durch die Infiltration der Kräfte vom Planeten Cerberus. Die Cerberaner gelten geradezu als Synonym für das irrationale Element auf dieser Welt – und, in Klammern bemerkt, auch in anderen Welten. Für die grelle Dissonanz in der allgemeinen Harmonie. Cerberus ist die boshafte Tücke der Objekte. Der Inbegriff der Aufsässigkeit im allgemeinen Glück. Wir Toboser haben andere Motive – sie sind ihrem menschlichen Verstehen nicht zugänglich -, die Cerberaner, wo immer sie auftauchen, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Gleichviel. Unser Hauptaugenmerk muss auf jeden Fall sozusagen auf die Aussenpolitik gerichtet bleiben. Ich bitte Sie, das auch bei der Ausgestaltung Ihres Verteidigungsetats in Rechnung zu stellen. Verzeihen Sie mir bitte diesen Hinweis.» Herr von Bockfuss schenkte Don Quichotte einen bitterbösen Blick. «Die Cerberaner, Herr Botschafter, sind für uns ein höchst marginales Problem», sagte er mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln. «Sie sind leicht in Schach zu halten, gerade ihre Aufsässigkeit verrät sie ja.» – «Da habe ich aber anderes gehört», entgegnete Don Quichotte ruhig. «Nun ja, es sind Gerüchte... Vor einigen Wochen soll einer der Hochgeschwindigkeitszüge, die zwischen Paris und London verkehren, mitten im Tunnel, der unter dem Ärmelkanal hindurchführt, einfach stehengeblieben sein. Stellen Sie sich vor! Die Türen des Zuges waren blockiert, alle Lichter, bis auf einige Notlichter, fielen aus. Eine Szene wie aus den Kindertagen unseres hochtechnisierten Zeitalters. Niemand fand eine einleuchtende Erklärung für diese Panne des perfekten Funktionierens. Der «Stromausfall» oder was es auch immer war konnte nicht behoben werden, das Energieverteilungssystem widersetzte sich bockig allen Versuchen, es dazu zu bringen, seinen Job zu tun, Blut in die Adern des Gesellschaftskörpers zu pumpen. Nach etwa fünf Stunden behob sich der Schaden wie von selbst.

Das Resultat war nicht nur ein gigantisches Verkehrschaos. Im Zug befanden sich etwa 300 Exemplare der Menschenklasse F, die auf dem Weg zu einem Arbeitseinsatz in den Minen Nordenglands waren, ferner 170 japanische Exemplare der Menschenklasse D, alles Physiker und Chemiker, ein gutes Dutzend Typen A bis C, sowie fast tausend unklassifizierte Einheiten, die zu einem Laborversuch in den Spitälern Grosslondons abdetachiert waren. Während des unplanmässigen Aufenthaltes im Tunnel müssen sich an Bord des Zuges unvorstellbare Dinge abgespielt haben. Das Mobiliar wurde zerfetzt wie von einer Horde Wilder, die Verpflegungswagen leergefressen und –gesoffen. Wüste Schlägereien fanden statt, zuhauf wurden Ohren abgerissen, Nasen abgebissen, Beine und Arme gebrochen, Zähne ausgeschlagen – überall Blut, Kot, Tomatenketchup. Und Orgien hatten stattgefunden, sogar widernatürliche, das Schlimmste aber war, dass man später feststellen musste, dass die klassifizierten Exermplare unter den Passagieren auf rätselhafte Art und Weise wieder iin ihren vorklassifizierten Urzustand zurückgefallen waren, ja gerade die Typen A-C, die japanischen Physiker und Chemiker der Klasse D hatten es besonders schlimm getrieben. Als der Zug endlich in Londons Victoria-Station eintraf und sich die Passagiere als eine gröhlende, vandalisierende Horde in die Strassen ergossen, hatte die Weltregierung offenbar für einige Zeit mehr als alle Hände voll zu tun, da nämlich die Unordnung die Tendenz hat, ansteckend zu wirken und sich auszubreiten wie ein Flächenbrand. Sie werden wohl nicht bestreiten, Herr von Bockfuss, dass dieses Ereignis die Handschrift von Cerberus trägt.

Mittwoch, 12. August 2009

Traurige Jäger (8)

Als die beiden, Sanchon Pansa und Don Quichotte, wieder zu sich gekommen waren und es ihnen gelungen war, ihre Sinne zusammenzuraffen, gerieten sie sogleich nicht schlecht ins Staunen hinein. Das heisst, es blieb ihnen nicht viel Zeit zum Staunen, da, wie beim Übergang vom Traum ins Wachbewusstsein, die eine Normalität rasch von der anderen überdeckt wird und der Kipppunkt, an dem das Staunen ausgelöst wird, eben nur sehr kurz dauert. In der neuen Realität befanden sie sich in einem prachtvoll ausgestatteten Raum, vergleichbar mit der Fürstensuite eines Fünfsterne-Hotels (von einer solchn hatten sowohl Sancho Pansa wie auch Don Quichotte bisher eine Vorstellung nicht aus eigener Anschauung, sondern lediglich aus einschlägigen Spielfilmen und Soap-Operas am Fernsehen gewonnen). Sie befanden sich in einem grossen Raum, der farblich von Zartrosa bis Lachsig von Pastelltönen dominiert wurde. Den Raum, der fast schon ein Saal war, leuchteten grosszügig von der Decke hängende ausladende Kristalllüster aus. Sanchon fand sich auf einem Ruhebett oder einer Chaislongue halb liegen, halb sitzen. Er hielt, wie er erst jetzt bemerkte, ein kelchförmiges Glas in der Hand – ohne Zweifel eine Perle der Glasbläserkunst, wie er hätte bemerken können - , das mit einer goldfarbenen, perlenden Flüssigkeit gefüllt war und ihm gar angenehm in die Nase moussierte, so dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als zu niesen oder zu schlückeln. Vor diese Wahl gestellt, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer, und er leerte das Glas mit einem einzigen, genussvollen Schluck bis auf den Grund: Mmh, Champagner, ein teurer Markenchampagner zweifellos, Sancho kannte sich da nicht aus, hatte bisher nur Cava oder Freixenet getrunken, dies aber mousste Moet & Chandon, Dom Perignon, Bollinger Special Cuvée Brut, Tattinger oder gar Roederer Cristal sein (Zahlungen der erwähnten Firmen bitte auf das Konto des Autors). Eine weitere Überraschung war, dass er sich in eine Uniform gesteckt fand, und zwar in eine Uniform, die selbst die Fantasieuniformen eines Oberst Muammar Abu Minyar al-Gaddafi weit in den Schatten stellte. Sancho hatte seinen Lebtag noch nie eine Uniform getragen. Er schaute an sich runter und sah gewichste Stiefel, schwarze Hosen mit breiten roten Längsstreifen, einen Uniformrock mit Achselpaletten und goldenen Knöpfen, ein breites Ordensband und zahlreiche Orden, die im Licht der Kristalllüster verführerisch blitzten. So, wie er auf dem Ruhebett halb lag, halb sass, erinnerte Sanchon wenn schon nicht von der Ausstaffierung, so doch vom gesamten Habitus her ein wenig an Peter Ustinoff als Nero in «Quo vadis?» (Quo vadis, was zu deutsch so viel heisst wie «wohin gehst du?», ist übrigens nicht nur ein gutes Motto für unsere Geschichte und eine echte Kern- und Lebrensfrage für die Weiterentwicklung ihrer Helden, sondern für das Leben der Menschen und der Menschheit überhaupt. Aber das nur nebenbei).

Don Quichotte sass _ wie immer recht würdevoll – in einem lachsfarbenen Sessel mit zierlich geschwungenen Beinen und wäre eine zum Lachen reizende Figur gewesen, wenn ihm in dieser neuen Aufmachung nicht etwas Unheimlich angehaftet wäre. Auch er war vornehmlich schwarz gekleidet, allerdings nicht militärisch, sondern zivil in einem Anzug, der ihm viel zu weit um die mageren Glieder schlotterte. Ferner trug er ein weisses Hemd, dazu eine schwarze Krawatte und eine auffällige Krawattenadel mit einem blauen T auf gelbem Grund. Seine Schuhe waren zwar keine Stiefel, aber ebenfalls blitzblank gewichst. Von den Kufthunden war übrigens nichts mehr zu sehen, die hatten sich offenbar in Luft aufgelöst. Dafür lagen zwei Leoparden faul wie grosase Katzen auf dem kostbaren Teppich herum. Jetzt klopfte es an der Tür, und es trat ein ein ebenfalls Schwarzuniformierter herein, der jetzt die Haken zusammenschlug, den Arm samt Hand und ausgestreckten Fingern so heftig vom Körper wegschleuderte, das es in den Gelenken knackte, und schnarrte und knarrte: «Führer, das Bad in der Menge ist angerichtet. Bitte untertänigst, sich auf den Balkon zu begeben!» Sancho seufzte und stöhnte, lustvoll und angewidert, und quälte sich vom Ruhebett oder der Chaislogue auf die blankgewichsten Stiefel, während Don Quichotte noch immer schweigend auf seinem lachsfarbenen Sessel sass und kerzengerade fanatisch ins Leere schaute. Inzwischen hatte der schwarzuniformierte Schnarrer und Knarrer mit den knackenden Gelenken Sancho in einen knöchellangen Ledermantel hineingeholfen. Draussen hörte man von weit weg und tief unten die Menge und das Volk den Namen Sanchos skandieren. Der Kammerdiener oder persönliche Adjutant öffnete die Flügeltüren des Balkons. Sancho räusperte sich, straffte den Rücken, warf sein Gesicht in Falten und marschierte langsam auf den Balkon hinaus. Wie eine Erlösung ergoss sich die Spannung der Menge da unten in einem Schrei, der langsam gen Himmel fuhr, als Sancho seine Hand zum Führergruss erhob. Er schloss die Augen. Der Ausdruck seines Gesichts war reine Verzückung, doch das konnte aus der Distanz natürlich niemand erkennen. Dies dauerte einige Minuten, die gar nicht verstreichen und in die Vergangenheit verschwinden wollten. Dann riss sich Sancho aus seiner Trance heraus, machte kehrt, verschwand vom Balkon, löste sich auf wie eine Fata Morgana. Die Menge wand sich wie in peinigendem Schmerz.. Sancho hingegen warf sich erschöpft und befriedigt auf die Chaislongue. Das Tagwerk war getan. Der Adjutant eilte mit einem Kelch voll perlender, prickelnder goldfarbener Flüssigkeit herbei. Der Führer dachte flüchtig daran, dass es bald an der Zeit sei, sich in die privaten Gemächer zurück zu ziehen, um mit seinen fetten Weibern eine wüste Orgie zu feiern. Das Bad in der Menge erzeugte in ihm immer eine gewisse geschlechtliche Erregung. Er stellte sich vor, wie ihn die Frauen mit ihren grossen dicken Brüsten ganz bedeckten, auf dass er herzhaft und mit grossem Appetit in sie hineinbeissen konnte. Aber er konnte sich nicht lange bei solchen süssen Gedanken aufhalten. Der Adjutant sagte nämlich höflich, aber mit einer gewissen Bestimmtheit: «Exzellenz, Führer und Majestät, Herr von und zu Bockfuss ist jetzt bereit zum Rapport.» «Was!» brauste Sancho da auf, «wer ist dieser Bockfuss, dass er es wagt, meine Ruhe zu stören?! Siehst du denn nicht, du Hund, dass ich in Gedanken versunken bin? Die Nacht ist tief, und tiefer als der Tag gedacht. Merk dir das! Verstanden?!»

Montag, 3. August 2009

Traurige Jäger (7)

Inzwischen lagen sich in der Arrestzelle Don Quichotte und Sancho Pansa in den Armen, gerührt darüber, endlich wieder vereint zu sein. Don Quichotte erzählte ausführlich, was vorgefallen war, Wie er sich einem Indianer gleich an den Maschinenpark herangeschlichen habe, Iein schwarzer Schatten in der Nacht; wie er, Don Quichotte, langsam und ohne auch nur zu atmen seine Laserpistole gehoben habe und mit einer Salve aus Licht und Lärm über de Cerebraner hergefallen sei, so dass dieser fast augenblicklich seinen Geist habe aufgeben müssen. Die Menschen aber seien undankbare Ignoranten, eingebildete Schwachköpfe, cabrones und calabazos. So sässen sie beide denn nun in Gottes Namen hier in diesem Loch, nicht einmal mit dem Nötigsten, nämlich Wasser und Brot, versehen. Aber Don Quichotte sprach schon seit einiger Zeit ins Leere, denn Sancho, für den es ein langer und ereignisreicher Tag gewesen war, war nun sanft eingeschlafen, was sich an langen, regelmässigen Atemzügen erkennen liess, die allmählich in ein fürchterliches Schnarchen übergingen, ein Geräusch, das Don Quichotte so vertraut und lieb war, dass auch ihn der Schlummer übermannte.

Don Quichotte träumte (aber vielleicht war es gar kein Traum, sondern durch Zauberei möglich gewordene Wirklichkeit), das es ihnen, nämlich ihm selbst und seinem Assistenten Sancho Pansa, gelang, ihr Gefängnis zu verlassen. Und zwar gelang es ihnen unter Zuhilfenahme solcher Phänomene wie Unsichtbarsein, Durchdiewändegehenkönnen etc., die Arrestzelle und auch den Maschinenpark unbeschadet und ohne von Kugeln durchlöchert zu werden zu verlassen. Natürlich mussten sie als erstes ihre Lufthunde finden. Die hatten ihre Gestalt inzwischen auch gewandelt und sahen nun nicht mehr wie Fahrräder aus, sondern präsentierten sich, wie Sancho fand, in einer äusserst kuriosen Form. Ihrer wahren Form, wie Don Quichotte erklärte. Lufthunde seiner Fahrzeuge oder Reittiere – gleichviel: einfach Fortbewegungsmittel –, mit denen man nicht nur durchs Wasser, durch die Luft und auf der Erde reisen, sondern auch durch die Zeit, vorwärts und rückwärts, mehr noch, sogar durch den n-dimensionalen Raum. Was ein n-dimensionaler Raum sei, verstehe er, Sancho Pansa, mit seinem schlichten Gemüt wohl kaum, falle es doch sogar ihm selbst, Don Quichotte, schwer, sich diesen Raum ganz plastisch vorzustellen. Das gebe er ganz unumwunden zu. Sancho bestätigte gern, dass er von n-dimensionalen Räumen nichts verstand. Verwundert und mit einigem Respekt begutachtete er die verwandelten Fahrräder, die sich da so wundersam teleologisch entfaltet und zu ihrer wahren Form gefunden hatten (Sancho dachte natürlich nicht in Begriffen wie der der teleologischen Entfaltung und der wahren Form, sondern staunte einfach bloss). Die Lufthunde hatten jetzt als Vorderleib, gewissermassen, die Form eines Hundes, und zwar eher eines Windhundes oder noch eher eines Greyhounds als eines Schäferhundes oder gar eines Dackels. Allerdings wuchsen ihnen Flügel aus den Schulterblättern, was sonst bei Hunden ja eher nicht vorkommt. Der hintere Teil der Lufthunde endete nicht in einem Schwanz, jedenfalls nicht in einem Hundeschwanz, sondern viel eher in einem Fischschwanz oder einer Schwanzflosse, wie man sie gemeinhin bei Meerjungfrauen und anderen Vertretern der Gattung der Pisces findet. Um den Hals trugen sie überdimensionierte Armbanduhren aus einem weichen, nachgiebigen Material wie die zerfliessenden Uhren von Salvador Dalì, welcher ein spanischer Maler und damit ein Landsmann von Don Quichotte und Sancho Pansa war. Item. Diese zerfliessenden Armbanduhren, die man in diesem Fall korrekt als Halsbanduhren bezeichnen sollte, und das Zifferblatt in den Farben des Regenbogens lag auf der oberen Seite des Halses.

So standen die Lufthunde also da und wedelten einladend mit dem meerjungfrauenhaften Fischschwanz. Aber Sancho, wie sich die geneigte und mit einem feinen psychologischen Gespühr ausgestattete Leserschaft sicher schon selber denkt, dachte natürlich gar nicht daran, sich in den Sattel zu schwingen. Er fand tausend Gründe, die gegen das Besteigen von Lufthunden sprachen, hielt dafür, dass er zu schwer sei für das zierliche Tier (oder Ding), führte an, dass ihm in der Luft und vornehmlich in grosser Höhe schwindlig werde, dass er noch nie einen Lufthund gefahren oder geritten habe und deshalb nicht wisse, wie die Sache zu steuern sei, und überhaupt, er sei weder John Wayne noch Old Shatterhand, sondern Sancho Pansa und darauf geschissen. Aber Don Quichotte mit seinem schier unbegrenzten Vertrauen auch in Erscheinungen, Vorkommnisse und Ereignisse ausserhalb der Norm und seiner wahrhaft übermenschlichen Überzeugungskraft brachte Sancho schliesslich doch noch dazu wenigstens einen Flug-, Reit- oder Schwimmversuch zu wagen.

Kaum, dass sie mehr oder weniger bequem auf dem Rücken der braven Fortbewegungsmittel sassen, fühlten sie sich auf die seltsamste Art und Weise durch die Luft und den Raum eher gesogen als geflogen, auch war die Geschwindigkeit, mit der sie reisten, so enorm, dass es ihnen alle Gedanken, ja den allergrössten Teil der bewussten Wahrnehmung überhaupt, aus dem Hirn heraus blies, so dass sie später weder sagen konnten, ob die Reise lang oder kurz gewesen, angenehm oder unangenehm verlaufen sei.

Mittwoch, 29. Juli 2009

Traurige Jäger (6)

Sancho war inzwischen wirklich ein wenig in seiner Gartenwirtschaft hängen geblieben. Es gab ja auch einiges zu tun, diesen gewaltigen Durst zu löschen. Die beiden jungen Burschen waren schon längst weg und die neuen Tischnachbarn ganz nett. Zwei alte Säufer, Pensionierte aus dem Nachbardorf, die es sich hoch anrechneten, einer Dame ein paar Biere zu offerieren. Man redete über Gott und die Welt, hechelte die nationale Politik und die Cervelatprominenz durch und Sancha musste von ihrer Heimat erzählen. Spanien! Sangria und Flamenco und Stierkampf und heissblütige Senoritas und Olé! Da tut sich manchem alten Säufer die Vorstellungskraft weit auf. Doch plötzlich erinnerte sich Sancho seiner Mission. «Ach Gott, ich habe ja meinen Herrn ganz vergessen! Ich muss sofort gehen. Ahora mismo.» – «Was! Einen Herrn hast du! Das ist aber schade!» meinte einer der pensionierten Säufer, der sich in wenig in die stark gebaute spanische Dame mit dem wohlklingenden Bariton verguckt hatte – man könnte sagen, er hatte sie sich schöngesoffen –, aber Sancho liess sich jetzt nicht mehr aufhalten. «Hijcho de puta!» meinte er, wenig damenhaft, nur, und machte sich mit einem leichten Seemanns- oder Seefrausgang auf und davon und aus dem Staub.

Aber es gab da eine Schwierigkeit. Sancho hatte nämlich ganz vergessen, wo er seinen Herrn zurückgelassen hatte. Das Luftross oder den Lufthund hatte er auch vergessen und schwankte zu Fuss. «Don Quichoooote!» rief er, alle Sicherheitsmassnahmen in den Wind schlagend, «Don Quichooote!» Ihm war plötzlich weinerlich zu Mut, ganz einsam fühlte er sich, so allein in dieser fremden, kalten Welt. Er wollte nur noch eins: zurück unter die Fittiche seines Herrn, der immer wusste, was zu tun und in welche Richtung das Lebensschiffchen zu steuern war. Derart vom Instinkt geleitet kam er in die Nähe des Maschinenparks der Armee, wo inzwischen der Brand am Jeep gelöscht worden war. Mit dem Mut oder der Verzweiflung der Betrunkenen machte er sich bemerkbar. «Halt, stehen bleiben!» rief darauf die Wache reglementsgemäss und befehlskonforn unserem armen Sancho zu. «Mein Herr Soldat», erwiderte dieser mit eindeutig fremdländischem Akzent, «verzeihen Sie bitte die späte Störung, und seien Sie versichert, dass ich ein ganz harmloser Mann oder in Gottes Namen auch eine ganz harmlose Frau bin, die nur eine kleine Auskunft von Ihnen erbittet. Ich suche nämlich Don Quichotte, meinen Herrn und Gebieter. Könnte es sein, dass er ganz zufälligerweise hier vorbei gekommen ist? Er ist lang und hager, sowohl sein Körper als auch sein Kopf sind eigenartig in die Länge gezogen; unter der Nase spriesst ihm ein Schnurrbart, der traurig über seine Mundwinkel fällt; sein Blick ist fest und bestimmt; er hält sich aufrecht und würdig, obgleich er kurze Hosen trägt wie ein Pfadfinder; seine Beine sind aber nicht die glatten Beine eines Knaben, sondern dürr und knorpelig und mit grauen Haaren überwachsen…» Sancho hätte, zunehmend ins Feuer geratend, wohl seine Beschriebung mit noch vielen weiteren Details ausschmücken können, aber der Soldat wusste längst Bescheid. «Und ob wir diesen feinen Herrn kennen!» meinte er barsch. «Wenn Sie seine Bekannte sind, dann kommen Sie am besten gleich mit!» Davor fürchtete sich unser Sancho verständlicherweise zwar sehr (und es kam ihm so vor, las sei er David kurz vor dem Gang in die Löwengrube), aber die Hoffnung, das der Löwe schliesslich die Gestalt seines Herrn haben würde, war grösser aös die Furcht.

Inzwischen war im Wachlokal der Korporal von seiner Meinung, der Delinquent sei ein Spion, wieder abgekommen. Im Radio war nämlich eben die Meldung durchgegeben worden, dass aus der hiesigen psychiatrischen Klinik zwei Patienten entwichen seien, und die Beschreibung des einen Patienten passte so genau auf seinen Gefangenen, dass kein Zweifel an der Identität des vermeintlichen Spions oder Terroristen übrig blieb. Der Korporal hatte sich lautstark darüber empört, das in der Radiomeldung die beiden Ausreisser als zwar skurril, aber durch und durch harmlos beschrieben wurden, was es ohne Gefahr erlaube, die beiden um schonenedes Anhalten zu beten. Der Korporal hatte wiederum einen seiner Soldaten ins Restaurant Sonne geschickt, obwohl er wusste, dass ihm das bei seinem vorgesetzten Offizier keine Punkte einbrachte. Er war zwar der Meinung, dass man unverzüglich mit der Irrenanstalt telefonieren müsse, wagte aber doch nicht, das selber zu entscheiden, insbesondere, da die Irrenanstalt eine zivile Institution war und sich der Verkehr zwischen der militärischen und zivilen Sphäre vor allem in Manöverzeiten nicht so ohne weiteres bewerkstelligen liess.

Als nun der Wachabende den zweiten Verrückten hereinführte, löste das bei unserem wackeren Korporal beinahe eine Nervenkrise aus. Schon leicht hysterisch liess er Sancho, der wieder mit seinen Erklärungen anfangen wollte, gar nicht zu Wort kommen, sondern schrie: «Weg mit ihm, aus den Augen mit ihm! Werft ihn zum anderen hinein oder macht mit ihm, was ihr wollt! Ja ist denn das ein Irrenhaus hier?» Die Soldaten, die nicht nur das Verhalten ihres Korporals, sondern vor allem das Aussehen Sanchos im geblümten Rovck und mit schief auf dem Kopf sitzendem Sonnenhut, eines Sancho, der stark aus dem Mund nach Bier roch und Reden hielt, ddie beinahe noch geblümter waren als sein Rock. Ziemlich witzig fanden, gerieten mit dem Korporal beinahe in eine handfeste, zu einer Schlägerei ausartende Auseinanderstezung. Der Korporal fand nämlich das aufkeimende Gelächter gar nicht lustig und wurde noch rabiater.

Doch da erschien zum zweiten Mal an diesem Abend der diensthabende Offizier auf der Bildfläche, nun noch viel röter von der Hitze, dem gekühlten Rosé und dem nie abbrechenden Ärger dieses Tages.

Als er die Neuigkeit vernahm, nämlich dass Don Quichotte, der Delinquent, mit dessen Gefangennahme er sich vor seinen Kameraden schon gebrüstet hatte, gar kein Spion und Terrorist, sondern ein ganz gewöhnlicher Verrückter sei, begann er seinerseits herumzuschreien und herumzutoben, bezeichnete den Korporal als Hornochsen und Rindvieh, auch das Wort Arschloch fiel. Ihn, den Deinsthabenden, wegen einer solchen Lappalie zweimal aus einer wichtigen Lagebesprechung zu sprengen, grenze an Insubordination. «Den Irrenarzt hätten Sie holen müssen, aber das fällt einem Kamel und Esel wie Ihnen ja nicht ein. Ein Kamel und Esel sind Sie, Korporal, und ein Spatzenhirn haben Sie, Korporal, verstanden?» Worauf der Korporal mit vor Wut gespresster Stimme zwischen den Zähnen hervorstiess: «Jawohl, Herr Major, ich bin ein Hornochs und ein Rindvieh, ferner ein Esel und Hornochse, ferner ein Arschloch mit Spatzenhirn, habe verstanden, Herr General!» Worauf sich der Oberleutnant zackig um 180 Grad drehte und ohne zu salutieren mit wütenden Schritten im Dunkel verschwand, der «Sonne entgegen, wo der Rosé wartete, der leider inzwischen warm geworden war.

Donnerstag, 23. Juli 2009

Traurige Jäger (5)



Don Quichotte, der im Wald zurückgebliebene, hatte inzwischen viel nachgedacht und die Waffe, die er als Laserkanone erkannte, genauestens untersucht. Diese Waffe, sagte er sich, sieht zwar haargenau wie eine Pistole aus, aber das ist genauso Tranung, wie es bei den Fahrrädern, die eigentlich Lufthunde, bei den Maschinen, die Cerebraner und bei den Menschen, die in Wirklichkeit Toboser sind, der Fall ist. Das ist eben das Problem, dachte Don Quichotte. Einiges ist getarnt, anderes nicht. Einiges ist Sein, anderes bloss Schein. Und die Kunst, die den grossen Kämpfer auszeichnet, ist es, stets dasWahre vom Falschen unterscheiden zu können. Die Kunst, jeden Augenblick vollständig wach zu sein – Bewusstheit ist das ganze Geheimnis. Ein gewöhnlicher Mensch, ein Mensch wie Sancho, dachte Don Quichotte, wird dieses Geheimnis nie durchdringen. Menschen denken nur ans Fressen und Saufen und Vögeln, sie streiten sich über Kleinigkeiten und Nichtswürdigkeiten, sie hängen ihr Herz an Dinge, die vergänglich sind, sie suchen im Unbeständigen das Glück, sie sind eitel, selbstsüchtig, gefallsüchtig, machthungrig und dumm Wenn er, Don Quichotte, ihnen nun die Befreiung aus der Sklaverei der Cerebraner brachte, so hatten sie es eigentlich gar nicht verdient. Im Grunde, so schien es ihm, liebten die Menschen die Ketten dieser Sklaverei sogar. Aber ein Streiter Tobosos verlangt keine Dankbarkeit für seine Taten, denn ihm winkt höherer Lohn. Und Don Quichotte dachte einamal mehr an die Kugeln, die im Zwischending aus Wasser und Luft schwammen. Oder flogen.

Über diesen Gedanken war es fdämmrig geworden, schon fast Nacht. Sanchos Erkundungsgang schien sich in die Länge zu ziehen. Oder hatte sich dieser Tölpel etwa gar entlarven lassen und befand sich nun in der Hand der Feinde? Aber nein, das konnte nicht sein. Die Cerebraner waren bestimmt nicht an einem Sancho Pansa interessiert. Aber vielleicht wollten sie ja ihm, Don Quichotte von Toboso, eine Falle stellen? Sancho als Geisel behalten, ihn womöglich in eine Maschine verwandeln? Oder gar in einen Cerebraner?

Don Quichotte konnte nicht mehr länger warten. Er musste jetzt augenblicklich etwas tun, Freund Sancho befreien, die Cerebraner bekämpfen. Schon sass der tobosische Ritter auf seinem Lufthund und brauste davon. Kaum zehn Minuten später näherte er sich dem bewaffneten Maschinenpark der Armee. Er realisierte sofort, dass sich in diesem Park ein Cerebraner versteckt hielt. Don Quichotte stieg vom Rad und stellte den Lufthund an einen Baum. Robbte auf allen vieren dem Rand der Böschung zu, an deren Fuss der Maschinenpark lag. Sah die Fahrzeugem die Soldaten im Mondlicht stehen. Alles war ruhig und beinahe friedlich, einer der Soldaten hatte sich, obwohl das befehlswidrig war, den Helm vom Kopf genommen, ausserdem nahm er sich hie und da einen heimlichen Schluck zur Brust, worauf der Flachmann jeweils wieder in die dafür bestimmte Tasche des Kampfanzuges wanderte.

Doch Don Quichotte war ein zu erfahrener Kämpfer, um sich von dieser Idylle einlullen zu lassen. Sein und Schein, dachte er grimmig, Sein oder Nichtsein ist hier die Frage. Nach kurzer Observation wusste er, wo der Hund begraben respektive in welcher Gestalt sich der Feind verbarg. Es war das lausigste und am meisten verdreckte Exemplar unter all den Jeeps, die da herumstanden. Du bist erkannt, sagte Don Quichotte leise zu sich selbst zwischen den Zähnen hindurch, und wirst jetzt vernichtet.

Wobei er die Pistole aus dem Gurt zog und abdrückte. Er schoss ein-, zwei-, fünf-, zehnmal auf den vor Schreck erstarrrten Cerebraner, der von dem Überraschungsangriff des gewieften Strategen völlig überrumpelt wurde und, als eine Kugel in den Pneu eindrang, mit leisem Pfeifen in die Knie ging. Es gab ein wahres Stahlgewitter, dann gab es einen noch lauteren Knall, und der Jeep, am Benzintank getroffen, stand in hellen Flammen. Don Quichotte triumphierte in seinem Innern. Die erste Prüfung war bestanden.

Don Quichotte näherte sich dem Wagenpark. Er musste den Wache schiebenden Soldaten, die den Cerberaner für einen Jeep gehalten hatten, doch erklären, warum er geschossen hatte. Diese Soldaten, von denen es, wie man jetzt sehen konnte, nicht nur zwei, sondern drei, gar vier auf dem Platz gab, waren über den Angriff des Tobosers so erschrocken, dass sie mit totenbleichen Gesichtern und offenem Mund einfach dastanden, als sie die hagere, grosse Gestalt des Don Quichotte in den kummerschen Shorts und mit der Pistole in der hand auf sich zukommen sahen. Und dann ging alles sehr schnell. Unser edler Ritter, der die Arme geöffnet hatte, um den erstbesten der Soldaten zu umarmen, wurde mit einem brutalen Fausthieb, niedergestreckt, so dass seine Laserkanone in hohem Bogen in der Dunkelheit verschwand. Da lag er nun am Boden, unser Held, und die uniformierten Mannen standen mit ratlosen Gesichtern um ihn herum.

Der Korporal war, wie sich dies gehört, der erste, der seine Fassung wiedererlangte. Mit befehlsgewohnter Stimme schickte er einen seiner Soldaten in die «Krone». Wo er seinen vorgesetzten Offizier vermutete, der um diese Zeit meist selbst schon einen in der Krone hatte. Dann führte er dem Delinquenten, der aus einer offenbar nur schwachen Ohnmacht – Toboser sind hart im Nehmen – wieder halbwegs zum Bewusstsein gefunden hatte, zu einer ersten Vernehmung persönlich ins Wachquertier. Zwar war der Korporal für einen Moment geneigt zu glauben, dass das soeben sattgefundene Ereignis zum Manöver gehöre. Inszentiert, um die Effizienz des Wachdienstes zu testen. Aber dafür schien ihm das Vorgehen des langen Dünnen denn doch zu radikal. Zudem war der da ein allzu komischer Vogel, um reguläres Mitglied der Truppen zu sein. Nein, kam der Korporal in seinem Gedankengang zum Schluss, dieser Delinquent war echt. Unerhört so was.

«Wie heissen Sie?» fragte er Don Quichotte deshalb streng, «Name, Vorname, Adresse, Beruf, Alter, AHV-Nummer und so weiter, aber ein bisschen plötzlich!» Der Korporal hätte sich jetzt gerne von aussen gesehen. Er war bestimmt. Er hatte die Situation im Griff. Er war grossartig! Hoffentlich sahen die anderen das auch so.

Don Quichotte, den der rüde Ton und die schlechten Umgangsformen des Unteroffiziers ein bissschen irritierten, setzte eine womöglich noch würdevollere Miene auf. «Wer ich bin, junger Mann, kann ich Ihnen nicht sagen, denn das ist vorläufig noch geheim. Nur so viel: Ich habe eine Mission zu erfüllen, eine sehr wichtige Mission. Und: wir bekämpfen einen gemeinsamen Feind. Soviel muss vorläufig genügen.»

Der Unteroffizier rieb sich innerlich die Hände vor Vergmügen. Er war jetzt überzeugt davon, einen gefährlichen Spion oder Terroristen verhaftet zu haben. Erstens der dunklen Andeutungen des Fremden wegen, zweitens, weil dieser ein Deutsch mit eindeutig fremdländischem Akzent sprach. Er steckte den Delinquenten also ohne weitere Diskussionen in die Arrestzelle, um in näherer Zukunft das Erscheinen seines vorgesetzten Offiziers und in etwas fernerer Zukunft seine Beförderung abzuwarten.

Etwas später traf der diensthabende Offizier tatsächlich ein. Verärgert zwar, weil manihn mitten aus dem schönsten Jassen und von einem ausgezeichneten kühlen Rosé weggeholt hatte, aber auch alarmiert von den haarsträubenden Neuigkeiten des Soldaten. Dass jemand ohne Erlaubnis und Anweisung von höherer Stelle einen Armeejeep in Brand schoss, das war in seiner Militärkarriere bisher noch nie vorgekommen. Er hatte schon jetzt das Gefühl, dass das eine Sache sei, die seine Kompetenz übersteige.

Don Quichotte sass inzwischen auf der Pritsche im Arrestlokal, innerlich ruhig, denn er fühlte sich gut, da er ja wusste, was wirklich los war. Am liebsten hätte er ein Lied vor sich hingeträllert, und zwar ein tobosisches, aber in Toboso gab es leider keine Lieder. Bei Bewohnern eines Luft-Wasser-Gemisches kann sich nun mal keine Gesangskultur entwickeln. Dann öffnete sich die Tür. Davor oder dahinter stand der Offizierm gross und breit, mit hinter den Ordonanzhgurt gklemmten Daumen. «Gut, dass Sie da sind», sagte Don Quichotte, «ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.» Der Offizier war perplex. «Erlauben Sie mal! Sie haben hier nur zu reden, wenn man Sie fragt! Sie haben eine Schweinerei angerichtet, eine Riesenschweinerei, und…» Aber Don Quichotte liess ihn nicht weiterreden. «Wir habenjetzt keine Zeit, uns mit solchem Firlefans aufzuhalten, mein Herr. Dire Lage ist ernst. Die Cerebraner sind daran, die Erde zu unterjochen, und sie…» Der Offizier horchte auf. «Wovon sprechen Sie eigentlich?» fragte er argwöhnisch. «Von der Operation Cerberus natürlich! Sie ahnen ja nicht, was der vermeintliche Jeep in Wirklichkeit…» Aber der Offizier hatte nur den Namen Cerberus gehört. So wusste dieser lange Kerl also, wie ihre streng geheime Gesamtverteidigungsübung hiess! Verdächtig, höchst verdächtig! «Wache verdoppeln!» befahl er dem Korporal. Dann machte er sich auf den Rückweg zum Hotel Sonne. Erst wurde einem Offizier die Ordonanzpistole entwendet, dann ein Jeep in Brand geschossen, des weiteren kannte der Terrorist den geheimen Namen der Gesamtverteidigungsübung, und schlussendlich wurde auch noch der Rosé warm. Das schlug doch dem Fass den Boden aus, aber wirklich!