Mittwoch, 20. April 2011
Ein Tag wie jeder andere (6)
Oesch setzte sich an den Schreibtisch und folgte dem Auf und Ab der Stimmen im Nebenzimmer. Eigenartigerweise konnte er in der Unterhaltung keinen Inhalt erkennen, obwohl die Stimmen gut vernehmbar war und die Frauen, die den Stimmen nach wie gesagt eher keine jungen Frauen mehr waren, in einem klar identifizierbaren, schon fast übertrieben wirkenden Zürcher Dialekt sprachen, schnell und aufgeregt, mit aufgeblähten Vokalen. Oesch konnte also nur der Melodie und nicht dem Sinn des Gesprochenen folgen, und während er so dasass und lauschte, ergriff ihn eine Art Lähmung, eine Schwere der Glieder, die ihn in den Boden hinein zu ziehen versuchte. Ja, er fühlte sich irgendwie aufgesogen, eingeschlürft; seine Augenlider drohten zuzufallen. Währendem wurden die Stimmen im Nebenzimmer immer aufgeregter, lauter und aggressiver, bis sie sich schliesslich in einem Schrei entluden, auf den ein lautes Rumpeln folgte, ein Geräusch, das mit dem Umfallen von Gegenständen, Möbelstücken zum Beispiel, einherzugehen pflegte. Unvermittelt war es ruhig, man hörte nur entfernt ein Tram quietschen. Oesch war erstarrt, unfähig, sich zu bewegen. Dann öffnete sich die Tür, und eine beleibte ältere Dame mit ausladendem Busen stürmte mit hochrotem Kopf an Oesch vorbei und aus dem Raum heraus, gefolgt von einer noch älteren Dame mit grauem schütterem Haar, die jammerte und die Hände rang. Nun erwachte Oesch aus seiner Erstarrtheit und erhob sich vom Pult, um einen Blick in den Nebenraum zu werfen. Dieser erwies sich als das chaotischste Büro, das Oesch je gesehen hatte, so chaotisch, wie er es sich bisher gar nicht hatte vorstellen können. Eine weitere Dame, auch nicht mehr jung, aber mit hoch aufdupiertem blondem Haar, lag mit dem Gesicht auf der Schreibmaschine, tat keinen Wank und wirkte ziemlich tot. Neben ihr qualmte eine Zigarette im Aschenbecher, auf den vier zusammenschobenen Pulten, die den Raum beherrschten und kaum Raum liessen zu stehen, zu sitzen und zu gehen, lagen vergilbte Papiere, alte Zeitschriften und Zeitungen, vertrocknete und angeschimmelte Nahrungsreste, Stofffetzen, Kleiderbügel, Kugelschreiber, Stempelkissen, riesige Scheren, riesige Aktenlocher, zerfetzte alte Bücher, Bleistifte, mit Schreibmaschine beschriebene Karteikarten, Nastücher, Schminkutensilien, aber auch Gegenstände, die für Oesch nicht identifizierbar war, dazu hing über allem ein Geruch aus Zigarettenrauch, Moder und längstverdautem Essen. Oesch war völlig desorientiert; dann geriet er in Panik. Er verliess das Büro, so rasch er konnte. Auf den Korridoren des verwinkelten Hauses, in denen er sich bald nicht mehr auskannte, begegnete er anderen Mitarbeitenden des Hilfswerk, älteren und jüngeren, weiblichen und männlichen, die ihm alle nicht sehr bekannt vorkamen und die ihn auch gar nicht beachteten. In wachsender Panik ging er treppauf treppab und durch die düsteren Korridore, Ewigkeiten, wie ihm schien, als er sich plötzlich vor einer Tür befand, auf der sich ein Schild mit der Aufschrift „Direktor“ befand.
Montag, 21. Februar 2011
Ein Tag wie jeder andere (5)
Er machte sich auf den Weg zur nächsten Tramstation, den nördliche Teil der Langstrasse entlang, die am Limmatplatz endete, wo er mit dem Vierertram Richtung Bahnhof und dann den Limmatquai hinunter bis zum Bellevue und dann zur Tramhaltstelle Opernhaus fahren musste, wo er das Tram zu verlassen hatte, wenn er rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz erscheinen wollte. Es begegneten ihm eine Menge heruntergekommener, ungesund aussehender Gestalten, die meisten jung, einige mit aufgeschwollenen Gliedern und offenen Abszessen, von denen ihnen der eine und der andere um Geld anging. Das machte Oesch ganz konfus, er konnte sich den Aufmarsch dieser Jammergestalten nicht erklären, bis aus einem hinteren Winkel seines Gehirns der Begriff «offene Drogenszene» auftauchte und sich in seinem Bewusstsein breit machte, ach ja, dachte er, richtig, der «Letten» unten am Fluss bei den Bahngeleisen, nur komisch, dass er sich erst nicht daran erinnert hatte. Überhaupt fühlte sich Oesch ganz grundsätzlich sehr irritiert, überhaupt nicht heimisch in dieser Gegenwart und in diesem Zürich, das mochte auch an der Tageszeit liegen, denn am Morgen fühlte sich Oesch nie ganz heimisch in der Aussenwelt, in die er zuungunsten seiner Innenwelt einzutauchen gezwungen war, aber ganz so fremd fühlte er sich an anderen Morgen denn doch nicht. Alles irritierte ihn: Wie die Menschen gekleidet waren, die Autos auf der Strasse, die Reklameplakate, die Auslagen in den Schaufenstern, so, als wäre das nur Staffage, Bühnenbild, Filmkulisse, gar nicht echt. Es war kalt, traurige schmutzige Schneereste lagen am Strassenrand, folglich war es Winter. Es fiel ihm auf, dass er keine Ahnung hatte, welches Datum man schrieb, ja nicht einmal, welcher Wochentag heute war. Montag oder Freitag? Das machte für einen werktätigen Menschen schliesslich einen erheblichen Unterschied. Die Montagslaune unterscheidet sich mitunter erheblich von der Freitagslaune. Er kaufte sich am Kiosk einen Tages-Anzeiger, dessen Layout ihm ebenfalls spanisch vorkam, bevor er zum eben einfahrenden quietschende und auf Oesch antiquiert wirkende Vierertram hastete. Er öffnete die Zeitung: Es war der 10. Dezember 1991, es war Dienstag, Aung Sang Suu Kyi, die zuvor in Burma die Wahlen gewonnen hatte, erhielt den Friedennobellpreis, den sie aber wegen Hausarrests in Burma in Oslo nicht abholen durfte, zwischen den EFTA-Ländern und der Türkei wurde eine Verständigungsprotokoll unterschrieben, bei einem Verkehrsunfall auf der A4 gab es sieben Tote, die Miss Schweiz signierte im Glattzentrum Autogrammkarten – Theophil Oesch erinnerte sich nicht, je von einer Sandra Aegerter gehört zu haben, aber seis drum, es kam ihm ja eh ziemlich alles ziemlich fremd, um nicht zu sagen surreal vor.
Im Büro war alles uralt. Der fleckige Spannteppich von einem unbestimmten Dunkelgrün, das Mobilar aus den Zwanziger- oder Dreissigerjahren, ein Büchergestell an der Wand mit Glasvitrinen war wohl noch älter, die lederrückigen schweren Bände im Gestell wohl auch, Brehm Tierleben und Meyers Grosses Conversationslexikon, nur auf dem Pult, vor dem ein altmodischer einbeiniger Drehstuhl aus Holz stand, stand ein winzigkleiner Apple-Macintosh-Computer. Vor seinem geistigen Auge hatte Oesch ein ganz anderes Bild, wenn er das Wort «Computer» hörte, dieser Winzling hier auf dem Pult war einfach lächerlich. Etwas weiteres fiel Oesch auf: Es roch im Büro nach Zigerettenrauch. Das man in Büros neuerdings wieder rauchen wurde, war ihm nicht bewusst gewesen. Aus dem Nachbarbüro gedämpft das Schnattern von Frauenstimmen.
Oesch setzte sich auf den Drehstuhl, noch immer in der gefütterten Jacke, und lauschte. Er lauschte, denn er hatte keine Ahnung, was er sonst tun sollte. Er bemerkte überrascht und mit Grauen, dass er keine Ahnung oder vielmehr: keine Ahnung mehr hatte, worin sein Job bestand und was er konkret zu tun hatte. Ganz allgemein wusste er das schon noch, er arbeitete im Verlag des Hilfswerks und war Redaktor eines Jugendjahrbuchs und einer Fachzeitschrift, aber er hatte entweder vergessen oder verdrängt, in welchem Arbeitsprozess er sich gerade befand. Er hätte auch gar nicht gewusst, wie er mit diesem lächerlichen Minicompüterchen auf dem Pult und der elektronischen Schreibmaschine hätte arbeiten sollen. Diese Arbeitsinstrumente erschienen ihm merkwürdig unadäquat, wie Spielzeug für Kinder. Also sass er da und lauschte dem Geschnatter aus dem Nachbarbüro. Er konnte drei Stimmen unterscheiden – weibliche Stimmen, wie gesagt, nicht mehr junge Stimmen, wenn er sich nicht irrte, Stimmen in lebhafter Unterhaltung.
Im Büro war alles uralt. Der fleckige Spannteppich von einem unbestimmten Dunkelgrün, das Mobilar aus den Zwanziger- oder Dreissigerjahren, ein Büchergestell an der Wand mit Glasvitrinen war wohl noch älter, die lederrückigen schweren Bände im Gestell wohl auch, Brehm Tierleben und Meyers Grosses Conversationslexikon, nur auf dem Pult, vor dem ein altmodischer einbeiniger Drehstuhl aus Holz stand, stand ein winzigkleiner Apple-Macintosh-Computer. Vor seinem geistigen Auge hatte Oesch ein ganz anderes Bild, wenn er das Wort «Computer» hörte, dieser Winzling hier auf dem Pult war einfach lächerlich. Etwas weiteres fiel Oesch auf: Es roch im Büro nach Zigerettenrauch. Das man in Büros neuerdings wieder rauchen wurde, war ihm nicht bewusst gewesen. Aus dem Nachbarbüro gedämpft das Schnattern von Frauenstimmen.
Oesch setzte sich auf den Drehstuhl, noch immer in der gefütterten Jacke, und lauschte. Er lauschte, denn er hatte keine Ahnung, was er sonst tun sollte. Er bemerkte überrascht und mit Grauen, dass er keine Ahnung oder vielmehr: keine Ahnung mehr hatte, worin sein Job bestand und was er konkret zu tun hatte. Ganz allgemein wusste er das schon noch, er arbeitete im Verlag des Hilfswerks und war Redaktor eines Jugendjahrbuchs und einer Fachzeitschrift, aber er hatte entweder vergessen oder verdrängt, in welchem Arbeitsprozess er sich gerade befand. Er hätte auch gar nicht gewusst, wie er mit diesem lächerlichen Minicompüterchen auf dem Pult und der elektronischen Schreibmaschine hätte arbeiten sollen. Diese Arbeitsinstrumente erschienen ihm merkwürdig unadäquat, wie Spielzeug für Kinder. Also sass er da und lauschte dem Geschnatter aus dem Nachbarbüro. Er konnte drei Stimmen unterscheiden – weibliche Stimmen, wie gesagt, nicht mehr junge Stimmen, wenn er sich nicht irrte, Stimmen in lebhafter Unterhaltung.
Mittwoch, 26. Januar 2011
Ein Tag wie jeder andere (4)
In diesem Moment erwachte Oesch; es dauerte lange, bis er sich daran erinnerte – oder zu erinnern glaubte – wo und in welcher Zeit er sich befand. Er befand sich in einem Bett, soviel war schon mal klar; und das Zimmer, in welchem das Bett stand, kam ihm auch nicht gerade unbekannt vor. Geweckt worden war er vom Piepsen eines Weckers. Er befreite sich von der Bettdecke und wankte ins Badezimmer: modern, Stil frühe Neunzigerjahre.
So etwas wie ein leises Erschrecken suchte ihn heim, als er in den Spiegel blickte. Das Gesicht kam ihm, genauso wie das Zimmer, nicht unbekannt vor – das war zweifellos er, dieses Gesicht trug zweifellos den Stempel seiner Identität, nur war es ein zu junges Gesicht. Er schätzte es auf 35, höchstens 38 Jahre. Das Gesicht war zwanzig Jahre zu jung für seinen Geschmack – oder vielmehr für sein Selbstverständnis. Beim Erwachen hatte er sich als 55-Jährigen in Erinnerung, aber das mochte der Nachhall eines Traums gewesen sein, der schon erheblich verblasst war. Ist doch schön, dachte er flüchtig, wenn man plötzlich zwanzig Jahre jünger ist, wer wünscht sich das nicht. Manch einer erwacht aus einem Alptraum, in dem er sich als Greis träumte, und nimmt erleichtert war, dass er wieder der Jüngling ist, als den er sich wähnte. Aber bei ihm war es eben nicht so. Bei ihm fühlte es sich eher so an, als würde der Alptraum hier und jetzt beginnen. Er erinnerte sich daran, dass er im Traum etwas gesucht hatte, etwas oder jemanden, und dass er auch etwas gefunden hatte, etwas oder jemanden, aber keinesfalls das oder den, das oder den er gesucht hatte. Er schüttelte den Kopf. Er begann sich bereits an sein vermeintlich neues, aber vermutlich altes, das heisst jüngeres, Ego zu gewöhnen. Er war ein Mann, der sich auf das mittlere Alter zu bewegte, nicht mehr ein Jüngling, bewahre, der Bonus der Jugend war längst schon verspielt, aber doch noch weit entfernt von der statistischen Mitte des Lebens. Obwohl er sich nicht wirklich fit fühlte heute morgen. Wahrscheinlich hatte er gestern Abend etwas zu intensiv ins Rotweinglas geschaut, das kam ja nicht eben selten vor. Klar, er wohnte im Zürcher Kreis 5, allein in einer recht geräumigen Zwei- oder Zweieinhalbzimmerwohnung, ein bisschen junggesellenhaft eingerichtet und ungeputzt, aber ganz bequem. Klar, er war beim Hilfswerk angestellt, seit Kurzem erst, als Redaktor einer Fachzeitschrift und eines Jahrbuchs für Jugendliche und als Assistent der Verlagsleitung. Ein idealer Job für Oesch, in dem er bei einem anständigen Gehalt nicht eben überfordert wurde und seine Freiheiten hatte. In eine Bank hätte Oesch nicht gepasst, genauso wenig wie in eine Werbeagentur. In einer Werbeagentur hatte er kurz gearbeitet, aber da gingen ihm die ewigen Bezeugungen der Mitarbeitenden, wie toll sie alle waren, und dass man wenigstens so tun musste, als wäre man permanent im Stress – der Tag hat 24 Stunden, die Woche sieben Tage – schon bald gehörig auf den Kecks. Nein, das gemächliche traditionsreiche Hilfswerk, das zudem über ein komfortables finanzielles Polster verfügte, passte da schon besser zu ihm. Oesch war nicht faul, aber er war wahrscheinlich weiter davon entfernt, ein Workaholic zu sein, als von der Faulheit. Und Oesch war auch nicht sehr ehrgeizig – er war wiederum weiter vom Ehrgeiz entfernt als von der Bequemlichkeit, genauso, wie seine Natur im Raum zwischen Askese und Genusssucht weit näher bei der Genusssucht als bei der Askese angesiedelt war. Das alles kam Oesch in den Sinn, als er sich rasierte. Ob er wohl regelmässig von solchen Phasen der Selbsterkenntnis heimgesucht wurde. Dabei fiel ihm auf, à propos Genusssucht, dass sein Bauch weit weniger dick war, als er ihn in Erinnerung hatte – er war eigentlich kaum ein Bäuchlein und hatte nicht viel gemeinsam mit dem Bild der Wampe, das ihm im Kopf herumspukte. Wenn ich mich tatsächlich als 55-Jährigen geträumt habe, dann muss ich vielleicht in Zukunft etwas auf mein Gewicht achten, dachte er, ohne dass es ihm wirklich ernst damit war. Auch das Pissen fiel ihm übrigens überraschend leicht. Wieder schüttelte Oesch den Kopf.
Er machte sich auf den Weg zur nächsten Tramstation, den nördliche Teil der Langstrasse entlang, die am Limmatplatz endete, wo er mit dem Vierertram Richtung Bahnhof und dann den Limmatquai hinunter bis zum Bellevue und dann zur Tramhaltstelle Opernhaus fahren musste, wo er das Tram zu verlassen hatte, wenn er rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz erscheinen wollte.
So etwas wie ein leises Erschrecken suchte ihn heim, als er in den Spiegel blickte. Das Gesicht kam ihm, genauso wie das Zimmer, nicht unbekannt vor – das war zweifellos er, dieses Gesicht trug zweifellos den Stempel seiner Identität, nur war es ein zu junges Gesicht. Er schätzte es auf 35, höchstens 38 Jahre. Das Gesicht war zwanzig Jahre zu jung für seinen Geschmack – oder vielmehr für sein Selbstverständnis. Beim Erwachen hatte er sich als 55-Jährigen in Erinnerung, aber das mochte der Nachhall eines Traums gewesen sein, der schon erheblich verblasst war. Ist doch schön, dachte er flüchtig, wenn man plötzlich zwanzig Jahre jünger ist, wer wünscht sich das nicht. Manch einer erwacht aus einem Alptraum, in dem er sich als Greis träumte, und nimmt erleichtert war, dass er wieder der Jüngling ist, als den er sich wähnte. Aber bei ihm war es eben nicht so. Bei ihm fühlte es sich eher so an, als würde der Alptraum hier und jetzt beginnen. Er erinnerte sich daran, dass er im Traum etwas gesucht hatte, etwas oder jemanden, und dass er auch etwas gefunden hatte, etwas oder jemanden, aber keinesfalls das oder den, das oder den er gesucht hatte. Er schüttelte den Kopf. Er begann sich bereits an sein vermeintlich neues, aber vermutlich altes, das heisst jüngeres, Ego zu gewöhnen. Er war ein Mann, der sich auf das mittlere Alter zu bewegte, nicht mehr ein Jüngling, bewahre, der Bonus der Jugend war längst schon verspielt, aber doch noch weit entfernt von der statistischen Mitte des Lebens. Obwohl er sich nicht wirklich fit fühlte heute morgen. Wahrscheinlich hatte er gestern Abend etwas zu intensiv ins Rotweinglas geschaut, das kam ja nicht eben selten vor. Klar, er wohnte im Zürcher Kreis 5, allein in einer recht geräumigen Zwei- oder Zweieinhalbzimmerwohnung, ein bisschen junggesellenhaft eingerichtet und ungeputzt, aber ganz bequem. Klar, er war beim Hilfswerk angestellt, seit Kurzem erst, als Redaktor einer Fachzeitschrift und eines Jahrbuchs für Jugendliche und als Assistent der Verlagsleitung. Ein idealer Job für Oesch, in dem er bei einem anständigen Gehalt nicht eben überfordert wurde und seine Freiheiten hatte. In eine Bank hätte Oesch nicht gepasst, genauso wenig wie in eine Werbeagentur. In einer Werbeagentur hatte er kurz gearbeitet, aber da gingen ihm die ewigen Bezeugungen der Mitarbeitenden, wie toll sie alle waren, und dass man wenigstens so tun musste, als wäre man permanent im Stress – der Tag hat 24 Stunden, die Woche sieben Tage – schon bald gehörig auf den Kecks. Nein, das gemächliche traditionsreiche Hilfswerk, das zudem über ein komfortables finanzielles Polster verfügte, passte da schon besser zu ihm. Oesch war nicht faul, aber er war wahrscheinlich weiter davon entfernt, ein Workaholic zu sein, als von der Faulheit. Und Oesch war auch nicht sehr ehrgeizig – er war wiederum weiter vom Ehrgeiz entfernt als von der Bequemlichkeit, genauso, wie seine Natur im Raum zwischen Askese und Genusssucht weit näher bei der Genusssucht als bei der Askese angesiedelt war. Das alles kam Oesch in den Sinn, als er sich rasierte. Ob er wohl regelmässig von solchen Phasen der Selbsterkenntnis heimgesucht wurde. Dabei fiel ihm auf, à propos Genusssucht, dass sein Bauch weit weniger dick war, als er ihn in Erinnerung hatte – er war eigentlich kaum ein Bäuchlein und hatte nicht viel gemeinsam mit dem Bild der Wampe, das ihm im Kopf herumspukte. Wenn ich mich tatsächlich als 55-Jährigen geträumt habe, dann muss ich vielleicht in Zukunft etwas auf mein Gewicht achten, dachte er, ohne dass es ihm wirklich ernst damit war. Auch das Pissen fiel ihm übrigens überraschend leicht. Wieder schüttelte Oesch den Kopf.
Er machte sich auf den Weg zur nächsten Tramstation, den nördliche Teil der Langstrasse entlang, die am Limmatplatz endete, wo er mit dem Vierertram Richtung Bahnhof und dann den Limmatquai hinunter bis zum Bellevue und dann zur Tramhaltstelle Opernhaus fahren musste, wo er das Tram zu verlassen hatte, wenn er rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz erscheinen wollte.
Sonntag, 9. Januar 2011
Ein Tag wie jeder andere (3)
Als Oesch aus seiner Erstarrung erwachte, war da immer noch dieser Fluchtimpuls, den er in sich spürte und den er nun unverzüglich in die Tat umsetzte. Ohne sich darum zu kümmern, dass er noch im blossen Hemd und in Hausschuhen war, verliess er seine Wohnung und lenkte die Schritte mit grosser Entschlossenheit in Richtung Stadt. Dabei fiel ihm auf, dass es draussen mittlerweile merklich wärmer geworden war. Obwohl ohne Schal und Jacke, war ihm nicht nur nicht kalt, sondern sogar richtig warm. Das musste ein ungewöhnlich starker Zustrom subtropischer Luft aus südlichen Gegenden sein, den da ein ziemlich stürmischer Föhn mit sich brachte. Plötzliches Tauwetter war im Dezember ja keine Seltenheit, aber ein Tauwetter, das mit diesem Tempo und mit derart hohen Temperaturen einsetzte – es war inzwischen mindestens 15 Grad – hatte Oesch noch nie erlebt. Auch schien dieser Wind mit einem Duft geschwängert zu sein, den Oesch einfach nicht identifizieren, geschweige denn dingfest machen konnte. Obwohl der Duft äusserst intensiv war, war sich Oesch nicht ganz sicher, ob er ihn sich nicht nur einbildete. Er war irgendwie süsslich – Schokolade, Erdbeere, Jasmin, Flieder, weiss der Teufel, dann wieder salzig wie ein Duft vom Meer, plötzlich auch auf eine unsagbare Art geschlechtlich, sexuell, erregend...
Inzwischen war Oesch beim Zehntenhausplatz angelangt, einer Art Zentrum des Ortsteils am Stadtrand, den er bewohnte, und bog – weg von der üblicherweise in anderen Zeitaltern oder auf anderen Realitätsebenen stark befahrenen Wehntalerstrasse – nach rechts ab, in Richtung Hönggerberg, weg von der Zivilisation, die jetzt eine Zivilisationswüste oder eine verwaiste Zivilisation war, Richtung Wald. Von dort, schien ihm, musste die Geruchsimmission kommen, dort musste die Quelle der Düfte sein. Warum Oesch das vermutete, wusste er selbst nicht; er war aber felsenfest davon überzeugt. Gleichzeitig schienen ihm die Gerüche wie Farben zu sein, ja, die Gerüche tauchten die Umgebung je nach Beschaffenheit in ein spezifisches Licht. Oesch musste lachen, denn das war eigenartig, aber auch faszinierend: Synästhesie nannte man das, ja genau, Oesch erinnerte sich daran, weil er dieses Phänomen einmal für ein Buch über Drogenkonsum recherchiert hatte. Und während er zwischen verlassenen Einfamilienhäusern dem Wald entgegenstrebte, mit einer insgesamt nur als «staunend» zu bezeichnenden inneren Haltung, glaubte er manchmal, im heftigen Wind Musikfetzen zu hören, Musikfetzen, die aus einem alten Led Zeppelin-Stück herausgerissen waren, einem Lieblingssong von Oesch, «When the Leeve Breaks», Oesch versuchte sich zu erinnern: «If it keeps on raining levee’s going to braek/When the Levee breaks have no place to stay». Oesch versuchte sich zu erinnern, was «Levee» hiess: Damm, Deich, Schutzwall... sofort zogen Bilder von Holland durch sein Hirn, Bilder von überschwemmten Ebenen, von braunen, weissen und schwarzen Kühen, die aufgedunsen mit dem Bauch nach oben auf den Fluten trieben, und wieder dieser Geruch, dieser Geruch, der im Wind lag und einerseits nach Lust, anderseits nach Tod roch...
Inzwischen war es noch wärmer geworden. Oesch schwitzte, er war eindeutig zu warm angezogen. I am overdressed, sagte Oesch laut und lachte. Er lachte erst verhalten, dann überkam es ihn, und schliesslich wälzte er sich am Boden vor Lachen, das heisst, nein, er stellte sich nur vor, sich lachend auf dem Boden zu wälzen, When the Leeve Breaks when the Leeve Breaks... Wenn alle Dämme brechen, gibt’s keinen Ort mehr, wo man hingehen kann, nein nein, die grosse Flut setzt das ganze Land unter Wasser, die Gefühle überschwemmen ganz unsern Verstand und wir werden verrückt. Vielleicht war Oesch daran, verrückt zu werden, während ein Wind durch die Landschaft fuhr und an den Bäumen rüttelte, der nach Sperma und Scheisse roch und nach Achselschweiss und Pheromonen, ein inzwischen schon heisser Wind, der direkt aus dem Zentrum einer Wüste zu blasen schien, Oesch riss sich das Hemd vom Leib, wenn er verrückt wurde, wen juckte es? Don’t it make you feel bad/When you’re tryin’ to find your way home/You don’t know which way to go? sang Robert Plant, während der mit Düften geschwängerte heisse Wind die laublosen Bäume um ihn herum in die ein wildes Farbenspiel tauchte...
Es war ein Wunder: Von weitem sah Oesch an einem der Holztische vor der Waldhütte einen Mann sitzen. Oeschs Herz schlug schneller, und er rannte jetzt fast. Der Mann sass am Tisch, vor sich eine Flasche Wodka und ein Glas, und schaute in die Oesch entgegengesetzte Richtung. Er war ein Mann in den Fünfzigern, mittelgross, korpulent, ergraut wie Oesch selbst, aber mit grosser Glatze, einem vom Trinken gedunsenen, gelben, fast grünlichen Gesicht und geschwollenen Lidern, unter denen jetzt wie aus Spalten winzige, aber lebendige, gerötete Äuglein blitzten. Während er seinen Blick auf Oesch richtete, funkelte in seinem Blick etwas wie Begeisterung, als wäre er ebenso froh wie Oesch, auf ein anderes menschliches Wesen zu stossen – aber gleichzeitig glomm darin etwas wie Irrsinn. Sein Anzug bestand aus einem alten, zerlumpten schwarzen Frack, ohne Knöpfe. Ein einziger sass noch halbwegs fest, und diesen hatte er auch geschlossen, da er offenbar den Regeln des Anstands Genüge tun wollte. Unter der Nankingweste kam eine Hemdbrust zum Vorschein, völlig verknittert, verschmutzt und verschmiert. Auf seinem Gesicht sprossen dichte, schwarzbläuliche Stoppeln. Sein Gehabe war irgendwie würdevoll und beamtenhaft. Er hob das Glas Oesch zum Gruss und fragte ihn offenbar etwas, was Oesch jedoch nicht verstand. Welche Sprache war das? Oesch tippte auf ein östliches Idiom; wahrschenlich russisch. Auch war der Wodka keine Marke, die man in der Schweiz kaufen konnte. «Ich kann Sie leider nicht verstehen», stammelte Oesch verstört, «woher stammen Sie? Welche Sprache sprechen Sie? English? Français?» Der Russe sprach aufgeregt weiter und begann, jetzt schon wesentlich weniger würdevoll und beamtenhaft, zu gestikulieren. Offenbar war er stark betrunken. Er zeigte immer wieder auf sich, auf Oesch und auf den sie umgebenden Wald, auf den er sich offenbar keinen Reim machen konnte. Auch wurde sein Ton immer anklagender, ja geradezu aggressiv, so, als sei der Russe Oeschs wegen in irgendeine missliche Lage geraten und der solle jetzt gefälligst was tun. Immer wieder tippte er sich selbst auf die Brust und rief: «Marmeladow, Semjon Sacharytsch Marmeladow!» Schliesslich machte sich der Russe an Oesch heran, bis sie Brust an Brust standen, und hauchte ihm seinen Alkoholatem ins Gesicht, während er ihn anschrie.
Oesch geriet in Panik. Er riss sich los von dem Verrückten, ergriff einen am Boden liegenden Ast und schlug auf den verrückten Russen ein, bis dieser zu Boden stürzte. Dann rannte er voller Entsetzen davon.
Inzwischen war Oesch beim Zehntenhausplatz angelangt, einer Art Zentrum des Ortsteils am Stadtrand, den er bewohnte, und bog – weg von der üblicherweise in anderen Zeitaltern oder auf anderen Realitätsebenen stark befahrenen Wehntalerstrasse – nach rechts ab, in Richtung Hönggerberg, weg von der Zivilisation, die jetzt eine Zivilisationswüste oder eine verwaiste Zivilisation war, Richtung Wald. Von dort, schien ihm, musste die Geruchsimmission kommen, dort musste die Quelle der Düfte sein. Warum Oesch das vermutete, wusste er selbst nicht; er war aber felsenfest davon überzeugt. Gleichzeitig schienen ihm die Gerüche wie Farben zu sein, ja, die Gerüche tauchten die Umgebung je nach Beschaffenheit in ein spezifisches Licht. Oesch musste lachen, denn das war eigenartig, aber auch faszinierend: Synästhesie nannte man das, ja genau, Oesch erinnerte sich daran, weil er dieses Phänomen einmal für ein Buch über Drogenkonsum recherchiert hatte. Und während er zwischen verlassenen Einfamilienhäusern dem Wald entgegenstrebte, mit einer insgesamt nur als «staunend» zu bezeichnenden inneren Haltung, glaubte er manchmal, im heftigen Wind Musikfetzen zu hören, Musikfetzen, die aus einem alten Led Zeppelin-Stück herausgerissen waren, einem Lieblingssong von Oesch, «When the Leeve Breaks», Oesch versuchte sich zu erinnern: «If it keeps on raining levee’s going to braek/When the Levee breaks have no place to stay». Oesch versuchte sich zu erinnern, was «Levee» hiess: Damm, Deich, Schutzwall... sofort zogen Bilder von Holland durch sein Hirn, Bilder von überschwemmten Ebenen, von braunen, weissen und schwarzen Kühen, die aufgedunsen mit dem Bauch nach oben auf den Fluten trieben, und wieder dieser Geruch, dieser Geruch, der im Wind lag und einerseits nach Lust, anderseits nach Tod roch...
Inzwischen war es noch wärmer geworden. Oesch schwitzte, er war eindeutig zu warm angezogen. I am overdressed, sagte Oesch laut und lachte. Er lachte erst verhalten, dann überkam es ihn, und schliesslich wälzte er sich am Boden vor Lachen, das heisst, nein, er stellte sich nur vor, sich lachend auf dem Boden zu wälzen, When the Leeve Breaks when the Leeve Breaks... Wenn alle Dämme brechen, gibt’s keinen Ort mehr, wo man hingehen kann, nein nein, die grosse Flut setzt das ganze Land unter Wasser, die Gefühle überschwemmen ganz unsern Verstand und wir werden verrückt. Vielleicht war Oesch daran, verrückt zu werden, während ein Wind durch die Landschaft fuhr und an den Bäumen rüttelte, der nach Sperma und Scheisse roch und nach Achselschweiss und Pheromonen, ein inzwischen schon heisser Wind, der direkt aus dem Zentrum einer Wüste zu blasen schien, Oesch riss sich das Hemd vom Leib, wenn er verrückt wurde, wen juckte es? Don’t it make you feel bad/When you’re tryin’ to find your way home/You don’t know which way to go? sang Robert Plant, während der mit Düften geschwängerte heisse Wind die laublosen Bäume um ihn herum in die ein wildes Farbenspiel tauchte...
Es war ein Wunder: Von weitem sah Oesch an einem der Holztische vor der Waldhütte einen Mann sitzen. Oeschs Herz schlug schneller, und er rannte jetzt fast. Der Mann sass am Tisch, vor sich eine Flasche Wodka und ein Glas, und schaute in die Oesch entgegengesetzte Richtung. Er war ein Mann in den Fünfzigern, mittelgross, korpulent, ergraut wie Oesch selbst, aber mit grosser Glatze, einem vom Trinken gedunsenen, gelben, fast grünlichen Gesicht und geschwollenen Lidern, unter denen jetzt wie aus Spalten winzige, aber lebendige, gerötete Äuglein blitzten. Während er seinen Blick auf Oesch richtete, funkelte in seinem Blick etwas wie Begeisterung, als wäre er ebenso froh wie Oesch, auf ein anderes menschliches Wesen zu stossen – aber gleichzeitig glomm darin etwas wie Irrsinn. Sein Anzug bestand aus einem alten, zerlumpten schwarzen Frack, ohne Knöpfe. Ein einziger sass noch halbwegs fest, und diesen hatte er auch geschlossen, da er offenbar den Regeln des Anstands Genüge tun wollte. Unter der Nankingweste kam eine Hemdbrust zum Vorschein, völlig verknittert, verschmutzt und verschmiert. Auf seinem Gesicht sprossen dichte, schwarzbläuliche Stoppeln. Sein Gehabe war irgendwie würdevoll und beamtenhaft. Er hob das Glas Oesch zum Gruss und fragte ihn offenbar etwas, was Oesch jedoch nicht verstand. Welche Sprache war das? Oesch tippte auf ein östliches Idiom; wahrschenlich russisch. Auch war der Wodka keine Marke, die man in der Schweiz kaufen konnte. «Ich kann Sie leider nicht verstehen», stammelte Oesch verstört, «woher stammen Sie? Welche Sprache sprechen Sie? English? Français?» Der Russe sprach aufgeregt weiter und begann, jetzt schon wesentlich weniger würdevoll und beamtenhaft, zu gestikulieren. Offenbar war er stark betrunken. Er zeigte immer wieder auf sich, auf Oesch und auf den sie umgebenden Wald, auf den er sich offenbar keinen Reim machen konnte. Auch wurde sein Ton immer anklagender, ja geradezu aggressiv, so, als sei der Russe Oeschs wegen in irgendeine missliche Lage geraten und der solle jetzt gefälligst was tun. Immer wieder tippte er sich selbst auf die Brust und rief: «Marmeladow, Semjon Sacharytsch Marmeladow!» Schliesslich machte sich der Russe an Oesch heran, bis sie Brust an Brust standen, und hauchte ihm seinen Alkoholatem ins Gesicht, während er ihn anschrie.
Oesch geriet in Panik. Er riss sich los von dem Verrückten, ergriff einen am Boden liegenden Ast und schlug auf den verrückten Russen ein, bis dieser zu Boden stürzte. Dann rannte er voller Entsetzen davon.
Sonntag, 2. Januar 2011
Ein Tag wie jeder andere (2)
Es dauerte eine Weile, bis Oesch sich begann, an seinen neuen Zustand zu gewöhnen oder ihn zumindest als Realität zu akzeptieren. Am Abend eines Tages, den Oesch weitgehend untätig verbracht hatte – er hatte ein wenig an seinem Computer herumgespielt, Golf Solitaire und Two of a Kind, ein wenig am Fernseher herumgezappt, hatte eine indonesische Nudelsuppe gekocht und gegessen, war von einem Zimmer ins andere gegangen, hatte sich dabei ertappt, wie er laut mit sich selber sprach – entdeckte Oesch, dass er der neuen Situation momentan beinahe etwas abgewinnen konnte. Das war aber allerdings erst, nachdem er eine Flasche Weisswein und eine halbe Falsche Roten intus hatte. Er hing vor dem Fernseher auf der Couch und sah sich die erste Folge der „Herr der Ringe“-Trilogie ab DVD an. Das plötzliche Gefühl des Wohlbehagens ging von dem (wahrscheinlich trügerischen) Bewusstsein aus, dass es absolut nichts und vor allem niemanden gab, der oder das ihn nun stören konnte – der Kern dieses Wohlbehagens war das (ganz bestimmt trügerische) Gefühl einer absoluten Freiheit. Er konnte tun und lassen, was er wollte – wer sollte ihn dafür kritisieren, wer ihn daran hindern? Höchstens seine eigene Erziehung oder Prägung oder Konditionierung oder wie man das nennen wollte. Er war frei! Niemand beobachtete ihn (ausser er sich selbst).
Nachdem er auch die Flasche Rotwein geleert hatte und eine zweite zur Hälfte geleert war, verflüchtigte sich sein Wohlbehagen allerdings rapide. Er konnte dem Film nicht mehr folgen; kalte Schauer jagten über seinen Rücken, sein Unterleib zog sich zusammen. Vielleicht wurde er krank? Ja, und dann? Es gab jetzt nicht nur keinen Aluk mehr, der ihm notfalls Tee kochte, ihm den Rücken mit Tigerbalsam einrieb und ihn tröstete, es gab auch keine Ärzte und Krankenschwestern mehr und keine 24-Stunden-Permanence-Praxis im Hauptbahnhof und keine Notfallstationen in den Spitälern, das heisst, die Notfallstationen gab es schon noch, einfach ohne Ärzte und Krankenschwestern und Patienten (nahm et jedenfalls an, gecheckt hatte er es ja noch nicht), notfalls musste er in eine Apotheke oder eine Praxis einbrechen, aber was hiess in diesem Fall schon einbrechen, juristische Tatbestände waren in der Welt, wie sie jetzt war, ganz irrelevant und nichtexistent geworden (denn es gab ja auch keine Polizisten und keine Richter mehr, wenngleich auch noch Polizeistationen und Gerichte), er, Oesch, musste also in Apotheken oder Arztpraxen einbrechen und sich Medikamente besorgen. Allerdings war sein medizinisches und pharmazeutisches Wissen beschränkt, sehr beschränkt. Dabei fiel ihm ein, dass er sich dann gleich mit ein paar Sachen aus dem Giftschrank versorgen konnte, die ihm dieses elende Leben hier ein wenig erleichtern konnten, zum Beispiel Valium oder Morphium, und überhaupt musste er daran denken, seinen Alltag zu organisieren. Er musste sich mit Lebensmitteln versorgen. Also zuerst einmal in einen Supermarkt einbrechen (aber was hiess da einbrechen?), das konnte er gleich morgen früh tun. Er könnte sich auch Geld beschaffen, aus der Ladenkasse oder vielleicht auch in einer Bank, was davon abhing, wie stark das Geld gesichert war. Geld hatte in den letzten Jahren seine materielle Seite sowieso zusehends verloren und zwar zum reinen Zahlenspiel verkommen. Sich Geld zu beschaffen machte momentan überhaupt keinen Sinn, aber da er natürlich durchaus damit rechnete, dass der momentane Zustand irgendwann ein Ende haben würde, war die Frage der Geldbeschaffung, sozusagen im Hinblick auf eine allerdings höchst ungewisse Zukunft, durchaus einen Gedanken wert. Der kluge Mann sorgt vor, sagte Oesch laut und lachte unfroh. Es wäre auch durchaus nicht ohne Reiz, in fremde Wohnungen einzusteigen und sich da ein wenig umzusehen. Er konnte morgen gleich bei seinen Nachbarn beginnen, die er noch nie besucht hatte; er hatte sich schon lange gefragt, wie die wohl eingerichtet waren.
In den Laden, eine Filiale der österreichischen Spar-Kette gleich via-à-vis von seinem Haus, brauchte er gar nicht einzubrechen. Der Laden war zwar ebenfalls menschenleer, aber beleuchtet und offen. Auch die Kühlregale funktionierten tadellos, wie Oesch feststellen konnte. Die Energieversorgung war also trotz allem, was passiert sein mochte, nicht oder noch nicht zusammengebrochen. Sogar das Brot war, wie Oesch sich überzeugen konnte, noch einigermassen frisch oder sozusagen frisch. Ziemlich wahllos stopfte Oesch Lebensmittel in die mitgebrachten Taschen. Zu bezahlen brauchte er ja nicht. Er konnte gar nicht bezahlen. Trotzdem fühlte er sich unwohl bei seinem Tun. Streng genommen war die Aktion, die er hier vollzog, Ladendiebstahl, aber der Begriff verliert, wie überhaupt jede Moral, sozusagen jeden Sinn, wenn man schätzungsweise der einzige noch vorhandene Mensch auf dieser ganzen gottverdammten seelenlosen Erde ist. Das wusste Oesch natürlich nicht, musste aber immer mehr davon ausgehen, da sich bisher auch medienmässig kein menschliches Wesen aus der Zeit nach dem 10. Dezember zu Wort gemeldet hatte oder sonstwie bemerkbar machte.
Nachdem Oesch zu Hause die Lebensmittel im Kühlschrank und im Küchenkasten deponiert hatte, läutete er vorsichtshalber an der Tür seiner Nachbarn, aber es reagierte natürlich niemand und die Tür war verschlossen. Sämtliche Türen, die er im Haus ausprobierte, waren verschlossen, bis auf die Tür, die zu einer der Penthousewohnungen führte. Nachdem er, höflich, wie er nun mal war, aber leider völlig vergeblich geläutet hatte, konnte er das Appartement problemlos betreten. Die Wohnung sah aus, als sei sie eben erst verlassen worden, überall fanden sich Spuren des Alltagslebens, das sich in diesen Wänden abgespielt hatte: abgelegte Kleider, verwelkende Blumen auf dem Tisch, herumliegende Illustrierte, eine angebrochene Cornflakes-Packung auf dem Tisch, eine Tasse erkalteten Tees... Oesch betrat das fremde Schlafzimmer und entdeckte in sich einen Impuls, der ihm sogleich peinlich war: Er hatte das Bedürfnis, in Schubladen zu stöbern und Schränke zu durchwühlen. Doch da liess ihn ein Geräusch aufhorchen: ein Knacken und Schaben, vielleicht auch ein kurzes Schnauben oder Stöhnen... Oesch verharrte reglos, zutiefst erschrocken, schwankend zwischen Hoffnung und Furcht – so blieb er für vielleicht fünf Minuten stehen, war ganz Ohr, atmete nur flach, um ja kein Geräusch zu verpassen – aber nichts rührte sich mehr, und Oesch wollte seine Examination schon fortsetzen, kopfschüttelnd; da war er wohl einer Sinnestäuschung erlegen, einer akustischen Halluzination. Noch während er das dachte, hörte er weit entfernt, weit unten im Haus eine Tür zuschlagen.
Ohne dass er hätte begründen können, warum, war Oesch in höchstem Mass alarmiert. Er eilte über das Treppenhaus in seine im vierte Stock gelegene Wohnung hinunter – den Lift zu nehmen getraute er, der unter Klaustrophobie litt, sich nun, da sich alles so verändert hatte, erst recht nicht mehr, das fehlte noch, dass er im Lift stecken blieb, und kein Alarmknopf der Welt konnte ihn aus dieser Zwangslage befreien – er eilte also zu Fuss zu seiner Wohnung hinunter, seine Wohnungstür, die er offen gelassen hatte – warum auch nicht? – war zu, daher also das Geräusch; wahrscheinlich ein Windstoss, aber woher? Es gab im Inneren dieses gut isolierten Hauses keine geheimen Winde! Und als Oesch seine Wohnung betreten wollte, musste er feststellen, dass die Tür abgeschlossen war.
Zunächst war Oesch einfach nur perplex. Total verblüfft. Der erste Gedanke, der ihm spontan durch Hirn fuhr, galt Aluk: Aluk ist nach Hause gekommen, irgendwie hat sich der Spuk verflüchtigt und alles ist wieder normal. Oeschs Herz pochte und hämmerte. Er läutete an seiner Tür. Nichts rührte sich. Oeschs Hände fuhren in seine Hosentaschen, aber da war nichts, nur ein Papiertaschentuch und ein Feuerzeug und ein nutzloses Handy, aber kein Schlüssel, natürlich nicht, denn der Schlüssel befand sich ja in der Wohnung, aus der er nun ausgeschlossen war. Das konnte doch nicht sein! Oesch hämmerte mit seinen Fäusten an die Tür, rief «Aluk, Aluk!», so lange, bis er, völlig ausser Atem, die offensichtliche Sinnlosigkeit seines Tun erkannte. Er wählte – zum xten Mal seit der rätselhaften Verwandlung der Welt und der Versteinerung der Zeit – auf seinem Handy die Nummer von Aluks Handy und zum xten Mal meldete sich lediglich die Mailbox.
Ganz plötzlich wurde Oesch von einem tiefen Gefühl der Einsamkeit und des Verlusts ergriffen. Die Flut im Meer der Trauer, das auch sonst an die Gestade seiner Seele brandete, stieg ins Uferlose. Diese Trauer galt weniger ihm selbst als Aluk, nicht seiner eigenen Einsamkeit, sondern dem Umstand, dass er Aluk irgendwo allein zurückgelassen hatte. Er empfand ein brennendes Schuldgefühl, so, als habe er Aluk bewusst und willentlich im Stich gelassen. Die Art seiner Gefühle für Aluk war so, dass er Aluk nicht leiden sehen konnte. So, als sei er ihm buchstäblich ans Herz gewachsen, empfand er Schmerz und Verzweiflung seines Gefährten um ein vielfaches verstärkt bei sich selbst. Er wusste, dass das sentimental war, aber er empfand es so, als habe Gott – an den er im Übrigen nicht einmal glaubte – ihm das Schicksal von Aluk persönlich anvertraut. Er verstand das als die Bewährungsprobe seines Lebens – konnte er seinen Bruder tragen? Insofern war die Beziehung zu Aluk für Oesch weit mehr als eine normale Beziehungskiste. Aluk war für Oesch – natürlich in einem übertragenen Sinn – zu einem Teil seiner selbst geworden. Und zwar zum wichtigsten Teil seiner selbst.
Oesch sass auf einer Stufe im Treppenhaus vor seiner abgeschlossenen Wohung, während ein solcher Gefühlsstrum durch seine Brust jagte, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er sass da, bis er es nicht mehr aushielt. Die Wohnungstür mit Gewalt zu öffnen, schien ihm absolut sinnlos – ohne dass er hätte sagen können, warum. Wie im Traum wusste er, dass ihn in seiner Wohnung alles Mögliche erwarten konnte – so, wie es seit dem ominösen 10 Dezember schliesslich dauernd passierte –, aber sicher nicht Aluk. Was also wollte er in seiner Wohnung? Die Vorstellung, seine Wohnung jemals wieder zu betreten, erfüllte ihn mit Widerwillen, ja Ekel. Eine Wohnung mag in der normalen Welt ein Ort der Geborgenheit sein – in der Welt, in der Oesch sich jetzt befand, war die eigene Wohnung ein Gefängnis oder gar ein Grab.
Nachdem er auch die Flasche Rotwein geleert hatte und eine zweite zur Hälfte geleert war, verflüchtigte sich sein Wohlbehagen allerdings rapide. Er konnte dem Film nicht mehr folgen; kalte Schauer jagten über seinen Rücken, sein Unterleib zog sich zusammen. Vielleicht wurde er krank? Ja, und dann? Es gab jetzt nicht nur keinen Aluk mehr, der ihm notfalls Tee kochte, ihm den Rücken mit Tigerbalsam einrieb und ihn tröstete, es gab auch keine Ärzte und Krankenschwestern mehr und keine 24-Stunden-Permanence-Praxis im Hauptbahnhof und keine Notfallstationen in den Spitälern, das heisst, die Notfallstationen gab es schon noch, einfach ohne Ärzte und Krankenschwestern und Patienten (nahm et jedenfalls an, gecheckt hatte er es ja noch nicht), notfalls musste er in eine Apotheke oder eine Praxis einbrechen, aber was hiess in diesem Fall schon einbrechen, juristische Tatbestände waren in der Welt, wie sie jetzt war, ganz irrelevant und nichtexistent geworden (denn es gab ja auch keine Polizisten und keine Richter mehr, wenngleich auch noch Polizeistationen und Gerichte), er, Oesch, musste also in Apotheken oder Arztpraxen einbrechen und sich Medikamente besorgen. Allerdings war sein medizinisches und pharmazeutisches Wissen beschränkt, sehr beschränkt. Dabei fiel ihm ein, dass er sich dann gleich mit ein paar Sachen aus dem Giftschrank versorgen konnte, die ihm dieses elende Leben hier ein wenig erleichtern konnten, zum Beispiel Valium oder Morphium, und überhaupt musste er daran denken, seinen Alltag zu organisieren. Er musste sich mit Lebensmitteln versorgen. Also zuerst einmal in einen Supermarkt einbrechen (aber was hiess da einbrechen?), das konnte er gleich morgen früh tun. Er könnte sich auch Geld beschaffen, aus der Ladenkasse oder vielleicht auch in einer Bank, was davon abhing, wie stark das Geld gesichert war. Geld hatte in den letzten Jahren seine materielle Seite sowieso zusehends verloren und zwar zum reinen Zahlenspiel verkommen. Sich Geld zu beschaffen machte momentan überhaupt keinen Sinn, aber da er natürlich durchaus damit rechnete, dass der momentane Zustand irgendwann ein Ende haben würde, war die Frage der Geldbeschaffung, sozusagen im Hinblick auf eine allerdings höchst ungewisse Zukunft, durchaus einen Gedanken wert. Der kluge Mann sorgt vor, sagte Oesch laut und lachte unfroh. Es wäre auch durchaus nicht ohne Reiz, in fremde Wohnungen einzusteigen und sich da ein wenig umzusehen. Er konnte morgen gleich bei seinen Nachbarn beginnen, die er noch nie besucht hatte; er hatte sich schon lange gefragt, wie die wohl eingerichtet waren.
In den Laden, eine Filiale der österreichischen Spar-Kette gleich via-à-vis von seinem Haus, brauchte er gar nicht einzubrechen. Der Laden war zwar ebenfalls menschenleer, aber beleuchtet und offen. Auch die Kühlregale funktionierten tadellos, wie Oesch feststellen konnte. Die Energieversorgung war also trotz allem, was passiert sein mochte, nicht oder noch nicht zusammengebrochen. Sogar das Brot war, wie Oesch sich überzeugen konnte, noch einigermassen frisch oder sozusagen frisch. Ziemlich wahllos stopfte Oesch Lebensmittel in die mitgebrachten Taschen. Zu bezahlen brauchte er ja nicht. Er konnte gar nicht bezahlen. Trotzdem fühlte er sich unwohl bei seinem Tun. Streng genommen war die Aktion, die er hier vollzog, Ladendiebstahl, aber der Begriff verliert, wie überhaupt jede Moral, sozusagen jeden Sinn, wenn man schätzungsweise der einzige noch vorhandene Mensch auf dieser ganzen gottverdammten seelenlosen Erde ist. Das wusste Oesch natürlich nicht, musste aber immer mehr davon ausgehen, da sich bisher auch medienmässig kein menschliches Wesen aus der Zeit nach dem 10. Dezember zu Wort gemeldet hatte oder sonstwie bemerkbar machte.
Nachdem Oesch zu Hause die Lebensmittel im Kühlschrank und im Küchenkasten deponiert hatte, läutete er vorsichtshalber an der Tür seiner Nachbarn, aber es reagierte natürlich niemand und die Tür war verschlossen. Sämtliche Türen, die er im Haus ausprobierte, waren verschlossen, bis auf die Tür, die zu einer der Penthousewohnungen führte. Nachdem er, höflich, wie er nun mal war, aber leider völlig vergeblich geläutet hatte, konnte er das Appartement problemlos betreten. Die Wohnung sah aus, als sei sie eben erst verlassen worden, überall fanden sich Spuren des Alltagslebens, das sich in diesen Wänden abgespielt hatte: abgelegte Kleider, verwelkende Blumen auf dem Tisch, herumliegende Illustrierte, eine angebrochene Cornflakes-Packung auf dem Tisch, eine Tasse erkalteten Tees... Oesch betrat das fremde Schlafzimmer und entdeckte in sich einen Impuls, der ihm sogleich peinlich war: Er hatte das Bedürfnis, in Schubladen zu stöbern und Schränke zu durchwühlen. Doch da liess ihn ein Geräusch aufhorchen: ein Knacken und Schaben, vielleicht auch ein kurzes Schnauben oder Stöhnen... Oesch verharrte reglos, zutiefst erschrocken, schwankend zwischen Hoffnung und Furcht – so blieb er für vielleicht fünf Minuten stehen, war ganz Ohr, atmete nur flach, um ja kein Geräusch zu verpassen – aber nichts rührte sich mehr, und Oesch wollte seine Examination schon fortsetzen, kopfschüttelnd; da war er wohl einer Sinnestäuschung erlegen, einer akustischen Halluzination. Noch während er das dachte, hörte er weit entfernt, weit unten im Haus eine Tür zuschlagen.
Ohne dass er hätte begründen können, warum, war Oesch in höchstem Mass alarmiert. Er eilte über das Treppenhaus in seine im vierte Stock gelegene Wohnung hinunter – den Lift zu nehmen getraute er, der unter Klaustrophobie litt, sich nun, da sich alles so verändert hatte, erst recht nicht mehr, das fehlte noch, dass er im Lift stecken blieb, und kein Alarmknopf der Welt konnte ihn aus dieser Zwangslage befreien – er eilte also zu Fuss zu seiner Wohnung hinunter, seine Wohnungstür, die er offen gelassen hatte – warum auch nicht? – war zu, daher also das Geräusch; wahrscheinlich ein Windstoss, aber woher? Es gab im Inneren dieses gut isolierten Hauses keine geheimen Winde! Und als Oesch seine Wohnung betreten wollte, musste er feststellen, dass die Tür abgeschlossen war.
Zunächst war Oesch einfach nur perplex. Total verblüfft. Der erste Gedanke, der ihm spontan durch Hirn fuhr, galt Aluk: Aluk ist nach Hause gekommen, irgendwie hat sich der Spuk verflüchtigt und alles ist wieder normal. Oeschs Herz pochte und hämmerte. Er läutete an seiner Tür. Nichts rührte sich. Oeschs Hände fuhren in seine Hosentaschen, aber da war nichts, nur ein Papiertaschentuch und ein Feuerzeug und ein nutzloses Handy, aber kein Schlüssel, natürlich nicht, denn der Schlüssel befand sich ja in der Wohnung, aus der er nun ausgeschlossen war. Das konnte doch nicht sein! Oesch hämmerte mit seinen Fäusten an die Tür, rief «Aluk, Aluk!», so lange, bis er, völlig ausser Atem, die offensichtliche Sinnlosigkeit seines Tun erkannte. Er wählte – zum xten Mal seit der rätselhaften Verwandlung der Welt und der Versteinerung der Zeit – auf seinem Handy die Nummer von Aluks Handy und zum xten Mal meldete sich lediglich die Mailbox.
Ganz plötzlich wurde Oesch von einem tiefen Gefühl der Einsamkeit und des Verlusts ergriffen. Die Flut im Meer der Trauer, das auch sonst an die Gestade seiner Seele brandete, stieg ins Uferlose. Diese Trauer galt weniger ihm selbst als Aluk, nicht seiner eigenen Einsamkeit, sondern dem Umstand, dass er Aluk irgendwo allein zurückgelassen hatte. Er empfand ein brennendes Schuldgefühl, so, als habe er Aluk bewusst und willentlich im Stich gelassen. Die Art seiner Gefühle für Aluk war so, dass er Aluk nicht leiden sehen konnte. So, als sei er ihm buchstäblich ans Herz gewachsen, empfand er Schmerz und Verzweiflung seines Gefährten um ein vielfaches verstärkt bei sich selbst. Er wusste, dass das sentimental war, aber er empfand es so, als habe Gott – an den er im Übrigen nicht einmal glaubte – ihm das Schicksal von Aluk persönlich anvertraut. Er verstand das als die Bewährungsprobe seines Lebens – konnte er seinen Bruder tragen? Insofern war die Beziehung zu Aluk für Oesch weit mehr als eine normale Beziehungskiste. Aluk war für Oesch – natürlich in einem übertragenen Sinn – zu einem Teil seiner selbst geworden. Und zwar zum wichtigsten Teil seiner selbst.
Oesch sass auf einer Stufe im Treppenhaus vor seiner abgeschlossenen Wohung, während ein solcher Gefühlsstrum durch seine Brust jagte, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er sass da, bis er es nicht mehr aushielt. Die Wohnungstür mit Gewalt zu öffnen, schien ihm absolut sinnlos – ohne dass er hätte sagen können, warum. Wie im Traum wusste er, dass ihn in seiner Wohnung alles Mögliche erwarten konnte – so, wie es seit dem ominösen 10 Dezember schliesslich dauernd passierte –, aber sicher nicht Aluk. Was also wollte er in seiner Wohnung? Die Vorstellung, seine Wohnung jemals wieder zu betreten, erfüllte ihn mit Widerwillen, ja Ekel. Eine Wohnung mag in der normalen Welt ein Ort der Geborgenheit sein – in der Welt, in der Oesch sich jetzt befand, war die eigene Wohnung ein Gefängnis oder gar ein Grab.
Samstag, 18. Dezember 2010
Ein Tag wie jeder andere
Oesch wacht eines Morgens auf – es ist ein Tag wie jeder andere. Könnte man meinen. Er setzt Wasser für den Capuccino auf, geht ins Bad, duscht, rasiert sich, steckt Toastscheiben in den Toaster, stellt den Käse und den Aufschnitt auf den Tisch, setzt sich mit einem Buch an den Frühstückstisch, beginnt zu essen, zu lesen, zu trinken. Aluk, sein Partner, schläft noch, wie immer. Denkt Oesch. Dann fällt ihm aber doch etwas Ungewohntes auf, eine überraschende Ruhe. In der Wohnung ist es zwar immer relativ ruhig, die Fenster isolieren gut, aber so ruhig denn doch nicht, normalerweise hört man ein Flugzeug, das sich im Ab- oder Landeflug befindet, den vorbeifahrenden Zug, entfernten Baulärm. Oesch realisiert diese Ruhe, aber die Erkenntnis bleibt in seinem Unbewussten, unterhalb der Bewusstseingrenze, er ergänzt, weil er es so erwartet, die Wirklichkeit einfach mit seiner Fantasie zur Normalität. Ausserdem hat er es eilig, er muss ins Büro, davor noch scheissen, er weiss, wann der Bus fährt und wann der nächste, also packt er sein Buch, um auf der Toilette weiter zu lesen und sein Geschäft zu erledigen, dann putzt er sich noch rasch die Zähne, schlüpft in Schuhe und Mantel, greift sich Rucksack und Schirm und verlässt die Wohnung, wie immer nach mehrmaliger Kontrolle, ob der Kochherd ausgeschaltet ist. Inzwischen ist die Dunkelheit einem schmutzigen Dämmerungslicht gewichen, das wenig Freude macht. Es ist kurz nach acht Uhr, Dezember. Oesch eilt zur Bushaltestelle, auf dem Weg begegnet ihm niemand. Jetzt wird die Stille unüberhörbar. Nichts regt sich. Nirgends Menschen. Auch Tiere sind vorerst keine zu sehen, was nicht ungewöhnlich ist im Dezember. Allerdings hat es auch im Winter auf dem Streifen Wiese zwischen Bahngeleise und Wohnblock meistens ein oder zwei Kolkraben. Heute nicht. Das irritiert Oesch aber weniger als das Fehlen von Menschen und die Abwesenheit von jeglichem Verkehrslärm. Oesch überlegt kurz, ob er sich im Tag geirrt hat, oder im Datum, vielleicht ist heute ja Sonntag, oder Weihnachten. Ach Quatsch, so senil ist Oesch dann doch noch nicht, Sonntag war vorgestern, also ist heute Dienstag, und es ist erst der 11. Dezember, ein Blick auf die Datumsanzeige auf seinem Handy bestätigt es Oesch. Jetzt befindet er sich an der Bushaltestelle, wo sich nicht nur kein Bus befindet wie sonst üblich, weil die Busse zu dieser Tageszeit in kurzen Abständen fahren und es sich bei der Haltestelle von Oesch um die Endhaltestelle der Buslinie handelt, sondern auch sonst nichts, was sich bewegt, weder auf Beinen noch auf Rädern. Oesch ist ratlos, verblüfft erst, dann zunehmend irritiert. Nachdem er eine Viertelstunde gewartet hat, in der sich nicht das geringste ändert, macht er sich zögernd zu Fuss auf den Weg. Normalerweise wird an den Stationen per Lautstärker über Busausfälle oder Linienblockierungen informiert, aber nicht heute. Er geht Richtung Innenstadt, was ein langer Weg ist, da Oesch an der äussersten Peripherie der Stadt wohnt. Immer noch begegnet er keiner Menschenseele, überhaupt keinem Lebewesen, und folglich auch keinen Fahrzeugen. Oesch wird immer deutlicher bewusst, dass wirklich etwas nicht stimmt. Immer noch hofft er auf eine einigermassen einleuchtende Erklärung für den perversen Zustand, in dem sich seine Umwelt ganz offensichtlich befindet, auch wenn er sich eine solche Erklärung ganz und gar nicht vorstellen kann. Jetzt kommt er an einer der Zeitungsboxen vorbei, in denen üblicherweise die Gratiszeitungen liegen, und es liegt auch tatsächlich ein ganzer Stapel Gratiszeitungen in der Box, was ebenfalls unüblich ist um diese Zeit. Er greift sich eine Zeitung, sie kommt ihm bekannt vor, und er sieht auch gleich wieso, es ist nämlich ein Exemplar von gestern, also von Montag, also vom 10. Dezember. Richtig. Er sieht sich bestätigt: 20 Minuten, Exemplar vom Montag, dem 10. Dezember.
Plötzlich scheint es ihm ganz sinnlos, länger der menschenleeren Strasse zu Fuss Richtung Innenstadt zu folgen. Sinnlos und falsch. Plötzlich ergreift ihn siedendheiss die Panik. Er muss sich um seinen Freund und Lebenspartner, um seinen Schützling kümmern, er muss zu Aluk zurück, ihn wecken und gemeinsam mit ihm überlegen, was jetzt zu tun ist, vielleicht findet sich auch eine Erklärung in den Medien, im Fernsehen, im Radio, im Internet, ja, im Internet wird sich eine Erklärung finden, denn im Internet findet man alles. Oesch ändert seine Marschrichtung um 180 Grad; er hastet jetzt, rennt fast, er will möglichst rasch nach Hause zurück. Aus Angst zieht sich sein Unterleib zusammen; er muss unbedingt noch einmal scheissen. Aber in der Wohnung eilt er zuerst nicht auf die Toilette, sondern zum Zimmer von Aluk. Im Zimmer von Aluk ist es Dunkel, die Rollläden sind heruntergelassen, er sieht auf dem Bett von Aluk nur ein schwarzes Bündel, er schwankt zwischen Panik und Hoffnung, Aluk, sagt er mit rauer Stimme, Darling, wach auf – da merkt er, dass das schwarze Bündel auf dem Bett lediglich die Bettdecke von Aluk ist, dass von Aluk selbst aber jede Spur fehlt.
Hektisch sucht Oesch die ganze Wohnung ab, es ist ja schon vorgekommen, dass Aluk sich versteckt hat, um Oesch bei dessen Heimkehr zu erschrecken oder zu foppen, aber es ist ihm eigentlich schon klar, dass Aluk sich ebenfalls wie alle anderen in Luft aufgelöst hat oder was sonst auch immer, jedenfalls für den Moment verschwunden und somit ein Teil des Rätsels geworden ist, zu welchem sich Oeschs Leben seit heute morgen beim Aufwachen gewandelt hat.
Einen kurzen Moment lang überlegt Oesch, dass er vielleicht noch immer träumt, nämlich wach geworden und dann in dieses Schlamassel geraten zu sein, aber er entscheidet sich relativ rasch dafür, dass das nicht möglich sei, denn er fühlt sich entschieden wach, so, wie er sich immer fühlt, wenn er wach ist. Anderseits erinnert er sich natürlich schon daran, manchmal darüber gegrübelt zu haben, ob er etwas jetzt tatsächlich erlebt oder nur geträumt hat. Aber diese Unsicherheiten dauerten immer nur einen Moment, und jetzt ist er seit mindestens einer Stunde in diesem Wachheitszustand. Nein, ein Traum kann das nicht sein. Er erinnert sich an seinen Vorsatz, die Realität mittels Medien abzuchecken. Er macht den Fernseher an. Normales Frühstücksfernsehen. Nachrichten, jetzt News genannt. Die News von Montag, dem 10. Dezember... Oesch erstarrt. 10. Dezember? Aber heute ist doch eindeutig der 11. Dezember, ein erneuter Blick auf die Datumsanzeige des Handys bestätigt den Befund, ausserdem ist ganz sicher nicht Montag, denn Montag war gestern, und was für einer, ein beschissener nämlich mit jeder Menge Ärger, also daran erinnert sich genau, er ist doch nicht blöd. Ich bin doch nicht blöd, sagt er laut und ahmt die Stimme aus der Fernsehwerbung nach. Aber warum bringen denn die jetzt noch einmal die News von gestern? Gottverdammte Scheisse!
Oesch fährt seinen Mac, einen alten Power Mac G5, hoch. Er schwitzt, und gleichzeitig ist ihm kalt. In seinen Gedärmen rumort es. Er startet den Firefox, öffnet die Seite von tagesanziger.ch. Montag, 10. Dezember 2010 steht da, letztes Update 09.30 Uhr. Ein Bombenanschlag in Stockholm, Deutschland wünscht sich die D-Mark zurück, Barack Obama... Höchsttemperaturen 2 Grad, das Wetter vom 11. Dezember, das könnte etwa stimmen, bewölkt ist es auch, in der zweiten Wochenhälfte wird es deutlich kälter, aber nichts von einer Kathastrophe, die eingetreten ist oder noch eintreffen wird, vom 10. Dezember aus gesehen. Auch der Blick tut so, als wäre immer noch der 10. Dezember, Islamist sprengt sich in die Luft, ein gewesener Parteipräsident bezeichnet die kommende Bundespräsidentin als «stutenbissige Musterschülerin», auf CNN ist es ebenfalls noch december 10 oder seit december 10 0748 GMT nichts mehr geupdated worden, dasselbe Bild bei NZZ Online, bei der Frankfurter Allgemeinen («Wir Deutschen sollen noch mehr zahlen», Mutti Merkel unter einem Plastikregenschirm), bei der Herald Tribune («China’s Army of Graduates sStruggles für Good Jobs»), bei der Sunday Times («The New Tower of London», «Commissioner indicated to Charles and Camilla that he was ready to resign for putting their lives at risk in the tuition fee riots»), bie «Le Monde», beim «Corriere della Sera», bei «El Pais», bei der «Times od India», beim «Sydney Morning Herald», bei «The Mail & Guardian», bei «Globo», bei «The Jakarta Post», beim «Tokyo Journal»...
Nein, das brachte nichts. Irgendwie war die Zeit aus den Fugen geraten, seine, Oeschs Zeit, und die seiner Umgebung. Irgendwie war er aus der Zeit katapuliert worden in die Zukunft, die einzig und allein für ihn, Oesch, nun die Gegenwart war, während sie offenbar für alle anderen die Zukunft blieb. Nur so, so wirr und vage, konnte sich Oesch seine gegenwärtige Lage erklären. Und für sich den ebenso vagen Wunsch formulieren, die vage Hoffnung, wieder in die «richtige» Zeit, die Zeit aller anderen, zurückzufinden. Aber wie?
Plötzlich scheint es ihm ganz sinnlos, länger der menschenleeren Strasse zu Fuss Richtung Innenstadt zu folgen. Sinnlos und falsch. Plötzlich ergreift ihn siedendheiss die Panik. Er muss sich um seinen Freund und Lebenspartner, um seinen Schützling kümmern, er muss zu Aluk zurück, ihn wecken und gemeinsam mit ihm überlegen, was jetzt zu tun ist, vielleicht findet sich auch eine Erklärung in den Medien, im Fernsehen, im Radio, im Internet, ja, im Internet wird sich eine Erklärung finden, denn im Internet findet man alles. Oesch ändert seine Marschrichtung um 180 Grad; er hastet jetzt, rennt fast, er will möglichst rasch nach Hause zurück. Aus Angst zieht sich sein Unterleib zusammen; er muss unbedingt noch einmal scheissen. Aber in der Wohnung eilt er zuerst nicht auf die Toilette, sondern zum Zimmer von Aluk. Im Zimmer von Aluk ist es Dunkel, die Rollläden sind heruntergelassen, er sieht auf dem Bett von Aluk nur ein schwarzes Bündel, er schwankt zwischen Panik und Hoffnung, Aluk, sagt er mit rauer Stimme, Darling, wach auf – da merkt er, dass das schwarze Bündel auf dem Bett lediglich die Bettdecke von Aluk ist, dass von Aluk selbst aber jede Spur fehlt.
Hektisch sucht Oesch die ganze Wohnung ab, es ist ja schon vorgekommen, dass Aluk sich versteckt hat, um Oesch bei dessen Heimkehr zu erschrecken oder zu foppen, aber es ist ihm eigentlich schon klar, dass Aluk sich ebenfalls wie alle anderen in Luft aufgelöst hat oder was sonst auch immer, jedenfalls für den Moment verschwunden und somit ein Teil des Rätsels geworden ist, zu welchem sich Oeschs Leben seit heute morgen beim Aufwachen gewandelt hat.
Einen kurzen Moment lang überlegt Oesch, dass er vielleicht noch immer träumt, nämlich wach geworden und dann in dieses Schlamassel geraten zu sein, aber er entscheidet sich relativ rasch dafür, dass das nicht möglich sei, denn er fühlt sich entschieden wach, so, wie er sich immer fühlt, wenn er wach ist. Anderseits erinnert er sich natürlich schon daran, manchmal darüber gegrübelt zu haben, ob er etwas jetzt tatsächlich erlebt oder nur geträumt hat. Aber diese Unsicherheiten dauerten immer nur einen Moment, und jetzt ist er seit mindestens einer Stunde in diesem Wachheitszustand. Nein, ein Traum kann das nicht sein. Er erinnert sich an seinen Vorsatz, die Realität mittels Medien abzuchecken. Er macht den Fernseher an. Normales Frühstücksfernsehen. Nachrichten, jetzt News genannt. Die News von Montag, dem 10. Dezember... Oesch erstarrt. 10. Dezember? Aber heute ist doch eindeutig der 11. Dezember, ein erneuter Blick auf die Datumsanzeige des Handys bestätigt den Befund, ausserdem ist ganz sicher nicht Montag, denn Montag war gestern, und was für einer, ein beschissener nämlich mit jeder Menge Ärger, also daran erinnert sich genau, er ist doch nicht blöd. Ich bin doch nicht blöd, sagt er laut und ahmt die Stimme aus der Fernsehwerbung nach. Aber warum bringen denn die jetzt noch einmal die News von gestern? Gottverdammte Scheisse!
Oesch fährt seinen Mac, einen alten Power Mac G5, hoch. Er schwitzt, und gleichzeitig ist ihm kalt. In seinen Gedärmen rumort es. Er startet den Firefox, öffnet die Seite von tagesanziger.ch. Montag, 10. Dezember 2010 steht da, letztes Update 09.30 Uhr. Ein Bombenanschlag in Stockholm, Deutschland wünscht sich die D-Mark zurück, Barack Obama... Höchsttemperaturen 2 Grad, das Wetter vom 11. Dezember, das könnte etwa stimmen, bewölkt ist es auch, in der zweiten Wochenhälfte wird es deutlich kälter, aber nichts von einer Kathastrophe, die eingetreten ist oder noch eintreffen wird, vom 10. Dezember aus gesehen. Auch der Blick tut so, als wäre immer noch der 10. Dezember, Islamist sprengt sich in die Luft, ein gewesener Parteipräsident bezeichnet die kommende Bundespräsidentin als «stutenbissige Musterschülerin», auf CNN ist es ebenfalls noch december 10 oder seit december 10 0748 GMT nichts mehr geupdated worden, dasselbe Bild bei NZZ Online, bei der Frankfurter Allgemeinen («Wir Deutschen sollen noch mehr zahlen», Mutti Merkel unter einem Plastikregenschirm), bei der Herald Tribune («China’s Army of Graduates sStruggles für Good Jobs»), bei der Sunday Times («The New Tower of London», «Commissioner indicated to Charles and Camilla that he was ready to resign for putting their lives at risk in the tuition fee riots»), bie «Le Monde», beim «Corriere della Sera», bei «El Pais», bei der «Times od India», beim «Sydney Morning Herald», bei «The Mail & Guardian», bei «Globo», bei «The Jakarta Post», beim «Tokyo Journal»...
Nein, das brachte nichts. Irgendwie war die Zeit aus den Fugen geraten, seine, Oeschs Zeit, und die seiner Umgebung. Irgendwie war er aus der Zeit katapuliert worden in die Zukunft, die einzig und allein für ihn, Oesch, nun die Gegenwart war, während sie offenbar für alle anderen die Zukunft blieb. Nur so, so wirr und vage, konnte sich Oesch seine gegenwärtige Lage erklären. Und für sich den ebenso vagen Wunsch formulieren, die vage Hoffnung, wieder in die «richtige» Zeit, die Zeit aller anderen, zurückzufinden. Aber wie?
Sonntag, 24. Oktober 2010
"...or I'll simply be a drop of rain/but I will remain..."
Willie Nelson, Johnny Cash, Kris Kristofferson: Highway Man
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