Montag, 6. Juli 2009

Traurige Jäger (2)




Es ging schon gegen Morgen. Im Wachsaal war – so paradox das klingen mag … ein vielstimmiges Schnarchen, Murmeln, Seufzen und Schmatzen der chemisch betäubten Patienten zu vernehmen. In einer Ecke sass die Nachtschwester über einer Illustrierten zusammengesunken – «Gala». «Glückpost» oder «Schweizer Illustrierte» – zusammengesunken und schlummerte ebenfalls selig und süss. Nur zwei waren wach: Don Quichotte und Sancho Pansa. Denn sie wollten noch in dieser Nacht abhauen. Eine Welt voller Abenteur und Aufgaben erwartete sie.

Komm, die Zeit ist da! ¡Vamos! zischte Don Quichotte Sancho Pansa zu. Mit blossen Füssen und in ihre weissen Nachthemden erinnerten sie ein bisschen an Kindergespenster, als sie jetzt aus den Betten stiegen, der eine gross und hager, ein typischer Leptosome (paranoide Schizophrenie, wie der Psychiater befriedigt festgestellt hatte), der andere klein und kugelig, der typischer Pykniker mit einer für den Pykniker typischen manisch-depressiven Neigung. Und schon stand Don Quichotte dicht vor der Nachtschwester und schaute ihr mit durchdringendem Blick ins Gesicht, was diese aber nur veranlasste, die Nase kraus zu ziehen, als müsse sie niesen. Vorsichtig zog ihr Don Quichotte den Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Tür des Wahcsaals. Adiós, arme Brüder, murmelte er, und der kleine Dicke winkte mit der feisten Hand.

Die beiden hatten sich erst hier in der Klinik kennen gelernt, waren aber trotz ihrer äusserlichen und charakterlichen Unterschiedlichkeit schon bald unzertrennlich geworden. Stundenlang hatte man sie die Köpfe zusammenstrecken, Don Quichotte leise, aber eindringlich auf Sancho Pansa einreden sehen, während dieser eifrig mit dem Kopf nickte zu den Erläuterungen seines gross gewachsenen, dürren Kumpels.

Nachdem sie durch endlos lange Gänge gehuscht waren, zwei Kindergespenster, bange horchend auf verdächtige Geräusche, aber ohne aufgehalten zu werden, standen sie jetzt vor dem Gebäude in der lauen Luft der schönbesternten Sommernacht. Adónde vamos ahora? fragte Sancho Pansa, der die Entscheidungen immer anderen, die es besser wussten, zum Beispiel seinem langen Kameraden, überliess. Don Quichotte überlegte eine Weile und sagte dann bestimmt: Zum Schwimmbad! Sancho daraufhin irritiert: Ma porqué? Das Schwimmbad ist doch geschlossen um diese Zeit. Aber Don Quichotte liess diesen Einwand nicht gelten: Als Toboser könne man jederzeit an jeden beliebigen Ort gehen, also auch ins Schwimmbad, selbst wenn dieses geschlossen sei. Umso besser, wenn es geschlossen sei. Denn, so führte er aus, im Schwimmbad seien sie vor der Verfolgung des Feindes sicher. Ausserdem würde es ihnen da bestimmt gelingen, morgen, wenn die ersten Badenden kämen, einige passende Kleidungsstücke zu erbeuten. In diesen Fetzen könne er sich jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit zeigen, geschweige denn auf ein Pferd oder gar einen Lufthund setzen. Nicht einmal Unterhosen habe er an. Natürlich sei es für einen Toboser irrelevant, ob er Unterhosen trage oder nicht, aber er wolle sich ja nicht so leicht zu erkennen geben. Tarnung, lieber Sancho, Tarnung ist das erste Gebot, wenn man mit geheimer Mission im Feindesland unterwegs ist, schärfte der Ritter seinem Knappen ein. Ausserdem habe er einfach Lust auf ein erfrischendes Bad. – Das alles erschien Sancho einerseits nicht so recht plausibel, das heisst, er verstand es nicht so ganz, zudem konnte er nicht schwimmen und war überhaupt wasserscheu; andererseits wusste er auch, dass sein Verstand zu beschränkt war, um so komplexe Materien zu durchdringen, und er war immerhin so gescheit, seine eigene Beschränktheit zu erkennen und anzuerkennen.

Das öffentliche Schwimmbad der Gemeinde, zu welcher die Anstalt gehörte, befand sich auf der anderen Seite des Waldes, der die Klinik von der Ortschaft trennte. Also machten sie sich mit ihren blossen auf, diesen Wald zu durchqueren, Don Quichotte fluchend, wenn er auf einen spitzen Stein getreten war oder sich die Zehen angeschlagen hatte, Sancho Pansa alle Heiligen des Himmels anrufend, weil er sich in der Dunkelheit ein wenig fürchtete und das Anrufen von Heiligen ja nie schaden kann.

Nach einer Zeit, die ihnen schier endlos erscheinen wollte, weil sie sich natürlich verlaufen hatten, langten sie endlich beim Schwimmbad an, das von einem knapp mannshohen Drahtgitter umzäumt war. Don Quichotte nahm dieses Hindernis im Sturm und landete auf der anderen Seite des Zauns zwar auf der Nase, doch fiel er des Rasens wegen relativ weich. Sancho Pansa jammerte und stöhnte, er werde es nie schaffen, über diesen Zaun zu kommen; eine Selbsteinschätzung, die sich schliesslich nur darum als Irrtum herausstellte, weil der Glaube, und erst recht der Glaube eines Don Quichotte, Berge versetzen kann. Inzwischen dämmerte schon der Morgen herauf, die Luft war jetzt empfindlich kühl, und der arme Sancho, obwohl der weitaus besser gepolsterte auch der weitaus empfindlichere von beiden, begann zu frösteln, ausserdem war er müde und sehnte sich nach einem Bett. Don Quichotte hingegen beschwor wortreich die Atmosphäre Tobosos und die Tiefen des Alls, im heiligen Wasser gespiegelt, vor welcher sowohl Mensch als auch Toboser nackte erscheine. Und tatsächlich, da stand er würdige Ritter auch schon gänzlich entblösst auf dem gespflegten Schwimmbadrasen zwischen Zierschilf, machte einige Freiübungen nach gut müllerscher Art, kreiste mit den Armen, atmete tief durch, nahm einen Anlauf und tauchte kopfvoran ins heilignüchterne Element. Sancho schaute mit bekümmerter Miene zu, wie der edle Herr seine Runden schwamm. Er zog einen heissen Kaffee dem kalten Bad bei weitem vor.

Etwas später hörten sie, wie ein Auto vor dem Schwimmbad anhielt. Wir müssen uns verstecken, rief Don Quichotte, der Feind naht! Es nahte aber bloss der Bademeister, der seine Runde machte, gestern liegen gebliebenes Eiscrèmepapier vom Rasen hob, die chemische Zusammensetzung des Badewassers kontrollierte, bevor er das Bad fürs Publikum, das aber erst vom späten Vormittag an zahlreicher herbeiströmen würde, öffnete. Als erste Besucher kamen wie immer die pensionierten Kummers, er lang und dünn, sie klein und mollig, um in Ruhe zu schwimmen. Am Nachmittag, wenn die heutige ungezogene Jugend das Bad in Beschlag genommen hatte, wurde das ja unmöglich. So früh am Morgen war es noch nicht einmal nötig, die Kleider in Kästchen einzuschliessen. Und für Rohköstler wie die Kummers war der frühe Morgen einfach eine herrliche Tageszeit.

Mit angehaltenem Atem standen Don Quichotte und Sancho Pansa hinter dem Vorhang der Männergarderobe, der für die schamvolleren der Badegäste angebracht war, während Herr Kummer sich seiner Kleider entledigte. Als er endlich in den Badehosen war und sich vor dem Schwimmen im Spiegel ausführlich gekämmt hatte (warum das sein musste, wusste nur Herr Kummer selbst, und der Ritter tippte sich, gegen Sancho hin, mit einer bezeichnenden Geste an die Stirn), dauerte es keine Minute, bis Don Quichotte on den Kleidern von Herrn Kummer, die ihm nicht schlecht passten, vor seinem dicken Freund und Knappen stand. Und ich? fragte dieser und hatte schon fast wieder ein Weinen in der Stimme. Du holst dir die Kleider von Madame, aber mach, dass dich niemand sieht, befahl Don Quichotte, – Was soll ich damit? – Sie anziehen, Calabazo, was denn sonst? – Aber ich bin doch keine Frau! empörte sich da Sancho, der als Südländer trotz seines eher hasenfüssigen Wesens eine gesunde Portion Machismo in seinem Blut hatte. – Das merkt doch niemand, jedenfalls nicht von weitem. Hast du ihren prachtvollen Sonnenhut gesehen? Den ziehst du dir ins Gesicht. Wenn sie meinen, du seist eine Frau, dann ist das doch die beste Tarnung! Niemand wird uns in dieser Verkleidung als Don Quichotte und Sancho Pansa respektive als Toboser erkennen. So überlistet man den Feind!

Das leuchtete sogar Sancho Pansa ein wenig ein, und er tat, wie ihm geheissen. Das Ehepaar Kummer schwamm indessen und hatte das ganze Schwimmbecken für sich. Der Bademeister sass in seinem Bademeisterkabäuschen, trank Kaffee, ass ein Hörnchen und las in der Morgenzeitung, was in der weiten Welt so alles an Verrücktheiten wieder passiert war. Nur die Frau des Bademeisters, die die Eintrittsbillete verkaufte, wunderte sich, als sie das Ehepaar so bald wieder das Bad verlassen sah; und auch ein wenig über die stark mit grauen Haaren bewachsenen Unterschenkel Herr Kummers, die ihr bisher noch gar nicht aufgefallen waren.

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