«Unten nahm mich die Strasse in Empfang. Zu meiner Mutter musste ich die Strassenbahn nehmen. Aber jetzt ist mir schon aufgefallen: richtig, ich habe ja kein Geld, und so habe ich dann beschlossen, zu Fuss zu gehen. Um Kraft zu sammeln, bin ich noch einen Augenblick auf dem Platz, bei der Bank von vorhin stehengeblieben. Dort vorn, wo ich dann würde gehen müssen und wo die Strasse sich zu verlängern, zu verbreitern, ins Unendliche zu verlieren schien, waren die Schäfchenwolken über den bläulichen Hügeln schon violett und der Himmel purpurn. Auch war es, als hätte sich um mich herum etwas verändert: der Verkehr hatte sich beruhigt, die Schritte der Menschen waren langsamer geworden, ihre Stimmen leiser, ihre Blicke milder, und es schien, als würden sie ihre Gesichter einander zuwenden. Es war die gewisse Stunde – selbst jetzt, selbst hier erkannte ich sie –, die mir liebste Stunde im Lager, und ein schneidendes, vergebliches Gefühl ergriff mich: Heimweh.»
aus: Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen. rororo Taschenbuch
Mittwoch, 24. Februar 2010
Sonntag, 21. Februar 2010
Traurige Jäger (23)
Sancho tippte in den Labtop: «Misericordia ist formell eine parlamentarische Demokratie. Allerdings konstituiert die oberste Regierung des Landes, die Exekutive, sich selbst: gelebte Aristokratie als Herrschaft der Besten. An der Spitze des Staatsgebildes steht der Oberstchefarzt, vergleichbar einem Ministerpräsidenten in anderen Ländern. Es ist dies seit über zwanzig Jahren bereits der ehemalige Schönheitschirurg Prof. Dr. Dr. Johannes Becker-Wegerich. Ihm unterstellt sind sechs Chefärzte, die de facto den Rang eines Ministers innehaben, welche den sechs Departementen Pharmazie (vergleichbar mit einem Volkswirtschaftsdepartement), Venerologie (Aussenministerium), Hygiene (Erziehung), Allgemeine Chirurgie (Landesverteidigung), Spezielle Chirurgie (Justiz, Polizeiwesen, innere Sicherheit), Hals-/Nasen-/Ohren (Geheimdienst), Psychiatrie (Bildung) und dem Departement für moralische Gesundheit vorstehen. Als Aussenstehender ist es am Anfang schwierig, die Organisation des Staates Misericordia, ja der ganzen Gesellschaft zu verstehen und in ein Begriffssystem zu übersetzen, das uns geläufig ist. Misericordia ist in vielerlei Hinsicht seine ganz eigenen Wege gegangen und hat sich so – in unseren Augen – zu einem Exotikum, vielleicht zu einem Modellfall entwickelt. Die oben angeführten Vergleiche der Departemente in Misericordia mit Ministerien in einem uns geläufigen Sinn sind deshalb mit Vorsicht zu geniessen. Ein Beispiel: Die Kompetenzen des Departements für moralische Gesundheit, welches in vielen Bereichen die Funktionen einer Kirche übernommen hat, decken sich in manchen Punkten mit den Kompetenzen des Polizeiwesens in unserem Sinn, das heisst, dass das Departement für m.G. über polizeiähnliche Organe verfügt.
Den Chefärzten unterstellt sind Oberärzte verschiedener Grade, welchen Staatssekretäre und Beamte der höheren Kader entsprechen, aber auch höhere Wirtschaftsfunktionäre und Militärs. Da die gesamte Wirtschaft von der Pharmazie kontrolliert wird und diese wiederum monopolisiert ist, besteht in Misericordia de facto Planwirtschaft. Etwas überspitzt gesagt, funktioniert Misericordia wie eine Mischung aus Nordkorea und der Schweiz.
Nur ein kleiner Teil der enormen Produktion an misericordianischen Pharmazeutika verbleibt im Land. Da die Misericordianer, wie bereits gesagt, das gesündeste Volk der Welt sind, herrscht hier natürlich wenig Bedarf an Arzneimitteln. Deshalb wird der grösste Teil der hergestellten Produkte exportiert, was den Misericordianern natürlich sehr viel Geld bringt.
Die mittleren Kader werden in Misericordia von den Ärzten der verschiedenen Grade gebildet. Frauen findet man bis etwa in die Position von Oberärztinnen, es mögen vereinzelt weibliche Chefärzte vorkommen, zurzeit ist das jedoch nicht der Fall. Das Gros der Menschen in Misericordia wird von Pflegern und Krankenschwestern, Hilfspflegern und .Schwestern, Unterhilfspflegern und –schwestern gestellt. Daneben gibt es aber noch eine grosse Gruppe von so genannten Kastenlosen, die den Bodensatz der misericordianischen Gesellschaft bilden. Jene, die in das Gesundheitswesen Misericordias eingebunden sind, lassen sich aber nur ungern auf diese nicht klassifizierbaren Bevölkerungsschicht ansprechen. Einige streiten sogar rundweg ab, dass es sie gibt.
Das Primat des Gesundheitswesens lässt sich nur schon rein optisch wahrnehmen an der Farbe der «Uniformen», die in Misericordia natürlich weiss ist. Natürlich gibt es Nuancen, Moden und Stile, die aber nur für das geübte Auge wahrnehmbar sind.
Was in Misericordia auffällt, sind Sauberkeit, Ruhe und Ordnung. Speise und Trank sind ausgewogen, bekömmlich und gesund (freilich ist nicht ganz klar, ob die gesunde Ernährung in Misericordia eher auf der naturnahen oder auf der gentechnologischen Bühne tanzt oder gar auf beiden ein bisschen). Alkohol wird in Gaststätten nicht ausgeschenkt, und selbstverständlich ist Rauchen überall strengstens verboten. Dies ist das offizielle Bild, das Misericordia vermitteln will: Die Menschen machen einen frischen, ausgeruhten Eindruck, es sind im Allgemeinen Menschen von einer natürlichen Schönheit. Keine Bettler, Krüppel und Müssiggänger lärmen und johlen in den Strassen, schon vor Mitternacht sind die Strassen selbst einer grossen Stadt wie Misericordia City wie leergefegt. Dass der Schlaf vor Mitternacht der gesündeste sei, das ist hier kein leeres Wort. Natürlich gibt es auch keine Prostitution, keine Sexshops und keine perversen Laster in Misericordia.
Trotzdem gibt es in den grösseren Städten des Landes ein reichhaltiges kulturelles Leben, Konzerte (etwa der berühmten Sanitas-Philharmoniker oder der Menssanaincorporesano-Brassband), Theateraufführungen meist gesundheitspädagogischen Inhalts, vor allem aber wissenschaftliche Vorträge zu medizinischen Themen und verwandten Gebieten, etwa der Prophylaxe.»
Den Chefärzten unterstellt sind Oberärzte verschiedener Grade, welchen Staatssekretäre und Beamte der höheren Kader entsprechen, aber auch höhere Wirtschaftsfunktionäre und Militärs. Da die gesamte Wirtschaft von der Pharmazie kontrolliert wird und diese wiederum monopolisiert ist, besteht in Misericordia de facto Planwirtschaft. Etwas überspitzt gesagt, funktioniert Misericordia wie eine Mischung aus Nordkorea und der Schweiz.
Nur ein kleiner Teil der enormen Produktion an misericordianischen Pharmazeutika verbleibt im Land. Da die Misericordianer, wie bereits gesagt, das gesündeste Volk der Welt sind, herrscht hier natürlich wenig Bedarf an Arzneimitteln. Deshalb wird der grösste Teil der hergestellten Produkte exportiert, was den Misericordianern natürlich sehr viel Geld bringt.
Die mittleren Kader werden in Misericordia von den Ärzten der verschiedenen Grade gebildet. Frauen findet man bis etwa in die Position von Oberärztinnen, es mögen vereinzelt weibliche Chefärzte vorkommen, zurzeit ist das jedoch nicht der Fall. Das Gros der Menschen in Misericordia wird von Pflegern und Krankenschwestern, Hilfspflegern und .Schwestern, Unterhilfspflegern und –schwestern gestellt. Daneben gibt es aber noch eine grosse Gruppe von so genannten Kastenlosen, die den Bodensatz der misericordianischen Gesellschaft bilden. Jene, die in das Gesundheitswesen Misericordias eingebunden sind, lassen sich aber nur ungern auf diese nicht klassifizierbaren Bevölkerungsschicht ansprechen. Einige streiten sogar rundweg ab, dass es sie gibt.
Das Primat des Gesundheitswesens lässt sich nur schon rein optisch wahrnehmen an der Farbe der «Uniformen», die in Misericordia natürlich weiss ist. Natürlich gibt es Nuancen, Moden und Stile, die aber nur für das geübte Auge wahrnehmbar sind.
Was in Misericordia auffällt, sind Sauberkeit, Ruhe und Ordnung. Speise und Trank sind ausgewogen, bekömmlich und gesund (freilich ist nicht ganz klar, ob die gesunde Ernährung in Misericordia eher auf der naturnahen oder auf der gentechnologischen Bühne tanzt oder gar auf beiden ein bisschen). Alkohol wird in Gaststätten nicht ausgeschenkt, und selbstverständlich ist Rauchen überall strengstens verboten. Dies ist das offizielle Bild, das Misericordia vermitteln will: Die Menschen machen einen frischen, ausgeruhten Eindruck, es sind im Allgemeinen Menschen von einer natürlichen Schönheit. Keine Bettler, Krüppel und Müssiggänger lärmen und johlen in den Strassen, schon vor Mitternacht sind die Strassen selbst einer grossen Stadt wie Misericordia City wie leergefegt. Dass der Schlaf vor Mitternacht der gesündeste sei, das ist hier kein leeres Wort. Natürlich gibt es auch keine Prostitution, keine Sexshops und keine perversen Laster in Misericordia.
Trotzdem gibt es in den grösseren Städten des Landes ein reichhaltiges kulturelles Leben, Konzerte (etwa der berühmten Sanitas-Philharmoniker oder der Menssanaincorporesano-Brassband), Theateraufführungen meist gesundheitspädagogischen Inhalts, vor allem aber wissenschaftliche Vorträge zu medizinischen Themen und verwandten Gebieten, etwa der Prophylaxe.»
Samstag, 13. Februar 2010
Eine unmögliche Liebe
Dass sich Richie in Robin verlieben würde, war weder wahrscheinlich noch vorhersehbar. Es widersprach im Gegenteil allem, was man von der Wirklichkeit – der wirklichen Wirklichkeit, aber auch der Wirklichkeit dieser Geschichte – zu erwarten bereit wäre. Richie war jung, ein erfolgreicher Sportler und Versicherungsbroker, er sah gut aus auf eine Weise, die seine Schönheit durch etwas Wildes, Dreckiges, ja Vulgäres zu einer sexuellen Verführungskraft steigerte, die kaum noch zu überbieten war. Richie war bei beiden Geschlechtern begehrt. Er hätte zahllose Affären haben können, aber das kam Richie überhaupt nicht in den Sinn; er war in Robin verliebt, und zwar ohne dass diese Liebe erwidert worden wäre. Robin hatte eine Stupsnase, Tränensäcke unter den Augen, kaum Haare auf dem Kopf und war exakt einen Meter 36 Zentimeter gross, also eher klein; schon fast kleinwüchsig. Ja, Richie hat sich in Robin verliebt, Sie haben schon richtig gehört. Nicht Robin in Richie, noch nicht oder nie.
Dass sich Robin in Richie verlieben würde, das könnten wir noch goutieren, das würde uns noch einleuchten, aber andersrum macht die Geschichte für die meisten Menschen einfach keinen Sinn. Es spricht gegen die Plausibilität, dass sich ein Schöner in einen Hässlichen, ein Grosser in einen Kleinen verliebt. Das kommt uns schon fast pervers vor. Oder zumindest leicht anrüchig. Aber es kommt vor. Lassen Sie sich das gesagt sein. Es kommt vor, und gar nicht mal so selten. Es kommt nicht häufig vor, zugegeben, aber immerhin, wie Sozialwissenschaftler wohl sagen würden, mit einer Wahrscheinlichkeit im statistisch relevanten Bereich.
Wenn Sie wüssten, was nicht alles vorkommt! Unglaublich, was da alles unter dem Deckel schlummert und wummert und wabert und sich windet, diese Schlangenbrut im Abgrund der Seele, da sind die Geschichten in den Boulevardblättern das reinste Nasenwasser dagegen. Und es sind meistens nicht mal die ganz schlimmen Sachen, die das Licht des Tages und des Bewusstseins scheuen; wie die grosse Mehrheit unter uns nicht die Bestimmung zum grossen Helden, Heilige oder Geistesriesen in dieses Erdenleben mitbringen, so sind auch die meisten nicht zum grossen Verbrecher oder Unhold geboren. Das, was wir unter dem Deckel verbergen, ist uns meist schlicht peinlich; oder wäre uns peinlich, wenn wir uns dessen bewusst wären.
So wäre es auch Richie peinlich gewesen, wenn es ihm bewusst gewesen wäre, dass er sich in Robin verliebt hatte, und dass er sich deshalb nicht auf die zahllosen Affären einliess, die er hätte haben können. Es war aber Richie nicht bewusst; nur dass er so ein komisches Zerren und Ziehen in der Magengegend spürte, wenn er Robin sah. Und dass er eben keine Lust hatte, sich auf die zahllosen Affären einzulassen, die ihm angetragen wurden. Richie begegnete Robin relativ oft; sie waren Nachbarn. Richie wohnte allein und seine Wohnung war infolgedessen eine Junggesellenwohnung; Robin, lebte mit seiner normal grossen – oder annähernd normal grossen, sie war etwa eins sechzig – Schwester zusammen. Diese Schwester, man ahnt es, war heimlich in Richie verliebt. Damit verdichtet sich das eng gesponnene Netz aus Tragik, das über dieser Geschichte liegt, noch einmal erheblich. Wir dürfen davon ausgehen, dass Robin Richie ebenfalls nicht grundsätzlich abgeneigt ist; aber er kommt sich durch jegliche Art von Zuwendung von Seiten Richies, sei diese nun positiver oder negativer Art, verhöhnt, ja verarscht vor. Also macht er sich abweisend, stachelig, widerborstig, was wiederum Richie verstört, der allmählich seinen wahren Gefühlen auf die Spur kommt. In einer aklhol- und tränenreichen Nacht gesteht er sich selber seine Liebe zu Robin ein. Er ist verzweifelt, dass sein Angebeteter nichts von ihm wissen will und, je mehr er um ihn wirbt, desto weniger von ihm wissen will. Schliesslich wirft er sich in einem Anfall von akuter Verzweiflung vor den Zug. Robin aber verbittert ob der Tatsache, dass niemals jemand ihn begehren, ihn lieben wird. Man darf davon ausgehen, dass ihn ein einsames Alter erwartet. Und Robin Schwester, die in dieser Geschichte nicht mal einen Namen hat? Die heiratet einen andern, von dem sie sich später wieder scheiden lässt; ihren Bruder verleugnet sie vor ihren Kindern, die alle mindestens einen Kopf grösser sind als sie.
Dass sich Robin in Richie verlieben würde, das könnten wir noch goutieren, das würde uns noch einleuchten, aber andersrum macht die Geschichte für die meisten Menschen einfach keinen Sinn. Es spricht gegen die Plausibilität, dass sich ein Schöner in einen Hässlichen, ein Grosser in einen Kleinen verliebt. Das kommt uns schon fast pervers vor. Oder zumindest leicht anrüchig. Aber es kommt vor. Lassen Sie sich das gesagt sein. Es kommt vor, und gar nicht mal so selten. Es kommt nicht häufig vor, zugegeben, aber immerhin, wie Sozialwissenschaftler wohl sagen würden, mit einer Wahrscheinlichkeit im statistisch relevanten Bereich.
Wenn Sie wüssten, was nicht alles vorkommt! Unglaublich, was da alles unter dem Deckel schlummert und wummert und wabert und sich windet, diese Schlangenbrut im Abgrund der Seele, da sind die Geschichten in den Boulevardblättern das reinste Nasenwasser dagegen. Und es sind meistens nicht mal die ganz schlimmen Sachen, die das Licht des Tages und des Bewusstseins scheuen; wie die grosse Mehrheit unter uns nicht die Bestimmung zum grossen Helden, Heilige oder Geistesriesen in dieses Erdenleben mitbringen, so sind auch die meisten nicht zum grossen Verbrecher oder Unhold geboren. Das, was wir unter dem Deckel verbergen, ist uns meist schlicht peinlich; oder wäre uns peinlich, wenn wir uns dessen bewusst wären.
So wäre es auch Richie peinlich gewesen, wenn es ihm bewusst gewesen wäre, dass er sich in Robin verliebt hatte, und dass er sich deshalb nicht auf die zahllosen Affären einliess, die er hätte haben können. Es war aber Richie nicht bewusst; nur dass er so ein komisches Zerren und Ziehen in der Magengegend spürte, wenn er Robin sah. Und dass er eben keine Lust hatte, sich auf die zahllosen Affären einzulassen, die ihm angetragen wurden. Richie begegnete Robin relativ oft; sie waren Nachbarn. Richie wohnte allein und seine Wohnung war infolgedessen eine Junggesellenwohnung; Robin, lebte mit seiner normal grossen – oder annähernd normal grossen, sie war etwa eins sechzig – Schwester zusammen. Diese Schwester, man ahnt es, war heimlich in Richie verliebt. Damit verdichtet sich das eng gesponnene Netz aus Tragik, das über dieser Geschichte liegt, noch einmal erheblich. Wir dürfen davon ausgehen, dass Robin Richie ebenfalls nicht grundsätzlich abgeneigt ist; aber er kommt sich durch jegliche Art von Zuwendung von Seiten Richies, sei diese nun positiver oder negativer Art, verhöhnt, ja verarscht vor. Also macht er sich abweisend, stachelig, widerborstig, was wiederum Richie verstört, der allmählich seinen wahren Gefühlen auf die Spur kommt. In einer aklhol- und tränenreichen Nacht gesteht er sich selber seine Liebe zu Robin ein. Er ist verzweifelt, dass sein Angebeteter nichts von ihm wissen will und, je mehr er um ihn wirbt, desto weniger von ihm wissen will. Schliesslich wirft er sich in einem Anfall von akuter Verzweiflung vor den Zug. Robin aber verbittert ob der Tatsache, dass niemals jemand ihn begehren, ihn lieben wird. Man darf davon ausgehen, dass ihn ein einsames Alter erwartet. Und Robin Schwester, die in dieser Geschichte nicht mal einen Namen hat? Die heiratet einen andern, von dem sie sich später wieder scheiden lässt; ihren Bruder verleugnet sie vor ihren Kindern, die alle mindestens einen Kopf grösser sind als sie.
Freitag, 12. Februar 2010
Warten auf Godot
"Wenn einer ungefähr achtzig Jahre lang drauf gewartet hat, dass Gott in sein Leben tritt, dann würd man doch meinen, dass der dann auch kommt. Wenn nicht, müsste man trotzdm davon ausgehen, dass er weiss, was er tut. Ich weiss nicht, wie man Gott anders beschreiben könnte. Letzlich läuft's darauf raus, dass diejenigen, zu denen er gesprochen hat, es wohl am nötigsten gehabt haben. Das ist nicht so einfach zu akzeptieren. (...) Aber vielleicht schauen wir ja alle durchs falsche Ende vom Fernglas. Und zwar schon immer."
Sheriff Bell, in Cormac McCarthy, Kein Land für alte Männer.
Sonntag, 7. Februar 2010
Rückwärtserei
"Tatsächlich war ich, während Loos immer wacher zu werden schien, fast eingenickt und hatte seine Stimme wie aus weiter Ferne gehört. Doch, ja, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen, Sie haben mir weismachen wollen, Sie seien nicht rückwärtsgewandt, dann aber ein Szenario gezeichnet, das Sie Lügen straft. - Das stimmt, sagte Loos, das ist das Dilemma der heutigen Sofaträumer: gehen sie vom Bestehenden aus, ohne es anzutasten, starten sie also auf der Rampe des Status quo und phantasieren sie sich vorwärts Richtung Zukunft, um dort etwas Lieberes zur Erscheinung zu bringen, dann scheitern sie. Denn in der Zukunft wird das heute Faktische, das sie ja mitträumen müssen, noch dreimal faktischer sein. Da bringt man kein Luftschloss mehr unter. Zukunftsträume, mit anderen Worten, können nur Alpträume sein, zumindest für jene, denen es schon vor der Gegenwart graut. Und wenn man sich diese wegträumt, indem man der Menschheit vom Sofa aus eine partielle Sintflut verordnet, dann landet man naturgemäss im Gestern. Den Vorwurf der Rückwärtserei muss man schlucken. Wer alles gern langsamer hätte, stiller, sinnlicher, weniger grell, hat keine andere Wahl, als sich in Einst hineinzuphantasieren, denn wie erwähnt, das Künftige wird so gewaltsam wirklich sein, dass sich kein Träumchen mehr nach vorne wagt, verstehen Sie?"
aus: Markus Werner, Am Hang. Roman, 2004.
aus: Markus Werner, Am Hang. Roman, 2004.
Donnerstag, 4. Februar 2010
Traurige Jäger (25)
Sancho warf einen Blick in den mannshohen Schrankspiegel. Es war nicht zu leugnen: Er war klein und dick. Nun, vielleicht nicht gerade dick, aber unzweifelhaft eher stark gebaut. Er war nicht zufrieden mit sich an diesem Morgen, das Gesicht schien ihm gedunsen, das Haar zu struppig, der Körper zu schwammig. Vielleicht war er ja krank. Auf jeden Fall gefiel ihm dieser Mann im Spiegel nicht, er konnte sich nicht vorstellen, wie jemand, wie eine Frau erotischen Gefallen an ihm finden konnte. Er fühlte sich total unsexy. Ja, früher, als er noch ein junger Mann gewesen war, oder in anderen Jahrhunderten, da hatte er sich gerne im Spiegel betrachtet. Eine halb angenehme, halb peinliche Erinnerung. Sancho duschte, rasierte sich, kämmte sich sehr sorgfältig, verwendete spärlich ein diskretes Herrenparfum, holte den massgeschneiderten Anzug aus dem Schrank, vergewisserte sich, dass die Schuhe tadellos glänzten. Dann betrachte er sich ein weiteres Mal mit mehr Befriedigung im Spiegel. Er lächelte sich aufmunternd zu.
Nach dem Frühstück ging Sancho Pansa, Journalist mit Embonpoint und gut gekleideter Porschefahrer, zu Fuss zum nahe gelegenen Haus der grossen Ärztekammer. Dort war ein emsiges Kommen und Gehen von Männern mit entschlossenen, vertrauenserweckenden Gesichtern in langen weissen Kitteln, einige mit vor der Brust baumelnden Stethoskopen, andere mit stilisiertem Chirurgenbesteck, das sie wie Broschen oder vielmehr Orden auf der Brust trugen, dazu Frauen, deren Gesichter von Verzicht und Aufopferung geadelt wurden, auch sie ganz in Weiss, doch an Brustschmuck natürlich keine stilisierten Chirurgenbestecke aufweisend, sondern so etwas wie kleine Pissnelken n diskretem Weissgold. Übrigens hatte auch Sancho sich der Landessitte anpassend wenn schon nicht in reines Weiss, so doch in ein sehr helles Beige gekleidet.
Sancho schritt die grosse breite Treppe hoch, die zu den Wandelhallen führte. Er erkundigte sich bei einem Amtsdiener nach der Zuschauertribüne. Von der Tribüne aus konnte man sehen, dass in der Tiefe des riesigen Saales ungefähr die Hälfte aller Stühle mit Angehörigen der grossen Ärztekammer besetzt war. Die meisten von ihnen blätterten on Zeitungen, etwa der seriösen «Neuen Ärzte Zeitung» oder dem grellen Boulevardblatt «Skalpell»; einige der Anwesenden schienen zu schlafen.
Es äusserte sich soeben ein Redner zum Thema der Arzneimittelexporte, einem Kernthema misericordianischer Politik. Er war offenbar ein in der Wolle gewaschener Lobbyist und erging sich in Lobeshymnen auf die pharmazeutische Industrie des Landes, der die misericordianische Volkswirtschaft ihren Wohlstand, die geringe Arbeitslosenquote, mithin den sozialen Frieden, mithin Kontinuität und Stabilität sowie blablabla blablabla. Der Antrag der Vertreterin der Oppositionellen Ärzte und Krankenschwestern OAK, auch «die Ultraweissen» genannt, auf Senkung der Exporte gewisser pharmazeutischer Produkte insbesondere so genannte Entwicklungsländer (da diese Länder sich ohnehin schon in einer dramatischen Auslandsverschuldung befänden) sei deshalb gar nicht ernst zu nehmen. Stets wachsende Direktinvestitionen wurden vom Redner wuchtig ins Feld geführt, das Argument, auch diese Investitionen dienten in Anbetracht des niedrigen Lohnniveaus der berücksichtigten Länder bloss der Bereicherung multinationaler Konzerne, mit dem Hinweis auf die zunehmende Digitalisierung der Produktion entkräftigt. Ausserdem leiste Misericordia in stets wachsendem Mass direkte Entwicklungshilfe, die schon in zehn Jahren den internationalen Durchschnitt übertreffen, ja, übertreffen werde. Der Redner überliess das Pult einer Vertreterin der «Ultraweissen». «Dass die Welt», hub diese an, «mit Medikamenten versorgt werden muss, das sehen auch wir ein. Und wir versorgen die Welt, das kann man wohl sagen, mit allen nötigen und unnötigen Pillen, Tabletten, Zäpfchen, Essenzen, Ampullen, Pülverchen und Wässerchen. Ich gebe zu, dank der pharmazeutischen Industrie ist Misericordia eins der reichsten Länder der Welt, wenigstens am Bruttoinlandprodukt gemessen. Dagegen will nicht einmal etwas sagen. Natürlich könnte man einwenden: Draussen in der Welt, von der wir leider so wenig mitbekommen, fehlt es Millionen von Menschen zuallererst an ausreichender Ernährung, an sauberem Wasser und an hygienischen Wohnverhältnissen. Aber was geht uns das an. Man könnte sich den Luxus leisten, festzustellen, dass Armut krank macht und Gesundheit zuallererst Gerechtigkeit braucht – Gerechtigkeit auch in der Versorgung mit den unentbehrlichen Arzneimitteln. Dass etwa in einem Land, dessen Bevölkerung zu einem grossen Teil an Unterernährung leidet, in den Schaufenstern der Apotheken hauptsächlich Abmagerungspillen für die wenigen übergewichtigen Reichen angeboten werden – selbstverständlich misericordianische Abmagerungspillen –, können Sie meinetwegen lustig finden. Man weiss es ja eigentlich: Überflüssige Medikamente fördern nicht die Gesundheit, sondern bloss das Geschäft. Uns kann es nur recht sein! – Werte Kolleginnen und Kollegen! Können Sie aber noch ruhig schlafen, wenn Sie wissen, dass wir auch solche Substanzen exportieren, und zwar ebenfalls in Ländet, die erwiesenermassen von brutalen, gewalttätigen, undemokratischen Diktatoren beherrscht werden, von Regierungen, die ein ganz anderes Motto als «Helfen und Heilen» in ihrem Wappen haben, Substanzen, verehrte Damen und Herren, die Nervenkrämpfe verursachen, Blutzerfall, Psychosen, alle Arten von Krebs, Substanzen also, die nach einer qualvollen Agonie zum Tod führen? Ich habe geschlossen.» Erstaunlich, dachte Sancho, dass in einem, wie soll ich sagen, so «wohlorganisierten» Land wie Misericordia in einem quasiöffentlichen Rahmen so aufmüpfige Reden geschwungen werden durften. Aber vielleicht ist ja diese «Ärztekammer» auch bloss so eine Schwatzbude wie das Parlament bei uns. Jetzt schritt der nächste Weisskittel, ein älterer, väterlich wirkender Herr mit Glatze, zum Rednerpult. «Ich bin», sagte er mit gönnerhafter Stimme, «mit grosser Anteilnahme, ja mit Spannung den Argumenten meiner charmanten Vorrednerin gefolgt. Die Geisteshaltung, aus der heraus sie gesprochen hat, verdient sogar meine Sympathie. Aber», und hier hob er oberlehrerhaft seinen Zeigfinger, «es gilt dazu, von einem streng naturwissenschaftlichen Standpunkt aus gesprochen, Folgendes zu bemerken. Jede Substanz, und gelte sie als noch so harmlos, wird für den menschlichen Organismus in einer gewissen Quantität zu einem – ja, sprechen wir es ruhig aus –, zu einem Gift. Selbst das für uns so überlebenswichtige Wasser. Gift und Heilmittel, Heilmittel und Gift, das ist nicht zu trennen. Dosis facit venenum, wie der Lateiner moniert. – Wenn nun also einige unserer Heilmittel, die wir als neutrale Geschäftsleute unseren Kunden anbieten und verkaufen – was nicht nur unser Recht ist, sondern auch unsere verdammte Pflicht –, wenn unsere so wertvollen Heilmittel also als Gifte missbraucht werden, so ist das zwar in höchstem Mass bedauerlich und verwerflich, da gebe ich meiner Vorrednerin recht, aber es ist leider nicht zu vermeiden. Meine Damen und Herren! Wir sind zwar gewiss alle zivilisierte und einer hohen Ethik verpflichtete Menschen, aber wir wollen und können und dürfen uns doch nicht zum Weltgewissen machen oder gar als Weltpolizisten auftreten!»
Einige Weisskittel applaudierten lahm. Andere raschelten weiterhin mit Papier. Wieder andere befanden sich entweder in einem Zustand tiefer Meditation oder hatten den fulminanten Auftritt des Rhetorikers selig verschlafen.
Das nächste Thema, das behandelt wurde, war ein Antrag von Seiten der Vereinigung für geistige Gesundheit und Moral, die Zuwendungen der staatlichen Gelder für die Wahrung der moralischen Gesundheit zu erhöhen. «Trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der moralischen Gesundheitspflege», meinte der erste Redner zu diesem Geschäft, ein sehr dicker Herr mit einer gewaltigen Bassstimme wie aus einem Kellergewölbe, «ist gerade hier die optimale gesundheitliche Sicherheit für Leib und Seele noch nicht vollständig gewährleistet. Auch ist auf diesem Gebiet die Gefahr von Rückfällen besonders gross. Die Moral ist ein zartes Pflänzchen, es muss gehegt werden. Wie sich gezeigt hat, kann mit der Vernachlässigung der moralischen Gesundheit durch gewisse Individuen auch eine Gefahr für die Gesundheit des Leibes verbunden sein. Das Laster ist eine Krankheit! Natürlich haben unsere Gesundheitsbehörden die Situation auch an dieser Front voll im Griff. Aber es gilt, wachsam zu sein. Deshalb ist es unabdingbar, den Vollzugsorganen der moralischen Gesundheit, unserer wackeren Gesundheitspolizei, den besonderen Kredit zu gewähren.»
Der dunkle Bass hatte im Ton ruhiger Zuversicht gesprochen. Er war mit dem Chefarzt der Gesundheitspolizei befreundet. Die Aufmerksamkeit im Raum war klein. Dieses Geschäft besass keinerlei Brisanz. Die Wichtigkeit der moralischen Gesundheit war allen klar. Man scherzte in den Reihen der Abgeordneten, las die Zeitung oder erhob sich, um sich in der Wandelhalle die Beine zu vertreten und Kamillentee zu trinken. Die eigentlichen Geschäfte wurden eh in der Wandelhalle entschieden. Sancho machte sich schon lange keine Notizen mehr. Er hatte einen mächtigen Hunger, der kaum mit ein paar Salatblättchen zu stillen war.
Nach dem Frühstück ging Sancho Pansa, Journalist mit Embonpoint und gut gekleideter Porschefahrer, zu Fuss zum nahe gelegenen Haus der grossen Ärztekammer. Dort war ein emsiges Kommen und Gehen von Männern mit entschlossenen, vertrauenserweckenden Gesichtern in langen weissen Kitteln, einige mit vor der Brust baumelnden Stethoskopen, andere mit stilisiertem Chirurgenbesteck, das sie wie Broschen oder vielmehr Orden auf der Brust trugen, dazu Frauen, deren Gesichter von Verzicht und Aufopferung geadelt wurden, auch sie ganz in Weiss, doch an Brustschmuck natürlich keine stilisierten Chirurgenbestecke aufweisend, sondern so etwas wie kleine Pissnelken n diskretem Weissgold. Übrigens hatte auch Sancho sich der Landessitte anpassend wenn schon nicht in reines Weiss, so doch in ein sehr helles Beige gekleidet.
Sancho schritt die grosse breite Treppe hoch, die zu den Wandelhallen führte. Er erkundigte sich bei einem Amtsdiener nach der Zuschauertribüne. Von der Tribüne aus konnte man sehen, dass in der Tiefe des riesigen Saales ungefähr die Hälfte aller Stühle mit Angehörigen der grossen Ärztekammer besetzt war. Die meisten von ihnen blätterten on Zeitungen, etwa der seriösen «Neuen Ärzte Zeitung» oder dem grellen Boulevardblatt «Skalpell»; einige der Anwesenden schienen zu schlafen.
Es äusserte sich soeben ein Redner zum Thema der Arzneimittelexporte, einem Kernthema misericordianischer Politik. Er war offenbar ein in der Wolle gewaschener Lobbyist und erging sich in Lobeshymnen auf die pharmazeutische Industrie des Landes, der die misericordianische Volkswirtschaft ihren Wohlstand, die geringe Arbeitslosenquote, mithin den sozialen Frieden, mithin Kontinuität und Stabilität sowie blablabla blablabla. Der Antrag der Vertreterin der Oppositionellen Ärzte und Krankenschwestern OAK, auch «die Ultraweissen» genannt, auf Senkung der Exporte gewisser pharmazeutischer Produkte insbesondere so genannte Entwicklungsländer (da diese Länder sich ohnehin schon in einer dramatischen Auslandsverschuldung befänden) sei deshalb gar nicht ernst zu nehmen. Stets wachsende Direktinvestitionen wurden vom Redner wuchtig ins Feld geführt, das Argument, auch diese Investitionen dienten in Anbetracht des niedrigen Lohnniveaus der berücksichtigten Länder bloss der Bereicherung multinationaler Konzerne, mit dem Hinweis auf die zunehmende Digitalisierung der Produktion entkräftigt. Ausserdem leiste Misericordia in stets wachsendem Mass direkte Entwicklungshilfe, die schon in zehn Jahren den internationalen Durchschnitt übertreffen, ja, übertreffen werde. Der Redner überliess das Pult einer Vertreterin der «Ultraweissen». «Dass die Welt», hub diese an, «mit Medikamenten versorgt werden muss, das sehen auch wir ein. Und wir versorgen die Welt, das kann man wohl sagen, mit allen nötigen und unnötigen Pillen, Tabletten, Zäpfchen, Essenzen, Ampullen, Pülverchen und Wässerchen. Ich gebe zu, dank der pharmazeutischen Industrie ist Misericordia eins der reichsten Länder der Welt, wenigstens am Bruttoinlandprodukt gemessen. Dagegen will nicht einmal etwas sagen. Natürlich könnte man einwenden: Draussen in der Welt, von der wir leider so wenig mitbekommen, fehlt es Millionen von Menschen zuallererst an ausreichender Ernährung, an sauberem Wasser und an hygienischen Wohnverhältnissen. Aber was geht uns das an. Man könnte sich den Luxus leisten, festzustellen, dass Armut krank macht und Gesundheit zuallererst Gerechtigkeit braucht – Gerechtigkeit auch in der Versorgung mit den unentbehrlichen Arzneimitteln. Dass etwa in einem Land, dessen Bevölkerung zu einem grossen Teil an Unterernährung leidet, in den Schaufenstern der Apotheken hauptsächlich Abmagerungspillen für die wenigen übergewichtigen Reichen angeboten werden – selbstverständlich misericordianische Abmagerungspillen –, können Sie meinetwegen lustig finden. Man weiss es ja eigentlich: Überflüssige Medikamente fördern nicht die Gesundheit, sondern bloss das Geschäft. Uns kann es nur recht sein! – Werte Kolleginnen und Kollegen! Können Sie aber noch ruhig schlafen, wenn Sie wissen, dass wir auch solche Substanzen exportieren, und zwar ebenfalls in Ländet, die erwiesenermassen von brutalen, gewalttätigen, undemokratischen Diktatoren beherrscht werden, von Regierungen, die ein ganz anderes Motto als «Helfen und Heilen» in ihrem Wappen haben, Substanzen, verehrte Damen und Herren, die Nervenkrämpfe verursachen, Blutzerfall, Psychosen, alle Arten von Krebs, Substanzen also, die nach einer qualvollen Agonie zum Tod führen? Ich habe geschlossen.» Erstaunlich, dachte Sancho, dass in einem, wie soll ich sagen, so «wohlorganisierten» Land wie Misericordia in einem quasiöffentlichen Rahmen so aufmüpfige Reden geschwungen werden durften. Aber vielleicht ist ja diese «Ärztekammer» auch bloss so eine Schwatzbude wie das Parlament bei uns. Jetzt schritt der nächste Weisskittel, ein älterer, väterlich wirkender Herr mit Glatze, zum Rednerpult. «Ich bin», sagte er mit gönnerhafter Stimme, «mit grosser Anteilnahme, ja mit Spannung den Argumenten meiner charmanten Vorrednerin gefolgt. Die Geisteshaltung, aus der heraus sie gesprochen hat, verdient sogar meine Sympathie. Aber», und hier hob er oberlehrerhaft seinen Zeigfinger, «es gilt dazu, von einem streng naturwissenschaftlichen Standpunkt aus gesprochen, Folgendes zu bemerken. Jede Substanz, und gelte sie als noch so harmlos, wird für den menschlichen Organismus in einer gewissen Quantität zu einem – ja, sprechen wir es ruhig aus –, zu einem Gift. Selbst das für uns so überlebenswichtige Wasser. Gift und Heilmittel, Heilmittel und Gift, das ist nicht zu trennen. Dosis facit venenum, wie der Lateiner moniert. – Wenn nun also einige unserer Heilmittel, die wir als neutrale Geschäftsleute unseren Kunden anbieten und verkaufen – was nicht nur unser Recht ist, sondern auch unsere verdammte Pflicht –, wenn unsere so wertvollen Heilmittel also als Gifte missbraucht werden, so ist das zwar in höchstem Mass bedauerlich und verwerflich, da gebe ich meiner Vorrednerin recht, aber es ist leider nicht zu vermeiden. Meine Damen und Herren! Wir sind zwar gewiss alle zivilisierte und einer hohen Ethik verpflichtete Menschen, aber wir wollen und können und dürfen uns doch nicht zum Weltgewissen machen oder gar als Weltpolizisten auftreten!»
Einige Weisskittel applaudierten lahm. Andere raschelten weiterhin mit Papier. Wieder andere befanden sich entweder in einem Zustand tiefer Meditation oder hatten den fulminanten Auftritt des Rhetorikers selig verschlafen.
Das nächste Thema, das behandelt wurde, war ein Antrag von Seiten der Vereinigung für geistige Gesundheit und Moral, die Zuwendungen der staatlichen Gelder für die Wahrung der moralischen Gesundheit zu erhöhen. «Trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der moralischen Gesundheitspflege», meinte der erste Redner zu diesem Geschäft, ein sehr dicker Herr mit einer gewaltigen Bassstimme wie aus einem Kellergewölbe, «ist gerade hier die optimale gesundheitliche Sicherheit für Leib und Seele noch nicht vollständig gewährleistet. Auch ist auf diesem Gebiet die Gefahr von Rückfällen besonders gross. Die Moral ist ein zartes Pflänzchen, es muss gehegt werden. Wie sich gezeigt hat, kann mit der Vernachlässigung der moralischen Gesundheit durch gewisse Individuen auch eine Gefahr für die Gesundheit des Leibes verbunden sein. Das Laster ist eine Krankheit! Natürlich haben unsere Gesundheitsbehörden die Situation auch an dieser Front voll im Griff. Aber es gilt, wachsam zu sein. Deshalb ist es unabdingbar, den Vollzugsorganen der moralischen Gesundheit, unserer wackeren Gesundheitspolizei, den besonderen Kredit zu gewähren.»
Der dunkle Bass hatte im Ton ruhiger Zuversicht gesprochen. Er war mit dem Chefarzt der Gesundheitspolizei befreundet. Die Aufmerksamkeit im Raum war klein. Dieses Geschäft besass keinerlei Brisanz. Die Wichtigkeit der moralischen Gesundheit war allen klar. Man scherzte in den Reihen der Abgeordneten, las die Zeitung oder erhob sich, um sich in der Wandelhalle die Beine zu vertreten und Kamillentee zu trinken. Die eigentlichen Geschäfte wurden eh in der Wandelhalle entschieden. Sancho machte sich schon lange keine Notizen mehr. Er hatte einen mächtigen Hunger, der kaum mit ein paar Salatblättchen zu stillen war.
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