Als Oesch aus seiner Erstarrung erwachte, war da immer noch dieser Fluchtimpuls, den er in sich spürte und den er nun unverzüglich in die Tat umsetzte. Ohne sich darum zu kümmern, dass er noch im blossen Hemd und in Hausschuhen war, verliess er seine Wohnung und lenkte die Schritte mit grosser Entschlossenheit in Richtung Stadt. Dabei fiel ihm auf, dass es draussen mittlerweile merklich wärmer geworden war. Obwohl ohne Schal und Jacke, war ihm nicht nur nicht kalt, sondern sogar richtig warm. Das musste ein ungewöhnlich starker Zustrom subtropischer Luft aus südlichen Gegenden sein, den da ein ziemlich stürmischer Föhn mit sich brachte. Plötzliches Tauwetter war im Dezember ja keine Seltenheit, aber ein Tauwetter, das mit diesem Tempo und mit derart hohen Temperaturen einsetzte – es war inzwischen mindestens 15 Grad – hatte Oesch noch nie erlebt. Auch schien dieser Wind mit einem Duft geschwängert zu sein, den Oesch einfach nicht identifizieren, geschweige denn dingfest machen konnte. Obwohl der Duft äusserst intensiv war, war sich Oesch nicht ganz sicher, ob er ihn sich nicht nur einbildete. Er war irgendwie süsslich – Schokolade, Erdbeere, Jasmin, Flieder, weiss der Teufel, dann wieder salzig wie ein Duft vom Meer, plötzlich auch auf eine unsagbare Art geschlechtlich, sexuell, erregend...
Inzwischen war Oesch beim Zehntenhausplatz angelangt, einer Art Zentrum des Ortsteils am Stadtrand, den er bewohnte, und bog – weg von der üblicherweise in anderen Zeitaltern oder auf anderen Realitätsebenen stark befahrenen Wehntalerstrasse – nach rechts ab, in Richtung Hönggerberg, weg von der Zivilisation, die jetzt eine Zivilisationswüste oder eine verwaiste Zivilisation war, Richtung Wald. Von dort, schien ihm, musste die Geruchsimmission kommen, dort musste die Quelle der Düfte sein. Warum Oesch das vermutete, wusste er selbst nicht; er war aber felsenfest davon überzeugt. Gleichzeitig schienen ihm die Gerüche wie Farben zu sein, ja, die Gerüche tauchten die Umgebung je nach Beschaffenheit in ein spezifisches Licht. Oesch musste lachen, denn das war eigenartig, aber auch faszinierend: Synästhesie nannte man das, ja genau, Oesch erinnerte sich daran, weil er dieses Phänomen einmal für ein Buch über Drogenkonsum recherchiert hatte. Und während er zwischen verlassenen Einfamilienhäusern dem Wald entgegenstrebte, mit einer insgesamt nur als «staunend» zu bezeichnenden inneren Haltung, glaubte er manchmal, im heftigen Wind Musikfetzen zu hören, Musikfetzen, die aus einem alten Led Zeppelin-Stück herausgerissen waren, einem Lieblingssong von Oesch, «When the Leeve Breaks», Oesch versuchte sich zu erinnern: «If it keeps on raining levee’s going to braek/When the Levee breaks have no place to stay». Oesch versuchte sich zu erinnern, was «Levee» hiess: Damm, Deich, Schutzwall... sofort zogen Bilder von Holland durch sein Hirn, Bilder von überschwemmten Ebenen, von braunen, weissen und schwarzen Kühen, die aufgedunsen mit dem Bauch nach oben auf den Fluten trieben, und wieder dieser Geruch, dieser Geruch, der im Wind lag und einerseits nach Lust, anderseits nach Tod roch...
Inzwischen war es noch wärmer geworden. Oesch schwitzte, er war eindeutig zu warm angezogen. I am overdressed, sagte Oesch laut und lachte. Er lachte erst verhalten, dann überkam es ihn, und schliesslich wälzte er sich am Boden vor Lachen, das heisst, nein, er stellte sich nur vor, sich lachend auf dem Boden zu wälzen, When the Leeve Breaks when the Leeve Breaks... Wenn alle Dämme brechen, gibt’s keinen Ort mehr, wo man hingehen kann, nein nein, die grosse Flut setzt das ganze Land unter Wasser, die Gefühle überschwemmen ganz unsern Verstand und wir werden verrückt. Vielleicht war Oesch daran, verrückt zu werden, während ein Wind durch die Landschaft fuhr und an den Bäumen rüttelte, der nach Sperma und Scheisse roch und nach Achselschweiss und Pheromonen, ein inzwischen schon heisser Wind, der direkt aus dem Zentrum einer Wüste zu blasen schien, Oesch riss sich das Hemd vom Leib, wenn er verrückt wurde, wen juckte es? Don’t it make you feel bad/When you’re tryin’ to find your way home/You don’t know which way to go? sang Robert Plant, während der mit Düften geschwängerte heisse Wind die laublosen Bäume um ihn herum in die ein wildes Farbenspiel tauchte...
Es war ein Wunder: Von weitem sah Oesch an einem der Holztische vor der Waldhütte einen Mann sitzen. Oeschs Herz schlug schneller, und er rannte jetzt fast. Der Mann sass am Tisch, vor sich eine Flasche Wodka und ein Glas, und schaute in die Oesch entgegengesetzte Richtung. Er war ein Mann in den Fünfzigern, mittelgross, korpulent, ergraut wie Oesch selbst, aber mit grosser Glatze, einem vom Trinken gedunsenen, gelben, fast grünlichen Gesicht und geschwollenen Lidern, unter denen jetzt wie aus Spalten winzige, aber lebendige, gerötete Äuglein blitzten. Während er seinen Blick auf Oesch richtete, funkelte in seinem Blick etwas wie Begeisterung, als wäre er ebenso froh wie Oesch, auf ein anderes menschliches Wesen zu stossen – aber gleichzeitig glomm darin etwas wie Irrsinn. Sein Anzug bestand aus einem alten, zerlumpten schwarzen Frack, ohne Knöpfe. Ein einziger sass noch halbwegs fest, und diesen hatte er auch geschlossen, da er offenbar den Regeln des Anstands Genüge tun wollte. Unter der Nankingweste kam eine Hemdbrust zum Vorschein, völlig verknittert, verschmutzt und verschmiert. Auf seinem Gesicht sprossen dichte, schwarzbläuliche Stoppeln. Sein Gehabe war irgendwie würdevoll und beamtenhaft. Er hob das Glas Oesch zum Gruss und fragte ihn offenbar etwas, was Oesch jedoch nicht verstand. Welche Sprache war das? Oesch tippte auf ein östliches Idiom; wahrschenlich russisch. Auch war der Wodka keine Marke, die man in der Schweiz kaufen konnte. «Ich kann Sie leider nicht verstehen», stammelte Oesch verstört, «woher stammen Sie? Welche Sprache sprechen Sie? English? Français?» Der Russe sprach aufgeregt weiter und begann, jetzt schon wesentlich weniger würdevoll und beamtenhaft, zu gestikulieren. Offenbar war er stark betrunken. Er zeigte immer wieder auf sich, auf Oesch und auf den sie umgebenden Wald, auf den er sich offenbar keinen Reim machen konnte. Auch wurde sein Ton immer anklagender, ja geradezu aggressiv, so, als sei der Russe Oeschs wegen in irgendeine missliche Lage geraten und der solle jetzt gefälligst was tun. Immer wieder tippte er sich selbst auf die Brust und rief: «Marmeladow, Semjon Sacharytsch Marmeladow!» Schliesslich machte sich der Russe an Oesch heran, bis sie Brust an Brust standen, und hauchte ihm seinen Alkoholatem ins Gesicht, während er ihn anschrie.
Oesch geriet in Panik. Er riss sich los von dem Verrückten, ergriff einen am Boden liegenden Ast und schlug auf den verrückten Russen ein, bis dieser zu Boden stürzte. Dann rannte er voller Entsetzen davon.
Sonntag, 9. Januar 2011
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