Dienstag, 15. Dezember 2009

Traurige Jäger (21)



Ihn wunderte nicht, dass die Zollbeamten wie Ärzte gekleidet waren; er wusste, dass im Staate Misericordia die Repräsentanten des Gesundheitswesens – ein Clan von Ärzten, Psychotherapeuten, Krankenschwestern, Sozialarbeitern – die Macht in ihrer Hand hatten. Natürlich waren auch die Zollbeamten in Misericordia Zollbeamte wie anderswo auch und keine Ärzte; trotzdem musste man als Besucher von Misericordia damit rechnen, dass man sich einer peinlich genauen Untersuchung seines Gesundheitszustands zu unterziehen hatte. Auch im weitesten Sinn als Kranke geltende Personen durften die Grenzen von Misericordia nicht passieren. Und wer ist schon nicht im weitesten Sinn krank?

Sancho Pansa, Journalist mit Embonpoint, gut gekleideter Porschefahrer, liess die umfangreichen Untersuchungen seines Körpers mit Gleichmut über sich ergehen, beantwortete willig alle Fragen, die man ihm stellte, um heraus zu finden, ob auch in seinem Kopf alles in Ordnung sei. «Nun, zumindest ist er kein Seuchenträger», murmelte der ranghöchste Zollbeamten-Arzt schliesslich, das Auto und sämtliche Habseligkeiten waren inzwischen auch desinfiziertem und Sancho konnte die Grenze passieren. «Helfen und Heilen!» las er auf unzähligen Plakaten und Flaggen, die links und rechts die Autobahn flankierten. Misericordia war der weltgrösste Produzent und Exporteur aller Arten von Pharmazeutika. Jetzt, dachte Sancho, brauche ich etwas zu trinken.

Er hielt an der ersten Raststätte. Natürlich konnte man sich in Misericordia nicht einfach etwas zu trinken bestellen; Alkoholausschank war offiziell nicht nur in Autobahnraststätten strengstens verboten. Der Fusel, den man zu übersetzten Preisen auf dem Schwarzmarkt angeboten bekam, schmeckt scheusslich und ruinierte nicht nur die Leber. Gott sei Dank hatte Sancho sein Reservefläschchen dabei, für das man sich an der Grenze seltsamer- und glücklicherweise überhaupt nicht interessiert hatte und dessen Inhalt er nun diskret in die Cola kippen konnte.

Sancho war einer der wenigen Journalisten, die die Grenzen Misericordias überschreiten durften, um eine Reportage über das «verbotene Land» zu schreiben. Sogar ein Interview mit dem ersten Misericordianer, dem Staatschef oder Oberstchefarzt, wie er hier genannt wurde, war ihm zugestanden worden. Ein wichtiger Job, der sich als Karrieresprung erweisen konnte. Sancho war mächtig stolz, dass die Chefredaktion ihn für diese Mission ausgewählt hatte.

Aber während Sancho so sass und an seiner mit Wodka versetzten Cola nippte und ein wenig stolz auf sich war, schlossen sich vier kräftige Hände um seine Arme und rissen ihn brutal zurück in die Wirklichkeit und Gegenwart. Zwei fast noch milchgesichtig junge Männer schauten ihn nicht böse, sondern fast traurig an. «Was soll denn das?!» fragte Sancho empört. «Lassen Sie mich unverzüglich los! Ich bin Journalist und beauftragt, eine Reportage über Ihr Land zu schreiben – ein Auftrag, der mich fast ein wenig stolz macht. Sie können sich sicher vorstellen, dass Ihr Benehmen keinen guten Eindruck hinterlässt.» Die Psychiatriepflegerburschen, die übrigens beide auffallend gut gebaut und hübsch waren, verzogen keine Miene in ihren Milch-und-Honig-Gesichtern. «Wir müssen Sie leider einer Blutprobe unterziehen. Sie stehen im Verdacht des illegalen Alkoholkonsums und damit der eigenwilligen Gefährdung Ihrer Gesundheit. Da in unserem Land Rechtsgleichheit herrscht, werden misericordianische Gesetze auch auf ausländische Journalisten, so selten sie bei uns auch zu finden sind, angewandt. Bitte folgen Sie uns widerstandslos. Wir wollen nur das Beste für Sie!»

Da wurde Sancho, was sonst nicht seine Art war, beinahe hysterisch. Die beiden hübschen Burschen lösten in ihm ein ihm völlig neues Gefühl der Panik aus. Er verlangte nacheinander nach einem Anwalt, nach einem Kontakt mit seiner Botschaft, zuletzt absurderweise gar nach einem Arzt. Die beiden Weisskittel redeten besänftigend auf ihn ein, während er aus der Raststätte gezerrt, geschleift und getragen wurde, verfrachteten ihn in ein Dienstfahrzeug, dessen Türen mit dem Wappen Misericordias («Helfen und Heilen») geschmückt waren. Verpassten ihm eine Spritze. Sogleich war er bereit, sich in alles, was da auf ihn zukommen sollte, heiteren Sinnes zu schicken. Die Wärter hatten ihren harten Griff gelockert. Die Hand des einen ruhte nun warm auf Sanchos Oberschenkel, während der andere den Arm beinahe freundschaftlich um seine Schultern gelegt hatte. Sanchos Kopf glühte, so sehr schämte er sich der Erregung, die machtvoll von ihm Besitz ergriffen hatte.

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