Montag, 29. März 2010

Traurige Jäger (27)

Sie froren beide. Die spärlich bewachsenen Steppe oder Tundra war beleuchtet von einem kalten nördlichen Licht. Ein Gefühl von ungeheurer Weite erfasste einen angesichts dieser Landschaft. Sie standen auf einem Hügel, der sich kaum hundert Meter über die Ebene erhob und dennoch ein majestätischer Aussichtspunkt war. In der Ebene sah man riesengrosse schwarze Vögel durch die Luft gleiten; ihr schauerliches Kra kra gab der Grösse und Weite dieser Landschaft eine durchaus adäquate akustische Dimension. Kleine Wölkchen schwammen zum fernen Horizont dieses weiten Himmels, der über die weite Landschaft gespannt war. Ja, Ehrfurcht rührte die beiden angesichts dieser Landschaft und berauschte ihr Herz; eine schmerzliche Sehnsucht, toska, angoisse, saudade, soledad. Sie begriffen nun, aus welcher Stimmung heraus die Religion – die Angst vor den Göttern und die Hoffnung auf eine Erlösung von den Furchtbarkeiten der Welt und des Lebens – in den Morgenstunden der Menschheit geboren wurde. Es sind schreckliche Götter, vor denen wir nackt stehen, und doch wissen wir, sie sind gut – zu gross und zu mächtig nur für uns, sie zu verstehen.

Don Quichotte und Sancho Pansa standen stumm und staunend vor dieser Szenerie. Wie lange schon? Sie schienen da in eine Zeit geraten zu sein, die noch kein Zeitmass kannte. Dass jetzt in der Ferne die königlich-plumpe Silhouette eines Dinosaurus Rex auftauchte, war allerdings schon fast zu viel des Guten. Wenn es nicht so kalt und unwirtlich gewesen wäre, hätte man beinahe meinen können, in ein überdimensioniertes Disney-Land geraten zu sein. Sancho entfuhr ein Ausruf des Erstaunens.

«Ich glaube fast, jetzt sind wir gar in die Vorzeit geraten! Hijcho des puta, was soll denn noch alles kommen! Jetzt reichts mir aber wirklich! Ich frage mich, ob wir jemals wieder nach Hause kommen.» – «Schweig, du kleinmütiger Sancho!», sagte Don Quichotte streng, «was störst du mit deinem dummen hasenherzigen Geschnatter diese heilige Ruhe?! Sind wir denn bis jetzt nicht noch aus jedem Abenteuer heil und ganz hervor gegangen? Unsere Schutzengel, deiner Sancho, und meiner, haben uns bisher mit wohltätiger Hand durch die eigenartigsten Geschichten geführt. Und du jammerst, statt dankbar zu sein! In welcher Zeit sind wir denn zu Hause? Und an welchem Ort? Kannst du mir das sagen? Ich jedenfalls weiss, dass ich durch die Zeiten und die Räume als ein ruheloser Wanderer gehen muss, bis sich mein Schicksal erfüllt haben wird, und ich ohne Murren annehmen will, was es mir bereitet!»

Sancho kam nicht mehr dazu, auf diese fatalistische Rede zu antworten, denn jetzt taucht ein Wesen auf, genau in der Mitte zwischen einem Menschen und einem Affen. Man mag nun einwenden, dieses Auftauchen eines Neandertalers passe erdgeschichtlich in keinster Weise zum Vorhandensein der majestätischen Silhouette des einige Zeilen weiter oben erwähnten Dinosaurus Rex. Aber die Zeiten sind in dieser Geschichte nun mal ziemlich durcheinander gerutscht. Wir können deshalb also auch nicht dafür, dass das seltsame vormenschliche Wesen nun auf die beiden Gestalten unserer Helden zuhüpft, gelächterartige Geräusche ausstossend und den Sancho am Bart, zu dem dieser wie die Jungfrau zum Kind gekommen sein muss, packend.

Das mochte als Geste der Zuneigung gemeint sein oder nicht – vielleicht erkannte der Halbaffe oder Halbmensch den Sancho als seinen fernen Nachkommen an, Blut ist, wie man weiss, dicker als Wein –, Sancho begann sich jedenfalls gegen dieses Bartziehen zu wehren, sodass sich schliesslich aus dem, was als zärtliche Neckerei begonnen hatte, ein handfestes Schlagen, Knuffen, Reissen und Beissen entwickelte, bei dem sich Sanchon nicht einmal so schlecht behauptete.

Schliesslich gelang es Don Quichotte aber doch, die beiden ineinander verkeilten Kämpfer zu trennen. Der Urmensch oder Neandertaler schnaufte nicht weniger heftig als Sancho, der den haarigen, wulstäugigen, niedrigstirnigen, langarmigen Körper seines Vorfahren voller Verachtung musterte. Dieser grunzte und gab andere nicht zu definierende Laute von sich, schüttelte die Arme und hüpfte von einem Bein aufs andere, als wollte er damit etwas Bestimmtes mitteilen. «Eine anständige Sprache scheinen die noch nicht erfunden zu haben», meinte Sancho kopfschüttelnd. Don Quichotte belehrte seinen Assistenten: «Und doch will er sich uns verständlich machen. Der gute Wille ist zu honorieren. Vielleicht verstehen wir seine Sprache auch einfach nur nicht. Sieh, wie niedlich er die Augen rollt, wie er den Arm und den Finger streckt – ich glaube, er will, dass wir ihm folgen. Er will uns etwas zeigen.» – «Vielleicht will er uns zum Essen einladen», witterte Sancho da Morgenluft, «hoffentlich haben sie wenigstens das Feuer schon erfunden. Roh schmeckt der Dinosaurierbraten sicher nicht sonderlich gut.»

Während sie ihrem neuen Freund folgten, begann es bereits wieder dämmrig zu werden – auch die gwöhnlichen Tageszeiten scheinen in dieser Geschichte etwas ausser Kontrolle geraten zu sein – und wurde bald stockdunkle Nacht. Mit beklommenem Herzen folgten die beiden Abenteuer – der widerwillige und der mutwillige – ihrem Vorfahren oder Urahnen. Der Boden, über den sie gingen, war weich und feucht; nur gut, dass unsere beiden Helden ihre Stiefel, zu denen sie im Verlauf dieser Geschichte in einem unbemerkten Moment gekommen sein müssen und wiederum wie die Jungfrau zum Kind, aus zivilisierteren Tagen in diese hoffnungslose graue finstere Vorzeit hinübergerettet hatten. Der Halbaffe oder Halbmensch ging nacktfüssig, wie sich das gehört, überhaupt trug er kein einziges Kleidungsstück ausser seinem körpereigenen Fell.

Schliesslich wurde die Dunkelheit von einem rötlich-gelben Schimmer etwas aufgehellt, und bald zeigte es sich, dass das Feuer glücklicherweise schon erfunden war. Es erhellte eine geräumige und ganz gemütliche Höhle, in der mindestens zehn Urmenschen auf Fellen hockten, zottelige Männer, Frauen und Kinder, die jetzt angesichts des Besuch, den Vati da mit nach Hause brachte, in ein aufgeregtes Geschmatze und Gegrunze ausbrachen, das aber eher erfreut als ärgerlich klang. Über dem Feuer bruzelte an einem Spiess ein enttäuschend kleines Stück Fleisch, das eher von einer Ratte als einem Dinosaurier stammte. Ausserdem roch es in der Höhle etwas streng, was die Aussicht auf eine Mahlzeit zu einer etwas zwiespältigen Sache machte. Sancho dachte mit Wehmut an die siebengängigen Menus im Palast zurück, für die er jetzt ohne Zweifel den nötigen Appetit gehabt hätte. Don Quichotte hob, um seine freundliche Absicht zu bekunden und ein Beispiel für seine sanfte Gemütsart und edle Gesinnung zu geben, zu einer grossen Rede an: «Liebe Freundlinnen, liebe Freunde, seid gegrüsst! Wir sind von weit her zu euch gekommen, von sehr weit her, nämlich aus den Tiefen der Zeit, um euch als Engel der Zukunft eine Verheissung dessen zu sein, was einst zum modernen Menschen wird aus dem in einem dumpfen geistigen Schlaf verharrenden Material der Evolution, für das ihr euch vielleicht betrübt halten möget. Aber nein! Wisset! Der Mensch ist ein Seil, über den Abgrund gespannt...» Aber weiter kam Don Quichotte nicht.

Er wurde nämlich von mehreren der Urmenschen gepackt und zu Boden gerissen. Jetzt war die Mordgier, die sich auf dieser Stufe der menschlichen Entwicklung als simple Fresslust entpuppte, in den Augen der Halbaffen ganz deutlich. Obwohl Don Quichotte bestimmt keinen wohlschmeckenden Braten abgeben würde, war er in diesen mageren Zeiten immerhin besser als nichts. Und erst unser guter Freund Sancho! Zwar auch nicht mehr der Allerzarteste, aber immerhin war an dem ganz schön was dran. Sancho, der wandelnde Festtagsschmaus! Der allerdings schrie Zeter und Mordio. «Hört auf, ihr Kannibalen, ihr Monster, ihr Menschenfresser, ihr könnt mich gar nicht fressen! So jung und zart und frisch wie ich kann ein Braten gar nicht sein, da ich doch eigentlich noch gar nicht geboren bin! Weg da, weg mit den Dreckpfoten habe ich gesagt!»

Aber an dieser Logik musste etwas falsch sein, denn die Urmenschen hielten sich an das, was ihnen ihr Magen befahl. Und so war denn das Letzte, was Sancho hörte, das Geräusch brechender Knochen (und zwar seiner eigenen) und das zufriedene Mahlen von Kiefern, denen ein gütiger Gott für einmal doch ein saftiges Stück Fleisch zwischen die Zähne gezaubert hatte (der allerdings so zart auch wieder nicht war). Des einen Leid ist des anderen Freud, hätte wohl Sancho dazu gesagt, wenn er noch etwas hätte sagen können.

Mittwoch, 24. März 2010

Montag, 22. März 2010

Traurige Jäger (26)

Er stand auf, mitten in einem Chaos von spitzen Dingen, die ihm gleichsam in den Kopf stachen. Er wusste nicht, für welche der Identitäten, von denen er geträumt hatte und die alle ganz zweifellos zu ihm gehörten, er sich entscheiden sollte. Der Mensch braucht, tritt er in der Aussenwelt auf, eine einheitliche Form. Sonst ist er verrückt. Er stand auf, die spitzen Dinge drangen in seinen Kopf, er blieb in der Schwebe zwischen den möglichen Identitäten, die von verschiedenen Seiten mit der gleichen Kraft an seinem Schwerpunkt zerrten. Er konnte sich nicht entscheiden, das heisst, es ergab sich für einen vielleicht nur winzigen Moment nicht die richtige Eindeutigkeit, nicht das, was ihn sonst beim Erwachen in die Form presste, in irgendeine Form. Der Boden schwankte, er selbst schwankte, alles schwankte. Das dauerte aber, wie gesagt, nur einen Moment. Dann, mit einem Blick auf die vielen leeren Flaschen, die er durch den Schleier vor sich auf dem Boden sah, bahnte sich die Erinnerung einen Weg in sein Hirn: Ich war besoffen, dachte er sich, und nun verfestigte sich alles auf einen Schlag. Die spitzen Dinge in seinem Kopf waren die Krallen des Katers. Die leeren Flaschen auf dem Boden Weinflaschen, Schnapsflaschen. Die Dunkelheit Dunkelheit, Dunkelheit in einem ärmlichen Zimmer, unvollständige Dunkelheit: Ein schmaler Streifen war Licht, verursacht von der Sonne, die draussen schien, denn es war schon Tag. Ja, Tag, ein Blick auf die Uhr bewies es: Mittag sogar. Das pelzige Gefühl im Hals war Durst.

Durst: Das heisst, es gab etwas zu tun. Man musste Schritte machen, Muskeln bewegen. Eigentlich ging das ganz automatisch, trotz der Schmerzen in den Gliedern. Der Impuls liess ihn wie eine Puppe tanzen. Die kleine Kammer war voller Rotz und Dreck, aber es gab in ihr nichts zu trinken. Auch im Korridor, wo es kühler war als im Zimmer, lag Unrat, war zudem ein Summen und Brummen wie von einer Legion Insekten zu hören. Sancho wunderte sich nicht über das Geräusch und fragte sich nicht nach dessen Ursache, er war es offenbar gewohnt, das Geräusch zu hören, ausserdem hatten sich bei ihm, wie wir wissen, vor kurzem erst die spitzen Dinge in Kopfschmerzen verwandelt, der pelzige Ball, an dem er herumwürgte, in Durst. Er ging so schnell wie möglich und so langsam wie nötig die Treppenstufen hinunter, er wollte nicht stürzen, mit dem Schädel auf die Stufen knallen, liegen bleiben und verrecken. In diesem Haus, dachte er, warten die Ratten doch nur darauf, dass du hilflos am Boden liegst.

Auch er, Sancho, war eine Ratte. Eine weisse Ratte mit roten, entzündeten Augen.

Jetzt war er eine Strassenratte, der das grelle Mittagslicht um die Ohren geschlagen wurde, als müsste er weich geprügelt werden. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, das Licht war spitzer, als es die spitzesten Dinge im sanften Halbdunkel gewesen waren, war überspitz, überblendete für Momente den Durst. So stand er, die Hände im Gesicht, wurde von Hunden angebellt; es stank in der Strasse wie immer nach Benzin und Kot und Leichen, wie immer, wenn er auf die Strasse trat, musste er sich übergeben. Das tat gut. Jetzt konnte er die Augen wieder öffnen. Wie immer lagen Leichen im Dreck, erstochen, verfault, gedunsen.

Er schaute sie sich gewohnheitsmässig an, drehte sie auf den Bauch, wenn sie auf dem Rücken lagen, auf den Rücken, wenn sie auf dem Bauch lagen, vielleicht gab es bei ihnen etwas zu finden. Und es gab etwas zu finden, dies war sein Glückstag. Ein dicker Mann, den die Hunde noch fast unberührt gelassen hatten, dem aber ganze Heerscharen von Ameisen aus den Ohren, den Nasenlöchern und dem Mund entströmten, trug eine Pistole in der verkrampften Hand. Neben einem anderen Kadaver, der schon fast abgenagt war bis auf die Knochen, lag wie durch ein Wunder eine noch fast unangebrachte Packung mit Tabletten.

Don Quichotte steckte ganz automatisch die Pistole in die linke, die Tabletten in die rechte Tasche. Als er um die Ecke eines verfallenden Hauses in eine Hauptstrasse einbog, begegnete ihm das erste Mal auf diesem Gang lebende Menschen: einige Ratten zuerst, dann zwei Schattenengel. Dir Ratten gehörten zu den wenigen Überlebenden der ehemaligen Menschenrasse: Sie hatten durch einen ungeheuerlichen Zufall die vierfache Katastrophe – die
Kriege, den Hunger, die Seuchen, die Zerstörung der «natürlichen Lebensgrundlagen» – überlebt. Wer oder was die Schattenengel waren, wusste Don Quichotte im Grunde nicht. Vielleicht waren es Abkömmlinge eines fremden, weit entfernten Planeten, Besucher aus dem All; vielleicht Mutanten, die sich aus dem untergehenden Menschengeschlecht entwickelt hatten – eine neue Art und Gattung von Lebewesen, genauso weit entfernt von diesem wie der «Homo sapiens» es vom Affen gewesen waren – Wesen vom Typus des «Übermenschen», wie ihn Friedrich Nietzsche, Philosoph eines lange vergangenen Jahrhunderts, in Visionen vorausgeahnt hatte. Schattenengel nannte Don Quichotte diese Wesen deshalb, weil sie von tiefschwarzer Hautfarbe waren; ansonsten aber hatte sie weder mit dem negroiden noch dem asiatischen Menschentypus etwas gemein. Diese Schattenengel hatten Gesichtszüge von im wahrsten Sinn des Wortes unbegreiflicher, un-menschlicher Schönheit, die man weder als jung noch als alt, weder als männlich noch als weiblich hätte beschreiben können. Ihre Bewegungen waren von einer solchen Grazie, dass selbst ein Nurejeff neben ihnen wie ein Tanzbär oder Gorilla gewirkt hätte. Auch schienen sie tatsächlich geschlechtslos zu sein oder vielmehr zweigeschlechtlich; Don Quichotte erinnerte sich vage an das Gleichnis aus der griechischen Philosophie von den Kugeln, die ein eifersüchtiger Gott entzweigeschnitten hatte – diese Wesen waren noch Kugeln, metaphorisch gesprochen. Sie waren ganz, männlich im Weiblichen, weiblich im Männlichen Yin im Yang und Yang im Yin. Die Schattenengel kümmerten sich in keinster Weise um die Ratten, behandelten sie wie Luft. Überhaupt strahlten ihre Augen so schwarz und entrückt (genauso genommen waren ihre Augen wie Seehundaugen, man wusste nie, ob sie einen anschauten oder nicht), als würden sie sich in ständiger Ekstase befinden. Was sie taten tagsüber oder nachts war nicht ersichtlich, es sah ganz so aus, als würden sie gar nichts Bestimmtes tun.

Sancho kümmerte sich, von seinem Durst getrieben, weder um Ratten noch Schattenengel. Da trat auch schon das «Café Universum» in sein Blickfeld. Er keuchte jetzt in der Hitze, vor seinem Mund stand Schaum. Er versuchte zu rennen, fiel hin. Lag da, vermochte nicht mehr aufzustehen. Sein herz schlug ihm schmerzhaft in den Hals. Auf seiner Brust hockte eine dicke fette Katze, die hiess Durst. Die wollte ihn zerquetschen. In seinem Kopf zog sich der Nebel rot zusammen und wurde zu einem kleinen heissen giftigen Punkt. Da erinnerte sich Sancho an den von Hunden geschändeten Kadaver, an die neben der Leiche liegende, noch fast unangebrauchte Packung Tabletten. Der bewegte seine Hand langsam zur Taschen hin, riss mit zwei Fingern unendlich mühsam die Packung auf und hatte nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, endlich eine Tablette im Mund.

Aber nun konnte er nicht schlucken. Sein Mund war trocken, wie von Papier ausgekleidet. Da rutschte seine Aufmerksamkeit in einem überwältigenden Moment der Erschöpfung den Körper hinunter in die Gegend der Lenden, wo er einen Druck spürte. Er musste pissen, und in diesem Moment liess er das Wasser auch schon fahren. Seine Finger berührten fast zärtlich das Nass, als wären sie am Verdursten. Er führte die feuchten Finger zum Mund; und jetzt konnte er auch die Tablette schlucken.

Wenige Sekunden später spürte er Kraft von der Gegend des Sonnengeflechts aus den ganzen Körper durchströmen. Ein unendliches Wohlbefinden löste seine Glieder, liess ihn aufstehen und die paar Schritte zum «Café Universum» tun. Das Café hatte riesige Dimensionen und ehemals vielleicht als Parlamentssaal oder Fabrikhalle für die Montage von Gleitern der «Moon and Mars-Company» gedient. Es war angenehm kühl hier in der Mitte der Welt, Sanchon inzwischen in Hochform. Er hatte zwar noch immer Durst, aber dieser Durst existierte gewissermassen nur noch am Rande seines Bewusstseins. Er bewegte sich wie ein Prinz im Farbenspiel der Lasershow. Oder vielleicht doch eher wie eine Prinzessin, oder eine Prinzessinnen-Mutter, mit ausladendem Sonnenhut im geblümten Kleid? Dieser Gedanke, der ihm von irgendwoher zugeflogen war, brachte ihn zum Lachen. Wie dem auch sei: Der Prinz bewegte sich auf die Bar zu, die von einer Traube von Albinoratten mit Sonnenbrillen vor den wahrscheinlich roten Augen umlagert war. Man machte der königlichen Hoheit Platz, man spürte, dass ihr Wille jetzt unbeugbar war, chemisch gepanzert, gefüllt, satt. Straff wie ehemals ein junger Leutnant in Galauniform vor seinem Kaiser. Stählern wie ein riefenstahlscher Athlet in einer Sportarena der Dreissigerjahre. Prinz Sancho von Pansa bestellte sich ein riesengrosses Glas. Er trank wie ein Mann nach Wüstenfahrt. Ahhhhhhhh! Die Prinzessinnen-Mutter dehnte sich aus, schneller, als ihr Verstand es fassen konnte, wurde unendlich, grenzenlos, alles durchdringend. Ein Fluss ohne Ufer. Griff in die Tasche, nahm eine weitere Tablette. Es hatte noch paradiesisch viele Tabletten in der Packung, es reichte für eine Ewigkeit. Das Leben war ein Schlaraffenland: Sancho trank Nektar, den Trank der Götter, aus grossen Gläsern, spülte Ambrosia (Marque déposée) hinunter ins Uferlose des riesigen Magens, in den sich alles verwandelt hatte.

Aber mit der Zeit (Zucken der Lichter, Wirbeln der Töne) genügte Don Quichotte das nicht mehr. Von seiner augenblicklichen Fallhöhe aus konnte Sancho genau erkennen, dass der rattenhaft mit der Möglichkeit der Stillung sich steigernde Durst auf diese Art nicht mehr zu befriedigen war. Don Quichotte schaute sich um. Sein Blick fiel auf einen Schattenengel, der sich wie ganz zufällig in das postmoderne Café mit den riesigen Ausmassen verirrt hatte und abwesend und entrückt einfach dastand, und nun wusste Sancho, worauf sein Hunger und sein Durst aus waren. Er nahm eine weitere Pille, trank ein neues Glas. Don Quichotte versuchte, den Blick des Schattenengels zu fassen kraft seines unbeugsamen Willens. Aber die seehundhaft schwarzen Augen des Schattenengels gaben keinerlei Antwort. Sanchos Gier wurde zur Wut.

Er schob sich an den Schattenengel heran. Dieser nahm noch immer keine Notiz von ihm. In Sanchos Kopf tönten die Textzeilen des Songs «My Passion»:

Obey me, seduce me, please me
Now touch me, adore me and serve me
I'll
harvest without
sorrow
Obey me, seduce me, please me
Now touch me, adore me and serve me

Trust me,
I'll be your guide

Die Pistole, die er erbeutet hatte, lag plötzlich glatt und schwarz in seiner Hand. Dann gab es einen trockenen Knall. Der Schattenengel fiel um, nicht wie ein sterbender Mensch, sondern wie ein Ding, das zu Boden gestossen wird.

In Don Quichotte wurde es für einen Moment der Erkenntnis ganz still. Er sah das schwarze Blut, das träge und dickflüssig wie Marmelade aus dem Schattenengel floss. Sanchos Finger, der sich hinabtasten wollte, um zu kosten, war wie steif gefroren. Eine grosse Kälte wie aus den Tiefen des Alls, schien es ihm, strömte bei diesem Impuls durch den Finger bis ans Herz. Sancho hatte Angst, eine noch viel tiefere Angst, als er sie vorher, verdurstend auf dem stinkenden Boden liegend, empfunden hatte.

Er flüchtete in Panik aus dem Café «Universum». Er fürchtete nicht, dass ihn jemand verfolgen könnte; er fürchtete, sie könnten ihn nicht verfolgen. Und es verfolgte ihn auch tatsächlich niemand. Es gab keine Polizei mehr und keine Strafverfolgung und kein Rechtssystem. Es galt das Gesetz des «Jeder gegen Jeden», es galt das Recht des Stärkeren. Niemand verfolgte ihn, und niemand wartete auf ihn, und allen war alles egal.

Donnerstag, 18. März 2010

Another Brick in The Wall (2)

«Ich war nie sehr wählerisch bei dem, was ich tat. Ich war mit allem einverstanden, hielt meine Termine ein, beklagte mich nie, schrieb lesbar. Kurzum, ich war ein gewissenhafter Mensch. Wo andere Kollegen schluderten, leistete ich manierliche Arbeit. Ich verzog nie eine Miene, auch nicht, wenn das Honorar niedrig war. Wenn nachts um halb drei ein Anruf kam, ob ich bis sechs Uhr morgens zwanzig Seiten (zum Thema Vorteile analoger Uhren oder Der Charme von Frauen in den Vierzigern oder Die Schönheit von Helsiniki, wo ich natürlich noch nie gewesen war) abliefern könne, war ich schon um halb sechs fertig. Und wenn sie mich um eine Überarbeitung baten, hatte ich das bis sechs Uhr erledigt. Kein Wunder, dass ich einen guten Ruf hatte.
Es war wie Schneeschaufeln.
Wenn es schneite, leistete ich hocheffiziente Räumarbeit.
Ohne ein Fünkchen Ehrgeiz, ohne die geringste Erwartung. Es ging mir lediglich darum, Dinge systematisch zu erledigen, eins nach dem anderen. Manchmal fragte ich mich natürlich, ob ich mein Leben nicht verplemperte. Aber abgesehen davon, so lautete mein Fazit, hatte ich kein Recht, mich darüber aufzuregen, dass Papier und Tinte verschwendet wurde. Wir leben schliesslich in einer hochkapitalistischen Gesellschaft. Verschwendung gilt hier als höchste Tugend. Politiker nennen es «Verfeinerung des einheimischen Konsums». Ich hingegen nenne es sinnlose Verschwendung. Die Auffassungen unterscheiden sich eben. Doch trotz dieser Differenzen ist es nun einmal die Gesellschaft, in der wir leben. Wenn mir das nicht passt, kann ich ja auswandern, nach Bangladesch oder in den Sudan.
Ich brannte nicht darauf, in Bangladesch oder im Sudan zu leben.
Also erledigte ich stillschweigend meine Arbeit.»

Haruki Murakami, in: Tanz mit dem Schafsmann.

Mittwoch, 17. März 2010

Venezianische Freundschaft



«Darin ist das ganze Phänomen seiner grossen, wenn auch labilen Schönheit enthalten, die Tatsache, dass er einen halböffentlichen Körper besitzt – man wird von seinem Körper angesprochen. Mit seiner Zielstrebigkeit, mit jener Willensstärke, die seinen Handlungen eingraviert ist, und mit seiner Autorität als exhibitionistische Gestalt repräsentiert er wahrlich den Glanz der Welt. Hier glimmt das Schicksal auf, eine gewaltige, im Dunkeln lauernde Macht, und man nimmt wahr, wie prachtvoll und skandalös es ist, am Leben zu sein.»

aus: Harold Brodkey: Profane Freundschaft. Rowohlt Verlag

Kaum eine Stadt ist Gegenstand so vieler Romane wie Venedig. Beliebt ist die Stadt vor allem bei amerikanischen Autoren, man denke nur an Patricia Highsmith (Venedig kann sehr kalt sein) oder Donna Leon (Brunetti-Kriminalromane). Aber natürlich zehren auch deutsche Dichter vom Fluidum dieser Stadt (Thomas Mann, Franz Werfel).

Montag, 15. März 2010

Traurige Jäger (25)

Am andern Morgen schmerzte zwar der Kopf und der Geschmack im Mund war eklig, aber seine Erregung hatte sich ein wenig gelegt. Der gesunde Menschenverstand hatte wieder die Oberhand gewonnen. Gewissermassen über Nacht war in ihm zudem der Entschluss gereift, baldest möglich abzureisen, nicht erst in zwei Wochen, sondern schon morgen oder übermorgen. Die Aussagen des komischen farbigen Arztes konnten doch einfach nicht stimmen. Diese ungeheuerliche Geschichte war lächerlich, abstrus, einem paranoiden Gehirn entsprungen. Er würde sich von einem Arzt untersuchen lassen, einem echten, medizinischen
Arzt, damit wäre alles geklärt und bewiesen, und er würde später eine Glosse über die angebliche Krankheit im Land der Gesundheit schreiben. Andererseits erinnerte sich Sancho noch immer voller Widerwillen an gewisse Dinge, zu denen er sich in Misericordia hatte hinreissen lassen und die ihm, wenn er daran dachte, die blutrote Scham in die Wangen trieben.

Zum Frühstück nahm Sancho nur schwarzen Kaffee und eine Kopfwehtablette. Dann erkundigte er sich bei einer Angestellten des Hotels, die natürlich mit Schwester anzureden war und auch wie eine echte Krankenschwester aussah, nach einem Arzt, einem Doktor der Medizin; er fühle sich nicht ganz wohl. Was er denn habe, fragte die Schwester, ein Drache, wie er im Buch stand, eine impertinente Person, die einem kopfwehgeplagten Menschen den Rest geben konnte. Ob denn nicht sie helfen könne; er, Sancho, wisse es vielleicht nicht, aber alle Frauen in Misericordia seien in der Behandlung leichterer Unpässlichkeiten bestens geschult. Es handle sich um eine intime Unpässlichkeit, und auch um mehr als eine Unpässlichkeit, log er, eine gewissermassen psychosomatische, die unmöglich mit einer Frau verhandeln könne und wolle. Die Schwester schaute ihn tadelnd und mit wenig Sympathie in den Augen an. Sie werde sehen, was sich tun lasse, meinte sie, und verschwand, um zu telefonieren. Es dauerte eine ganze Weile. Warum muss die jetzt auch so lange telefonieren, dachte Sancho nervös. Sancho hätte jetzt gern ein Bier gehabt, nur ein kleines, gegen die Nervosität und den Kater. Als der Drachen endlich vom Telefonieren zurückkam, sagte sie mit einem Mund, als hätte sie soeben etwas Bitteres gegessen: «Gut, man ist bereit, Sie kurzfristig zu einer Konsultation zu empfangen. Weil Sie ein Gast unseres Landes sind. In zwei Stunden können Sie bei Professor Doktor Ochsenknecht vorsprechen. Er ist ein berühmter Venerologe. Ein Forscher. Er empfängt sonst keine Patienten», fühlte sie sich bemüssigt, in strengem Ton hinzu zu fügen.

Dr. Ochsenknecht war ein kräftiger Mann wie ein Stier, mit breiten Schultern und für eine Kapazität erstaunlich jung. Er hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug enge weisse Lederhosen, die seinen Schritt auffällig betonten. Als Sancho zu sprechen anfangen wollte, hiess der Doktor ihn mit einer gebieterischen Geste zu schweigen. Noch während er von dem schweigsamen Arzt auf das Gründlichste untersucht wurde, wusste Sancho, dass er diese Untersuchung ebenso gut hätte bleiben lassen können. Es gab nichts auf der Welt, das ihm seinen Seelenfrieden hätte zurück bringen können. Die Frage, ob er krank war oder nicht, schien auf dieser Ebene plötzlich absurd.

«Sie sind vollkommen gesund», waren die ersten Worte des Arztes, «so gesund, wie man sein kann bei dem Lebenswandel, den Sie führen. Aber das wissen Sie wohl selbst. Es gibt bei uns in Misericordia wirklich keine unheilbaren Krankheiten mehr. Misericordia ist zwar noch nicht das Paradies auf Erden, aber in diesem Punkt sind wir dem Paradies immerhin ein gutes Stück näher gerückt. Krankheiten sind Schnee von gestern. Wir beschäftigen uns längst mit anderem: mit der physischen Unsterblichkeit, der ewigen Jugend, der endgültigen Beseitigung von Angst, Schmerz und Unlust. Das ist alles eine Frage der Hirnchemie. Alle Probleme und Spannungen fallen von Ihnen ab. Sie fühlen sich leicht und frei. Alles ist gut.»

Nach der Konsultation eilte Sancho sofort in den Keller, denn wenn er sich jetzt auch ganz leicht und frei fühlte und alles gut war, so brauchte er jetzt doch immer noch ein kleines oder mittleres Bier gegen die Nervosität und den Kater. Auch hegte er die wahnwitzige Hoffnung, noch einmal auf seinen gestrigen Gesprächspartner zu stossen. Aber es war überhaupt niemand in dem Lokal, ausser natürlich dem lakonischen Barkeeper. Das enttäuschte Sancho auf übertriebene Weise, wie er selber fand; er fühlte sich wie ein Kind, dem man seine Weihnachtsüberraschung vorenthält. Diese Enttäuschung und Verlorenheit liess sich auch mit ein paar Bieren nicht wegspülen. Er versuchte, sich an dem tröstlichen Gedanken empor zu ranken und aufzurichten, dass er dann Misericordia morgen schon weit hinter sich gelassen haben, mit seinen Freunden in der «Merkur»-Bar sitzen und auf das Ganze wie auf einen absurden Alptraum zurück blicken werde. Aber gleichzeitig schien es ihm, als ob das unmöglich, Misericordia auch anderswo und überall sei. So, wie auch Don Quichotte überall war, in jeder Welt, in die sich Sancho verirrte. Überhaupt, Don Quichotte! Sancho begann, seinen hageren Freund zu verstehen. Don Quichotte hatte Heimweh nach Toboso, seinem Planeten. Auch er, Sancho, hatte Heimweh, nur war dieses nicht benennbar, weil er sein heiliges Land noch gar nicht kannte und es dieses vielleicht noch nicht einmal gab. Also war dieses Heimweh vielleicht doch eher ein Fernweh, gegen das es einmal mehr anzutrinken galt.

Sonntag, 7. März 2010

Vorsatz

Einen Roman (oder eine Erzählung) schreiben mit dem Titel «Desaster. Auf der Kriechspur des Lebens».

Samstag, 6. März 2010

Traurige Jäger (24)

Nach getaner Arbeit betrat Sancho erneut einen der Keller, die behördlicherseits ignoriert wurden, aber es war nicht Claudes Keller, vielleicht gab es Claudes verruchten Keller wirklich nicht und hatte ihn nie gegeben, vielleicht hatte er, Sancho Pansa, Journalist mit Embonpoint, Halluzinationen gehabt, was wusste man schon in diesem verfluchten Land der chemischen Substanzen, ein Getränk, eine Speise konnten vergiftet sein, es galt auf jeden Fall aufzupassen. Trotzdem trank er, Sancho Pansa, leidenschaftlicher Porschefahrer, in langsamen Schlucken das Bier, das vor ihm stand. Sancho war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht merkte, wie sich jemand neben ihn setzte. «Darf ich Sie etwas fragen?» fragte dieser Jemand zu Sancho herüber. Es war ein etwa fünfundvierzigjähriger, grosser und dicker Mann mit grauen Strähnen im Haar und auch in dem sehr gepflegten Schnurrbart. «Schon passiert», sagte Sancho mit einer vagen Handbewegung. Der Mann war sorgfältig, aber nicht geschmackvoll gekleidet, in Farben, die Sanchos Meinung nach nicht zueinender passten. Das Hemd zum Beispiel war zu pink, die Krawatte zu hellblau, mit zu gelben Punkten getüpfelt, er trug, wie das in diesen Kellern üblich war, nicht das offizielle Weiss, wein Anzug war in einem zarten Hellgrün gehalten. Ein Papagei, dachte Sancho, ein Paradiesvogel. Viele, auch nicht zu einander passende Farben zu tragen entsprach wohl in Misericordia einem kompensatorischen Bedürfnis. «Sie sind, wie ich gehört habe, ein ausländischer Journalist?» fragte der Mann in höflichem Tonfall. «Woher wissen Sie das?» Sancho war etwas alarmiert. «Ach», sagte der Mann obenhin, «von irgendwoher. Gerüchte. Klatsch. Ich weiss es nicht mehr, ehrlich. Da einer wie Sie in Misericordia Seltenheitswert hat, sind Sie natürlich eine Sensation. Und in gewisser Hinsicht ist Misericordia City ein grosses Dorf. Man sieht Ihnen den Ausländer übrigens von weitem an», meinte der farbige Herr schelmisch und drohte scherzhaft mit dem Finger. «Wieso?» fragte Sancho perplex. «Nun, Sie wirken ein bisschen… verwildert. Schön verwildert. Frei.» Sancho winkte ab. «Bei uns ist auch nicht alles Gold, was glänzt», meinte er grosszügig, «Mensch bleibt schliesslich Mensch – bei allen ethnischen, kulturellen und politischen Unterschieden.» Immer beim Bier hatte Sancho den Hang zu banalen Redensarten. «Der Mensch ist des Menschen Wolf – auch wenn gleichzeitig alle Menschen Brüder sind. Und Schwestern», fügte er ziemlich zusammenhangslos bei. Sancho lachte. «Was wollten Sie mich also fragen?» – «Sie haben natürlich auch bemerkt, mein Verehrter, dass wir Misericordianer, bildlich gesprochen, in zwei verschiedenen Stiefeln herumlaufen. Herumhinken. Herumtorkeln. Dass auch wir zwei Seelen…» – «Sicher habe ich gewisse Widersprüche zwischen Theorie und Praxis wahrgenommen. Ist ja logisch. Solche Widersprüche gibt es überall. Vielleicht sind sie anderswo nicht ganz so krass wie bei euch. Nehmen wir nur mal diese Kneipe…» – «Und?» unterbrach ihn der farblich nicht zueinender passende Herr. «Werden Sie über diese Widersprüche in Ihrer Zeitung berichten?» – «Aber klar doch, aber sicher, schliesslich bin ich Journalist und kein PR-Heini! Ich werde das ganze ein bisschen humoristisch-satirisch verpacken und im Rahmen des Schicklichen… Hören Sie, was wollen Sie eigentlich? Ich bin hier Gast und… Das journalistische Gewissen hat ein grosses Herz, wenn Sie mir dieses schiefe Bild erlauben. Widersprüche gibt es, wie gesagt, überall, und die Leser unserer Medien wollen sowohl printmässig wie auch online in allererster Linie unterhalten werden.» Sancho wusste gar nicht, was ihn dazu brachte, so viel zu reden. Vielleicht doch eine Droge? «Ich weiss», seufzte der farbige Herr, «es geht um das, worum es immer geht: Um Reklame, Absatz, Umsatz, Geld…Werden Sie dafür, dass Sie diplomatisch bleiben, auch entsprechend bezahlt?» Der Herr fragte das im gleichen, sachlich-höflichen Tonfall. «Also bitte, erlauben Sie mal!» protestierte Sancho mit rotem Kopf. «Nein, ich werde natürlich nicht dafür bezahlt, dass ich diplomatisch bleibe. Ich werde natürlich von meinem Arbeitgeber bezahlt, und der wiederum wird von den Inserenten bezahlt, aber die Redaktion ist natürlich strikt unabhängig.» – «Warum schweigen Sie dann zu dem Skandal, der sich in Misericordia nicht ereignet, sondern der Misericordia ist!» – «Ich schweige ja gar nicht. Ich werde, wie gesagt, im Rahmen meiner Möglichkeiten und so objektiv wie möglich… Ich weiss ja gar nicht, worüber ich schweigen sollte, falls ich darüber schweigen möchte! Ach, das ist alles zu kompliziert. Ich kriege regelmässig Kopfschmerzen, wenn ich über Misericordia nachdenke. Gewiss, Misericordia ist ein seltsames Land, ein Land mit für mich exotischen Sitten. Aber so seltsam und exotisch denn auch wieder mich. Manches hier ist mir nur allzu vertraut. Einiges glaube ich zu verstehen, anderes lässt mich völlig ratlos, kann ich in keinster Weise in mein Weltbild platzieren. Ich begreife zum Beispiel nicht, was mit mir ganz persönlich vorgeht, seit ich in Misericordia bin. Ich glaube, dieses Land spielt ein Verwirrspiel mit mir. Deshalb bin ich lieber ein bisschen vorsichtig. Ich halte nichts von jenen Haudrauf-Journalisten, die meinen, partout die Helden spielen zu müssen. Kriegsberichterstatter, Frontschweine – das sind doch alles Desperados und Spinner. Ich tue meinen Job, das ist alles. – Wer garantiert mir eigentlich, dass Sie nicht auch zu jener ominösen Gegenseite gehören, die es in einem paranoiden Land wie Misericordia einfach geben muss? Vielleicht gehören Sie ja zu den Hals-, Nasen-, Augen- und vor allem Ohrenärzten! Wer garantiert mir, dass Sie überhaupt wirklich sind – was immer das heissen mag – und nicht ein Trugbild, ein Phantom, chemisch erzeugt in meinem Hirn? Gott, es ist wirklich nicht leicht, unter solchen Voraussetzungen Journalist zu sein.» – «Da haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen», antwortete der bunte Hund von einem Herrn betrübt, «die Wirklichkeit von wem oder was auch immer kann Ihnen niemand garantieren. Umgekehrt gilt natürlich auch. Wir befinden uns in einer Erkenntnisfalle. Also müssen wir von der Hypothese ausgehen, dass wir uns beide zumindest auf der gleichen fiktiven Ebene befinden, sollte es uns denn etwas an handfester Realität mangeln. Denn wie können Sie mich halluzinieren, während ich gleichzeitig Sie halluziniere? Das wäre ein eigenartiger Zufall. Aber zugegeben – ausgeschlossen ist es nicht. – Ich muss Ihnen übrigens einen Gruss ausrichten. Vom schönen Claude.» Der Herr schaute ernst. «Das heisst, so schön ist er nicht mehr, der schöne Claude.» «Von Claude?» Sancho war erstaunt, ja erschrocken. «Ja, ist denn Claude…?» – «Er wurde interniert. Ins Hospital verfrachtet. Traurig, aber wahr. Andererseits aber auch nicht allzu verwunderlich. Claude hatte schon immer eine besondere Begabung, mit dem DmG in Konflikt zu geraten. Ausserdem ist es nämlich ganz und gar nicht so, dass es in Misericordia keine Krankheiten mehr gibt. Gewiss, es wurde die eine oder andere Krankheit überwunden, dafür tauchte umgehend eine neue auf. Diese Mär von der ausserordentlichen Gesundheit der Misericordianer ist eine reine Propaganda lüge, gut für die Pharmaindustrie und ihre Exporte. Aber das wissen Sie ja. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass seit einiger Zeit eine mysteriöse Krankheit in Misericordia grassiert (und, soviel wir wissen, grassiert sie vorläufig nur in Misericordia, Folge der Abschottung des Landes), die konsequent tödlich ist und gegen die man bis vor Kurzem weder ein Heilmittel noch einen Impfstoff kannte. Wäre das offiziell bekannt geworden, hätte es bestimmt unangenehme Folgen für die Glaubwürdigkeit des Systems und das internationale Ansehen dieses Landes gehabt, und es wäre sehr schlecht für die Exportquote unserer Pharmaindustrie gewesen. Jetzt scheint diese Industrie vor einem entscheidenden Durchbruch zu stehen, wie gemunkelt wird. Man rechnet also damit in Kürze ein Heilmittel und vor allem einen entsprechenden Impfstoff zu finden. Es handelt sich bei der Krankheit, von der hier diem Rede ist, übrigens um eine Virusinfektion. Die hauptsächlich durch Geschlechtsverkehr übertragen wird. Wann haben Sie eigentlich vor, Misericordia wieder zu verlassen?» – «In etwa zwei Wochen läuft meine Aufenthaltsbewilligung aus.» – «Dann nehmen Sie sich in Acht, mein Herr», sagte der Herr uns schwieg.

Auch Sancho schwieg. Er erinnerte sich an seine Ankunft in Misericordia, an seine Verhaftung danach, an die traumatische Fahrt im roten Porsche, während der er, nachdem er gewissermassen durch ein Wurmloch geschlüpft war, eine Begegnung mit sich selbst hatte, an den Oberchefarzt, der so sehr Don Quichotte glich, an die äusserst verwirrende Begegnung mit Claude, einem fast androgynen Wesen, das weder Mann noch Frau oder vielmehr sowohl Mann als auch Frau war, oder vielleicht auch ein Engel (oder ein Schattenengel oder ein Engelsschatten), so anziehend und die Sinnlichkeit Sanchos erregend, dass er einen Pflaumensturz um den anderen erlitten hatte, an seine Kontakte als Journalist mit dem «offiziellen» Misericordia… Das Unbehagen in seinem Baum verdickte sich zu einem schweren Klumpen.

«Sie meinen…» fing er an, wagte aber nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Stattdessen sagte er: «Darf ich Sie zu einem Bier einladen?» – «Aber bitte!» meinte der blassrosa-hellblaugrüne Mann gönnerhaft, «ein Schlückchen Champagner, auch Chlöpfmost oder Nuttendiesel genannt, wäre mir allerdings lieber. Bier macht dick. Und ich bin schon dick genug. Sehen Sie denn nicht, wo das alles hinaus läuft, lieber, guter, bester und ebenfalls eher vollschlanker Freund? Man kennt Sie doch hier in Misericordia! Sie sind ein offenes Buch: Sie sind der goldrichtige Mann. Das Departement für moralische Gesundheit mit seinen hartgeschliffenen Fundamentalisten, diesen Taliban, die, was den Zustand der Moral im ausländischen Teil der Weltbevölkerung betrifft, immer noch eine missionarische Hoffnung in sich tragen, empfiehlt Sie wärmstens dem Departement für Pharmazie. Man ködert Sie, und es braucht nicht viel, um Sie in eine Falle zu locken. Sie sind Journalist; aber das ist unwichtig, so lange Sie nichts wissen. Sie ahnen nichts davon, dass Sie angesteckt sind; ebenso wenig, dass uns wie sehr Sie ansteckend sind, denn die Krankheit bricht erst mehrere Jahre nach der Ansteckung aus. Und mit jedem Geschlechtsverkehr, den Sie als ein polygam veranlagter und mit einer gesunden sexuellen Neugier ausgestatteter Mensch vollziehen, potenziert sich die Zahl der Angesteckten und neuen Anstecker enorm und erhöhen sich damit die Marktchancen für unser in Kürze entwickeltes geniales Serum und Medikament. Da staunen Sie, was! So was nennt man aktives Marketing, mein Herr! Da müssen nur noch ein paar solche wandelnde Zeitbomben wie Sie in die grosse weite Welt entlassen werden, und schon steht unserer Pharmaindustrie ein Bombengeschäft ins Haus. Ausserdem ist diese Krankheit für unsere Regierung dann eine gewissermassen aussenpolitische Angelegenheit uns erst recht ein Grund, uns vornehm vom Rest der bösen Welt abzukapseln.» – «Aber das ist ja ungeheuerlich! Bestätigen Sie mir auf der Stelle, dass das alles nur zusammengesponnen und restlos erfunden ist!» Sancho war so schockiert, dass er sich gar nicht mehr erholen konnte. «Woher wollen Sie denn das alles überhaupt wissen?» – «Ich weiss es, weil ich das Geschäft und die Menschen kenne. Ich arbeite selbst im DmG, als Arzt zweiten Grades. Natürlich, die Geschichte um diese Krankheit kann sich auch ganz anders abspielen, aber das heisst nicht auf eine weniger schockierende Art. Ich muss jetzt gehen. War mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Und denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe. Seien Sie vorsichtig – wenn Sie das können und wollen. Und nun adieu.»

Der Mann war verschwunden. So etwas durfte doch einfach nicht wahr sein! So etwas gab es nicht einmal in den absurdesten Alpträumen. Nein, es war unmöglich, dieser farbige Heini ein Wichtigtuer und Scharlatan. Plötzlich schreckte er auf, eilte zur Tür. Aber der so genannte Arzt hatte sich in seiner ganzen farblich nicht zusammen passenden Pracht bereits in Luft aufgelöst. Frechheit. Zum Teufel mit diesem ganzen Scheiss-Misericordia. In erregtem Ton fragte er den Kellner: «Kennen Sie den Herrn, der soeben gegangen ist? Können Sie mir sagen, wer das ist? Es ist wichtig!» – Aber der Kellner schüttelte nur den Kopf. «Welcher Herr? Ich habe keinen Herrn gesehen. Sie müssen sich täuschen», sagte er abweisend. Sancho blieb nichts anderes übrig, als durch die inzwischen menschenleeren Strassen, die gewisse nebelhafte Erinnerungen an sehr unangenehme Gefühle (und an voll geschissene Hosen) in ihm weckten, zu seinem Hotel zurück zu kehren, da eine starke Schlaftablette, von denen es in jedem misericordianischen Schlaf- und Hotelzimmer grosse Mengen gab, zu sich zu nehmen und dann die Reserveflasche, die Notfallfalsche mit der brennenden Flüssigkeit in langen tiefen Schlucken leer zu trinken und dann diesen höchst unerfreulichen Tag schleunigst zu vergessen.

Mittwoch, 3. März 2010

Another Brick In The Wall

"Wir leben in einer Zeit, in welcher der Glaube an die unbegrenzte Problemlösungsfähigkeit von Märkten der politischen Auseinandersetzung ihren Stempel aufdrückt und jede Diskussion wirtschaftspolitischer Alternativen müssig erscheinen lässt. Aber ist nicht die Idee des reinen Markts selbst eine Utopie, «hintergründiger und moderner, amoralischer und grenzenloser als jede bisherige Utopie», wie Helmut Willke schreibt? Wie ältere Utopien zeichnet sich übrigens auch diese durch die Geringschätzung der Individualität aus. Der Markt braucht, so Willke, Individuen wie das Haus Backsteine. Er schliesst sie ein in eine Form, der sie so wenig entrinnen können wie der Backstein der Mauer. Dass die Moderne im Sinne der kapitalistischen Globalisierung den Individualismus fördere, ist in Willkes Urteil lediglich ein Wunschdenken der Apologeten der Postmoderne.»



Urs Marti, Titularprofessor für Politwissenschaft an der Uni Zürich, in: Zoon Politikon (Zeitschrift von Studierenden der Politikwissenschaft der Universität Zürich) Februar 2010 zum Thema "Utopie". Das Heft kann bezogen werden unter infos@zoon-politikon.ch oder über den Buchhandel.