Mittwoch, 21. Januar 2009
Nach dem Beben ist vor dem Beben
Die letzte Woche verbringen sie wieder in Bali. Dort beginnen die Tage für Felix fast immer mit einem Nudelsuppen- oder Omlette-mit-Toast-Frühstück im überdachten Freiluftrestaurant des Hotels oder am Pool. Meist ist es dann schon heiss. Tagsüber machen sie – Felix, Aluk und Yono – Ausflüge, mit einem Taxi, das sie samt Fahrer für etwa dreissig Franken pro Tag gemietet haben. Sie fahren auf der ganzen Insel herum, nach Westen zum Besakih-Tempel, noch Norden in die Vulkangegenden des Gungung Batur, zum Tanah Lot, dem Meerestempel, zum Lake Bratan... Bali hat vor allem eine wunderschöne Landschaft zu bieten, in der Menschen mit einer komplexen und reichen Kultur leben, was sich unter anderem in den unzähligen Tempelanlagen und im hoch entwickelten Kunsthandwerk ausdrückt. Ihr Fahrer ist Made Laba, ein kleiner, freundlicher, etwas scheuer brauner Mann.
Wenn sie auf ihren Touren für eine nähere in Inaugenscheinnahme irgendwo anhalten, bleibt Aluk meistens im Wagen oder setzt sich in den Schatten eines Baumes, weil seine Augen das grelle Sonnenlicht nicht ertragen, er aber (aus Eitelkeit oder vielmehr aus mangelndem Selbstvertrauen) keine Sonnenbrille tragen mag. Er bleibt aber auch im Wagen, weil Menschenansammlungen ihm auf den Magen schlagen. Wobei mit Menschenansammlungen in diesem November aufgrund der Bombenanschläge im Oktober eher nicht zu rechnen ist: Es hat auch bei den grössten Sehenswürdigkeiten kaum Touristen, und entsprechend beklagen sich die vielen Menschen, die in irgendeiner Form vom Tourismus abhängig sind, bitter über mangelnde Einkünfte. Deshalb kauft Felix schon mal aus Mitleid ein Souvenir. Dabei sind die Balinesen nie zudringlich und unangenehm, ausser beim Besakih-Tempel, wo Felix ziemlich über den Tisch gezogen wird. Da gibt es aggressiv bettelnde Kinder (wie Felix sie auf dieser Reise sonst nie gesehen hat), zudringliche Jugendliche, die ihn für ein horrendes Geld etwa fünfzig Meter auf dem Motorrad mitnehmen, falsche Tempelwächter, die ihm ein absurd hohes «Eintrittsgeld» abverlangen (obwohl in Bali grundsätzlich nirgendwo Eintritt für die Besichtigung eines Tempels verlangt wird, allenfalls ein Entgelt für die Ausleihe des Sarongs, den jeder Besucher tragen muss) und Fremdenführer, die ihn durch die Tempelanlage führen wollen. Yono, der javanische Begleiter von Felix, wird von diesem Ansturm genauso überrumpelt wie Felix, der völlig unvorbereitet zum Tempel gekommen ist (hätte er sich vorher informiert, dann hätte er sich wappnen können, es ist nämlich kein Geheimnis, dass Touristen am Besakih abgezockt werden). Sein Führer ist allerdings recht nett, er führt ein kleines hinduistisches Ritual mit Felix durch und entschuldigt sich am Ende sogar noch für das geldgierige Verhalten seiner Landsleute.
Seinen fünfzigsten Geburtstag feiert Felix mit seinen Freunden in einem Fischrestaurant in Jimbaran. Das Restaurant liegt direkt am Strand, ihr Tisch, von Fackeln beleuchtet, steht im Sand, über ihnen hängt ein riesiger Vollmond im Himmel, im Blick haben sie die vom nahen Flughafen an- und abfliegenden Flugzeuge. Balinesische «Strassenmusikanten» spielen seltsamerweise ziemlich seltsam interpretierte westliche Rocksongs, bevor sie mit dem Hut von Tisch zu Tisch ziehen. Made Laba sitzt mit am Tisch, ist aber etwas gehemmt. Aluk hat Berge von Shrimps, Muscheln und Fisch bestellt, es ist eine verschwenderische Menge, aber Aluk kann es nicht haben, wenn eine Tafel kärglich aussieht – das heisst: nicht überquillt von Speis und Trank. Sie können längst nicht alles essen.
Sie bestellen sich häufig auch Essen aufs Zimmer oder an den Pool, während im Fernsehen irgendwelche gruseligen Gespensterserien, die Nachrichten, vorwiegend zu Mord und Totschlag, oder eine Gesangsshow im Stil von Music-Star oder eine Sportsendung läuft. Manchmal holen die Jungs auch eine Flasche Wodka oder Bacardi aus dem Shop gegenüber, die zu Dangdut-Musik in erstaunlich kurzer Zeit vertilgt wird, worauf sie sturzbetrunken ins Bett sinken. Manchmal lassen sie Felix in der Hotelanlage zurück und gehen nach Bedeng resp. ins reguläre Zimmer von Aluk, um sich von einer älteren Frau massieren zu lassen oder eben auch dort ein wenig abzuhängen und mit den Nachbarn zu verplaudern. Felix nehmen sie natürlich auch mit, wenn er das will. Das Zimmer ist aber nur klein und hat gerade Platz für einen Fernseher und das Bett. Auf Bali hat man ein ziemlich entspanntes Verhältnis zur Zeit, während unser Felix, der weiss Gott kein extremer Macher ist, immer das Gefühl hat, jetzt dann etwas unternehmen zu müssen.
Nirgendwo lässt es sich so gut langweilen wie in den Tropen. Denn in den Tropen, da ist es feucht und heiss, und das ist ein schlechter Nährboden für ausschweifende Aktivitäten. Ja, Felix langweilt sich manchmal in Bali. Die letzten drei Tage vor dem Abflug ist er krank, er hat Halsschmerzen und Fieber, daran ist die Klimaanlage schuld. Felix hat überhaupt keine Energie mehr, er liegt nur herum und liest in seinem Reiseführer über das balinesische Kastensystem, das zwischen vier grossen gesellschaftlichen Gruppen unterscheidet: den Brahmanas (Kaste der Priester), den Satryas (Kaste der Krieger), den Wesyas (Kaste der Vasallen des Hofes) und den Sudras (niedere Kaste, welche etwa 95% der gesamten Bevölkerung in sich vereint). Heute sei die Wirtschaftskraft des balinesischen Adels zugunsten der Sudra stark zurückgegangen, welche besser auf eine liberale Wirtschaftsform vorbereitet waren, liest Felix. Dennoch mangelt es offenbar auch einem reichen Sudra niemals an Respekt gegenüber einem Noblen, selbst wenn dieser gezwungen ist, in einem der Reisfelder zu arbeiten (was heute immer häufiger der Fall sei). Das balinesische System der Namengebung ist eine Kombination aus zwei Prinzipien, um so die Zuordnung zu einer bestimmten Kaste und zugleich auch die Geburtenreihenfolge innerhalb einer Familie anzeigen zu können. Dieses System verkompliziert sich, wenn es zu einer Heirat zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kasten kommt, zugleich kennt es jedoch auch Ausnahmen. Ida Bagus (männlich) und Ida Ayu (weiblich) zeigen die Zugehörigkeit zur Kaste der Brahmanas an, Guste ist ein gemeinhin von den Vasallen des Hofes genutzter Name, wohingegen Gusti Agung, Anak Agung und Cokorda Repräsentanten des Hochadels sind (und den Titel «Prinz» oder «Prinzessin» tragen), sowie Desak (weiblich) und Dewa (männlich) dem kleinen Adel angehören. Die Namenszusätze Wayan (oder Putu), Made (oder Kadek), Nyoman (oder Koemang) und Ketu bedeuten der Reihenfolge nach Erstgeburt, zweite, dritte und vierte Geburt. Ihr Fahrer Made Laba ist also ein Zweitgeborener. Mit der Geburt des fünften Kindes beginnt der Zyklus von Neuem.
Auch den Abschnitt über Besakih, den Muttertempel, liest Felix nun in seinem Reiseführer doch noch: Dieser Tempel sei, nach der Islamisierung Indonesiens, die lediglich Bali und Lombok nicht erfasste, das zentrale hinduistische Heiligtum in Indonesien. Die Anlage, vermutlich im 8. Jahrhundert gegründet, liegt, wie Felix es auch mit eigenen Augen gesehen hat, am Fuss des Gunung Agung, einem nach wie vor aktiven Vulkan. Die Tempelanlage besteht aus über 200 Bauwerken. Die Fürstengeschlechter haben jeweils ihren eigenen Bezirk, Dörfer, Kasten, Sippen verfügen über eigene Tempel oder Schreine, jeweils umgeben von einer Mauer. Steht im Reiseführer. Und Vorsicht, man werde am Besakih-Tempel gerne abgezockt.
In der Grundstruktur ist die Anlage nach der Hindu-Göttertrinität Brahma-Shiva-Vishnu gegliedert. Diesen drei Göttern sind auch die Hauptheiligtümer gewidmet. Einmal im Jahr findet bei Vollmond ein von vielen balinesischen Gläubigen besuchtes grosses Fest in diesem Tempelkomplex statt, wenn die Rajahs Balis erscheinen und ihren Vorfahren opfern. Alle hundert Jahre feiert man hier ausserdem das «Eka Dasa Rudra», bei dem das Universum symbolisch gereinigt wird. Symbolträchtig brach zu Beginn des letzten Eka Dasa Rudra am 8. März 1963 der Gunung Agung aus. Ein Viertel Balis wurde mit Lava bedeckt, 1600 Menschen starben und 86000 wurden obdachlos. Ein Lavastrom bewegte sich auch auf den Muttertempel zu. Aber vor dem Komplex teilte sich der Strom und die Tempelanlage blieb verschont.
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