Sonntag, 1. Februar 2009

Amerika existiert





Nun ist Felix schon den dritten Tag in New York, und es stimmt also, Amerika existiert, Felix hat es mit eigenen Augen gesehen, die Brooklyn Bridge gibt es tatsächlich, und die Skyline von Manhattan, wenn man mit der Fähre nach Long Island fährt, an der Freiheitsstatue vorbei, die kleiner als erwartet und etwas verloren auf einem Inselchen hockt, oder steht, ist ebenfalls nicht nur aus einem Film, und ja, die Zwillingstürme sind wirklich nicht mehr da, Felix hat es mit eigenen Augen geprüft, dazu hat er eigens und trotz Flugangst (die allerdings mit Seresta etwas gedämpft wurde) die acht Stunden Flug von Zürich-Kloten nach New York JFK auf sich genommen. Es ist arschkalt in New York, jedenfalls war es das bis heute, jetzt ist Tauwetter angesagt, es war also arschkalt die letzten Tage und vor allem gestern war es geradezu sibirisch, auch wenn man sich das in den USA kaum zu schreiben getraut, angesichts des früheren Erzfeindes, aber es war auch absolut grossartig, wegen dieses Lichts, das es nur dann gibt, wenn es so klar und trocken und kalt ist wie soeben, Schönheit hat eben ihren Preis. Der Central Park ist also tief verschneit, auf einem zugefrorenen Weiher laufen die New Yorker an diesem freien Montag Schlittschuh (es ist Presidents Day, das hat etwas mit George Washington zu tun, der wahrscheinlich heute vor plusminus 200 Jahren geboren wurde, und im Fernsehen werden die ganze Woche schon die Amischlitten mit Presidents-Day-Rabatt angeboten), das Licht ist glitzernd und perlend und absolut umwerfend und fast noch schöner sind die Schatten, die dieses Licht wirft, die Schatten, die sich in den Formen und Linien der Architektur verlieren, und das Blau des Himmels, das sich abhebt gegen das unwahrscheinliche, fast schon surrealistische Panorama der Wolkenkratzer, das den rechteckigen Park umgibt, und die über den Schnee huschenden Eichhörnchen wollen natürlich in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden – ein bisschen Davos oder Sankt Moritz mitten in New York, wer hätte das erwartet?


Der Flug war kürzer als die neun Stunden, die angekündigt waren. Die Kontrollen bei der Einreise hat Felix sich auch schlimmer vorgestellt, Felix wird zwar fotografiert und ein Abdruck seines Daumens wird ihm auch abgenommen, das geht aber ganz schnell und routinemässig und die Beamten heissen halt Officer und nicht Grenzbeamte wie bei uns. Der junge schwarze Mann, der die Gäste für den Shuttle-Bus einsammelt, von Terminal eins bis neun, nennt Felix Papa, das ist aber nicht bös gemeint, so nennt er alle älteren Semester, nein, es macht Felix nichts aus, von einem jungen Mann, der sein Sohn oder schon fast sein Enkel sein könnte, Papa genannt zu werden (allerdings müsste dessen Mama, wenn Felix denn der Papa sein sollte, schon sehr schwarz sein), da guckt die elegante Dame, die der junge Schwarze Mama nennt, schon betupfter. Vom JFK aus fährt man etwa eine halbe Stunde lang rüber nach Manhattan, aber schon bald taucht die Skyline von Manhattan im Blickfeld auf: ein erster Höhepunkt der Reise. Rechts fällt der Blick auf einen Riesenfriedhof mit den Ausmassen einer kleinen Stadt, es ist der jüdische Beth Olom-Friedhof. Und schon hält der Bus in der Nähe der Grand Central Station, und von da sind es nur noch ein paar Schritte bis zum Hotel von Felix. Dieses Hotel ist absolut angemessen. So soll man in New York wohnen, denkt Felix befriedigt. Die Eingangshalle ist fast so grossartig wie die des Waldorf Astoria, mit Kristalllüstern und livrierten Kellnern oder so und natürlich mit einem Porträt von Präsident Roosevelt. Aber das Frühstück muss man sich in der edlen Halle bei Starbucks – in New York allgegenwärtiger als McDonalds – erstehen. Dann ist Felix bereits auf ausgedehnten Stadtwanderungen zwischen South Ferry und ganz oben beim Central Park, er ist auf der Brooklyn Bridge, er ist im Village (daselbst in der legendären Stonewall-Bar), er ist auf dem Empire State Building, im Museum of Art, aber nur im Eingangsbereich, da zu viele Leute (Presidents Day), auf der Fähre nach Staten Island und mehrmals zum Apéro in der wunderbaren Architektur der Grand Central Station (die Bars sind wirklich gediegen, wenn auch die Preise gesalzen, und das sowieso, NYC ist definitiv keine Stadt für Sparer – und keine für Raucher, denn rauchen darf man höchstens auf der Strasse, aber ganz sicher nicht in einer Bar).



Das Hotel Roosevelt, Ecke Madison Ave und 45th Street, ganz in der Nähe von Grand Central Station und Empire State Building, komme ihm kafkaesk vor, irgendwie, meint ein deutscher Geschäftsreisender, während er aus dem Lift tritt, zu seiner Begleiterin. Kafka, der unseres Wissens nie in Amerika war, hat ja tatsächlich einen Roman mit dem Titel «Amerika» geschrieben – Felix hat ihn vor vielen Jahren in Marokko gelesen, er hat ein zerfleddertes Exemplar dieses Titels in der Jugendherberge von Rabbat gefunden. In diesem Buch steht der Satz: «Als der sechzehnjährige Karl Rossmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickt er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.» Warum dem deutschen Geschäftsmann das Hotel Roosevelt kafkaesk vorkommt, kann Felix allerdings nur erraten, denn jetzt ist dieser Geschäftsmann samt Begleiterin schon um die Ecke verschwunden. Der Lift ist übrigens genau so, wie ein Lift in einem amerikanischen Hotel zu sein hat: irgendwie verspiegelt, altmodisch, asthmatisch keuchend, leider aber ohne hübschen Bellboy. Der Eingangsbereich ist grossartig, fast wie die Empfangshalle eines Theaters, mit Säulen, Stuckaturen, Marmorboden, Kronleuchtern, vergoldeten Verziehrungen, Jugendstil. In New York zu sein, hat für Felix übrigens auch etwas mit einem gewissermassen kafkaesken Gefühl der Unwirklichkeit zu tun, weil er an jeder Ecke an so vieles erinnert wird, dem er schon begegnet ist – im Film, auf Plakaten, auf Fotos –, das in der Realität aber ganz anders wirkt, in seiner dreidimensionalen Körperhaftigkeit, grösser, gleichzeitig gewöhnlicher und vielleicht gerade dadurch auch wieder spektakulärer. Felix begegnet im MoMA, dem Museum of Modern Art, und das ist an sich schon ein fast surreales Erlebnis, unzähligen Bildern, die er
schon hundertfach reproduziert auf Plakaten, Postkarten, in Kunstbüchern etc. gesehen hat, die kann er nun im Original bewundern, also in Originalgrösse und in Originalfarben, gerade zum Beispiel die Surrealisten, Dalis zerlaufende Uhren, Magrittes Trug-Bilder, aber natürlich auch die Picassos, Degas, Monet, oder die Amerikaner wie Rothko, Rauschenberg, Jackson Pollock natürlich oder auch Edward Hopper. Erstaunlicherweise hat Felix das Gefühl, dass die Originale viel unechter wirken als die Kopien. Das Museum selbst ist allein schon ein visuelles Ereignis; das neue MoMA ist ja erst etwa zwei Jahre alt und wurde von einem japanischen Architekten gebaut oder umgebaut.
Felix ist vor allem zu Fuss unterwegs, als Stadtwanderer in den Wanderschuhen, die er auch trägt, um in Zürich auf den Hausberg, den Üetliberg, zu wandern oder vielmehr in robertwalserscher Manier zu spazieren. Manchmal ist er auch mit der rumpelnden und rasselnden Subway unterwegs, die er sich auch irgendwie gefährlicher vorgestellt hat; das Gefühl, in dieser Subway zu fahren, ist aber kein anderes als das Gefühl, in Zürich in der S-Bahn oder im Tram zu hocken – nur, dass die New Yorker wohlerzogener wirken als die Zürcher (und dass es in Zürcher Trams mehr durchgeknallte Typen zu haben scheint als in der New Yorker Sub). Aber es ist natürlich interessanter, zu Fuss unterwegs zu sein, vor allem in dieser Stadt, und Felix ist also unterwegs von der Südspitze Manhattans in den Norden, ist unterwegs im Village und im Central Park oder am Times Square, beobachtet und macht Fotos und, wir schwören es, er wird dabei mindestens ein Dutzend mal nach dem Weg gefragt, trotz oder gerade wegen der Wanderschuhe an seinen Füssen, und zwar nicht von japanischen Touristen, sondern von waschechten Amis! Das macht ihn ganz stolz, unseren Touristen aus den Schweizer Bergen. In solchen Momenten merkt er bei sich, dass er der Sohn seines Vaters ist, der in genau so einer Situation ebenfalls stolz auf sich gewesen wäre.

Stilfragen...

...sind Fragen der Substanz. Ein Redner, der ein kontroverses Thema nicht zu Lasten der Vorurteile (auch seiner eigenen) zu vertiefen bereit ist, kann nicht der Rechte sein, es hinreichend zu behandeln. Welches Kriterium haben wir für die Vertrauenswürdigkeit eines Politikers bevor er zur Tat schreitet, als die Umsicht seiner Sprache? Der Beweis, dass die reduzierte Sprache ein Unglück war, wird leider meist erst dadurch erbracht, dass ein noch grösseres passiert.
(Adolf Muschg, O mein Heimatland. Suhrkamp 1998)

Mittwoch, 21. Januar 2009

Nach dem Beben ist vor dem Beben



Die letzte Woche verbringen sie wieder in Bali. Dort beginnen die Tage für Felix fast immer mit einem Nudelsuppen- oder Omlette-mit-Toast-Frühstück im überdachten Freiluftrestaurant des Hotels oder am Pool. Meist ist es dann schon heiss. Tagsüber machen sie – Felix, Aluk und Yono – Ausflüge, mit einem Taxi, das sie samt Fahrer für etwa dreissig Franken pro Tag gemietet haben. Sie fahren auf der ganzen Insel herum, nach Westen zum Besakih-Tempel, noch Norden in die Vulkangegenden des Gungung Batur, zum Tanah Lot, dem Meerestempel, zum Lake Bratan... Bali hat vor allem eine wunderschöne Landschaft zu bieten, in der Menschen mit einer komplexen und reichen Kultur leben, was sich unter anderem in den unzähligen Tempelanlagen und im hoch entwickelten Kunsthandwerk ausdrückt. Ihr Fahrer ist Made Laba, ein kleiner, freundlicher, etwas scheuer brauner Mann.

Wenn sie auf ihren Touren für eine nähere in Inaugenscheinnahme irgendwo anhalten, bleibt Aluk meistens im Wagen oder setzt sich in den Schatten eines Baumes, weil seine Augen das grelle Sonnenlicht nicht ertragen, er aber (aus Eitelkeit oder vielmehr aus mangelndem Selbstvertrauen) keine Sonnenbrille tragen mag. Er bleibt aber auch im Wagen, weil Menschenansammlungen ihm auf den Magen schlagen. Wobei mit Menschenansammlungen in diesem November aufgrund der Bombenanschläge im Oktober eher nicht zu rechnen ist: Es hat auch bei den grössten Sehenswürdigkeiten kaum Touristen, und entsprechend beklagen sich die vielen Menschen, die in irgendeiner Form vom Tourismus abhängig sind, bitter über mangelnde Einkünfte. Deshalb kauft Felix schon mal aus Mitleid ein Souvenir. Dabei sind die Balinesen nie zudringlich und unangenehm, ausser beim Besakih-Tempel, wo Felix ziemlich über den Tisch gezogen wird. Da gibt es aggressiv bettelnde Kinder (wie Felix sie auf dieser Reise sonst nie gesehen hat), zudringliche Jugendliche, die ihn für ein horrendes Geld etwa fünfzig Meter auf dem Motorrad mitnehmen, falsche Tempelwächter, die ihm ein absurd hohes «Eintrittsgeld» abverlangen (obwohl in Bali grundsätzlich nirgendwo Eintritt für die Besichtigung eines Tempels verlangt wird, allenfalls ein Entgelt für die Ausleihe des Sarongs, den jeder Besucher tragen muss) und Fremdenführer, die ihn durch die Tempelanlage führen wollen. Yono, der javanische Begleiter von Felix, wird von diesem Ansturm genauso überrumpelt wie Felix, der völlig unvorbereitet zum Tempel gekommen ist (hätte er sich vorher informiert, dann hätte er sich wappnen können, es ist nämlich kein Geheimnis, dass Touristen am Besakih abgezockt werden). Sein Führer ist allerdings recht nett, er führt ein kleines hinduistisches Ritual mit Felix durch und entschuldigt sich am Ende sogar noch für das geldgierige Verhalten seiner Landsleute.

Seinen fünfzigsten Geburtstag feiert Felix mit seinen Freunden in einem Fischrestaurant in Jimbaran. Das Restaurant liegt direkt am Strand, ihr Tisch, von Fackeln beleuchtet, steht im Sand, über ihnen hängt ein riesiger Vollmond im Himmel, im Blick haben sie die vom nahen Flughafen an- und abfliegenden Flugzeuge. Balinesische «Strassenmusikanten» spielen seltsamerweise ziemlich seltsam interpretierte westliche Rocksongs, bevor sie mit dem Hut von Tisch zu Tisch ziehen. Made Laba sitzt mit am Tisch, ist aber etwas gehemmt. Aluk hat Berge von Shrimps, Muscheln und Fisch bestellt, es ist eine verschwenderische Menge, aber Aluk kann es nicht haben, wenn eine Tafel kärglich aussieht – das heisst: nicht überquillt von Speis und Trank. Sie können längst nicht alles essen.
Sie bestellen sich häufig auch Essen aufs Zimmer oder an den Pool, während im Fernsehen irgendwelche gruseligen Gespensterserien, die Nachrichten, vorwiegend zu Mord und Totschlag, oder eine Gesangsshow im Stil von Music-Star oder eine Sportsendung läuft. Manchmal holen die Jungs auch eine Flasche Wodka oder Bacardi aus dem Shop gegenüber, die zu Dangdut-Musik in erstaunlich kurzer Zeit vertilgt wird, worauf sie sturzbetrunken ins Bett sinken. Manchmal lassen sie Felix in der Hotelanlage zurück und gehen nach Bedeng resp. ins reguläre Zimmer von Aluk, um sich von einer älteren Frau massieren zu lassen oder eben auch dort ein wenig abzuhängen und mit den Nachbarn zu verplaudern. Felix nehmen sie natürlich auch mit, wenn er das will. Das Zimmer ist aber nur klein und hat gerade Platz für einen Fernseher und das Bett. Auf Bali hat man ein ziemlich entspanntes Verhältnis zur Zeit, während unser Felix, der weiss Gott kein extremer Macher ist, immer das Gefühl hat, jetzt dann etwas unternehmen zu müssen.

Nirgendwo lässt es sich so gut langweilen wie in den Tropen. Denn in den Tropen, da ist es feucht und heiss, und das ist ein schlechter Nährboden für ausschweifende Aktivitäten. Ja, Felix langweilt sich manchmal in Bali. Die letzten drei Tage vor dem Abflug ist er krank, er hat Halsschmerzen und Fieber, daran ist die Klimaanlage schuld. Felix hat überhaupt keine Energie mehr, er liegt nur herum und liest in seinem Reiseführer über das balinesische Kastensystem, das zwischen vier grossen gesellschaftlichen Gruppen unterscheidet: den Brahmanas (Kaste der Priester), den Satryas (Kaste der Krieger), den Wesyas (Kaste der Vasallen des Hofes) und den Sudras (niedere Kaste, welche etwa 95% der gesamten Bevölkerung in sich vereint). Heute sei die Wirtschaftskraft des balinesischen Adels zugunsten der Sudra stark zurückgegangen, welche besser auf eine liberale Wirtschaftsform vorbereitet waren, liest Felix. Dennoch mangelt es offenbar auch einem reichen Sudra niemals an Respekt gegenüber einem Noblen, selbst wenn dieser gezwungen ist, in einem der Reisfelder zu arbeiten (was heute immer häufiger der Fall sei). Das balinesische System der Namengebung ist eine Kombination aus zwei Prinzipien, um so die Zuordnung zu einer bestimmten Kaste und zugleich auch die Geburtenreihenfolge innerhalb einer Familie anzeigen zu können. Dieses System verkompliziert sich, wenn es zu einer Heirat zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kasten kommt, zugleich kennt es jedoch auch Ausnahmen. Ida Bagus (männlich) und Ida Ayu (weiblich) zeigen die Zugehörigkeit zur Kaste der Brahmanas an, Guste ist ein gemeinhin von den Vasallen des Hofes genutzter Name, wohingegen Gusti Agung, Anak Agung und Cokorda Repräsentanten des Hochadels sind (und den Titel «Prinz» oder «Prinzessin» tragen), sowie Desak (weiblich) und Dewa (männlich) dem kleinen Adel angehören. Die Namenszusätze Wayan (oder Putu), Made (oder Kadek), Nyoman (oder Koemang) und Ketu bedeuten der Reihenfolge nach Erstgeburt, zweite, dritte und vierte Geburt. Ihr Fahrer Made Laba ist also ein Zweitgeborener. Mit der Geburt des fünften Kindes beginnt der Zyklus von Neuem.

Auch den Abschnitt über Besakih, den Muttertempel, liest Felix nun in seinem Reiseführer doch noch: Dieser Tempel sei, nach der Islamisierung Indonesiens, die lediglich Bali und Lombok nicht erfasste, das zentrale hinduistische Heiligtum in Indonesien. Die Anlage, vermutlich im 8. Jahrhundert gegründet, liegt, wie Felix es auch mit eigenen Augen gesehen hat, am Fuss des Gunung Agung, einem nach wie vor aktiven Vulkan. Die Tempelanlage besteht aus über 200 Bauwerken. Die Fürstengeschlechter haben jeweils ihren eigenen Bezirk, Dörfer, Kasten, Sippen verfügen über eigene Tempel oder Schreine, jeweils umgeben von einer Mauer. Steht im Reiseführer. Und Vorsicht, man werde am Besakih-Tempel gerne abgezockt.

In der Grundstruktur ist die Anlage nach der Hindu-Göttertrinität Brahma-Shiva-Vishnu gegliedert. Diesen drei Göttern sind auch die Hauptheiligtümer gewidmet. Einmal im Jahr findet bei Vollmond ein von vielen balinesischen Gläubigen besuchtes grosses Fest in diesem Tempelkomplex statt, wenn die Rajahs Balis erscheinen und ihren Vorfahren opfern. Alle hundert Jahre feiert man hier ausserdem das «Eka Dasa Rudra», bei dem das Universum symbolisch gereinigt wird. Symbolträchtig brach zu Beginn des letzten Eka Dasa Rudra am 8. März 1963 der Gunung Agung aus. Ein Viertel Balis wurde mit Lava bedeckt, 1600 Menschen starben und 86000 wurden obdachlos. Ein Lavastrom bewegte sich auch auf den Muttertempel zu. Aber vor dem Komplex teilte sich der Strom und die Tempelanlage blieb verschont.

Dienstag, 13. Januar 2009

Fundamentalismus…



ist auch eine Art Fantasielosigkeit. Fundamentalisten sind so sehr auf eine einzige Idee fixiert, dass sie alles andere aus dem Blick verlieren. Und sie nehmen ihre Gedankenspiele für bare Münze.

Dienstag, 6. Januar 2009

Im javanischen Dorf



Im javanischen Dorf wird Felix bestaunt. Ein Reigen von Besucherinnen und Besuchern aus der näheren und der weiteren Nachbarschaft defiliert an Felix vorbei. Felix sitzt auf dem Sofa und lächelt die Besuchenden an, diese lächeln zurück, und nach einer Weile ziehen sie weiter. Plötzlich Aufregung: ein Schwager von Aluk, erfährt Felix, wurde an einer berüchtigten Wegbiegung von einem Geist angefallen und ist jetzt von diesem besessen. Er kann nicht mehr sprechen, er kann nicht mehr essen oder rauchen, er liegt mit verdrehten Augen in einem verdunkelten Zimmer und gibt seltsame Laute von sich. Ein Exorzist wird aufgeboten, es erscheint eine eindrucksvolle charismatische Figur, ein älterer Mann mit intensiven Augen. Aber der Geist teilt mit, es sei noch nicht die Zeit gekommen, ihn auszutreiben, der Geistheiler solle doch morgen noch einmal vorbeikommen, um sechzehn Uhr. So geschieht es denn auch, und
um sechzehn Uhr dreissig sitzt der Patient zwar mit noch etwas wirrem Haar, aber bereits wieder quicklebendig und die erste Zigarette nach der Inbesitznahme seines Körpers durch den Geist rauchend auf dem Sofa – der Geist, Hantu genannt, war offenbar Nichtraucher. Ein Nachbar von Aluk, ein sehr frommer Herr so um die achtzig, spricht die ganze Zeit Arabisch mit Felix, wahrscheinlich, weil das die einzige Fremdsprache ist, die er kann, vielleicht aber eher, weil er so fromm und Arabisch die Sprache Allahs oder zumindest die seines Propheten ist – und es stört ihn eigentlich nicht, dass Felix auf Englisch oder auch auf Schweizerdeutsch – es kommt auf das Gleiche heraus – oder auch bloss mit einem Lächeln antwortet. Tagsüber machen Felix, Aluk, Anto, Yono und noch ein paar andere Jungs Ausflüge im Pickup von Anto ins nach wie vor archaisch anmutenden Land, sie fahren an menschenleere, verlassene Strände, vorbei an Kaffee- und Kakaoplantagen, durch Dörfer und zum Kalibaru Cottage,
einer zwischen Banyuwangi und Jimber gelegenen komfortablen Hotelanlage mit Swimmingpool, wo man auch Bintang-Bier bekommt.
Sonst ist Ostjava sozusagen knochentrocken. Es gibt zwar einzelne spezielle Shops, meist solche, die ungläubigen Chinesen gehören, in denen man einen Whisky-Verschnitt namens Manson oder indonesischen Arrak bekommen kann, aber solche Shops sind gut getarnt und nur von Insidern zu finden; dieses Gesöff trinken sie abends heimlich in der Cola vor dem Fernseher. Die Programme der indonesischen Nationalsender erscheinen Felix ziemlich seltsam, fast immer spielen in ihnen Geister eine tragende Rolle, zum
Beispiel Geister in der Gestalt von Pferden oder Schweinen oder auch bloss von Pferde- oder Schweineköpfen oder auch kindergrosse, Tujul genannte Geister, die diebisch wie die Elstern sind. Felix erkennt, wie wenig er sich im Lebensgefühl und den Denkgewohnheiten seiner indonesischen Freunde immer noch auskennt. Diese Fremdheit ängstigt Felix aber nicht, im Gegenteil: sie stachelt seine Neugier an.

Samstag, 3. Januar 2009

Der Fluss und die Brücke


Leider ist mein Hirn nicht imstande, die Summe der Erfahrung in Text umzusetzen. Ich versuche es trotzdem. Die erste Erkenntnis besteht darin, dass der Unterschied der Kulturen unwesentlich ist. Die zweite Erkenntnis, dass dieser Unterschied entscheidend ist für jede Erkenntnis. Das klingt absurd, und genau das ist damit gemeint. Wir sind alle gleich, und wir sind alle verschieden. Wir sind Individuen, und wir sind gewöhnliche Tiere. Wir sind Staub, Dreck, Scheisse, und wir sind Gott. Nicht im Sinn einer Macht, Gott ist in diesem Sinn nicht mächtig. Gott sind wir, um es sehr vorsichtig auszudrücken, und wir sollten uns nichts darauf einbilden, in dem Sinn, in dem auch eine Maus, ein Insekt oder ein Stein Gott sind - und ganz sicher das Meer, die Wolken, der Nebel, die Sterne. Ein Beweis für die Existenz Gottes ist die Liebe - die Liebe, die wir erfahren können als das wunderbarste und unverdienteste Geschenk des Lebens - die Liebe, die wir geben, und die Liebe, die wir empfangen. Diese Liebe macht keinen Sinn, sie ist Sinn. Wie eine Sternschnuppe, die über der Himmel zieht.
Aber damit habe ich mich, getreu des Gesetzes der Assoziation, weit von meinen ursprünglichen Gedanken entfernt. Der Sinn eines Textes sollte es sein, eine Geschichte zu erzählen, aber die Gedanken haben ihren eigenen Verlauf. Jedenfalls, wenn man ein so undisziplinierter Mensch ist, wie ich es bin.
Begeben wir uns zurück zur Liebe, und begeben wir uns zurück zum Unterschied der Kulturen. Die Liebe ist eine Brücke, und die Unterschiede der Kulturen sind der Fluss, den die Brücke der Liebe überspannen kann. Eine Geschichte habe ich damit noch nicht erzählt.
Gibt es die Geschichte, wenn sie nicht erzählt wird? Gibt es eine Identität, wenn sie nicht definiert wird? Ist es so schlimm, radikal ehrlich zu sein?
Radikal ehrlich zu sein, kann zum Beispiel heissen, zuzugeben, dass man ganz und gar nicht normal ist.
Es ist zum Beispiel nicht normal, als Mann eine Mutter zu sein.
Es ist zum Beispiel nicht normal, nicht erfolgreich sein zu wollen - nicht erfolgreich in dem Sinn, dass man von mir sagt: Der hat es dem aber gegeben!
Nein, ich will, auch mit 53, eigentlich nicht funktionstüchtig sein.
Und es interessieren mich Menschen nicht besonders, die ganz funktionstüchtig sind.
Funktionstüchtig ist furchtbar. Ganz naiv gesprochen.
Ich bin doch keine Maschine.
Ich liebe F., weil es zwischen F. und mir keine Wand gibt. Trotz der Kulturen, der Jahrhunderte, die zwischen uns liegen, der unendlichen Distanz, verbindet uns eine nahtlose Unmittelbarkeit, die näher ist als jede familiäre Bindung.
Wer hätte das gedacht?

Donnerstag, 1. Januar 2009