... mit welcher Sorgfalt da Gartenwege angelegt, mit welcher Emphase Balkone möbliert sind, mit welcher Entschiedenheit Strassen überquert, mit welcher Inbrunst Stühle vor Tische gerückt werden. Ganz leicht kommt mir die Stadt vor, ein Hauch, die Einwohner Luftbläschen, die mit tiefem Ernst Brötchen tragen und Grillwürstchen im Rauch wenden. Mit welcher Würde, mit welcher Ergebenheit jeder sich selber spielt, bis zum bitteren Ende. Was für ein wunderschönes Gärtchen wir anpflanzen mit Bäumchen und Stühlchen und Sonnenschirmchen. Was für herrliche Wohnblöckchen mit zierlichen Treppenhäuschen und Schornsteinchen obendrauf, was für saftiggrüne Hügelchen dazwischen, was für Rutschbähnchen, was für Bierfläschchen, was für Messerchen! Die einen spielen torkelnde Säuferchen, die anderen spielen kurzgeschorene Muskelmännchen, krawattentragende Prokuristchen. Mütterchen tauchen auf, einigen perlen Tränchen über die Wangen, die Chromstahlteilchen an den Krankenhausbettchen blitzen kostbar, und nicht einer, der sagt, ich verstehe mich nicht; nicht einer, der zu flattern beginnt; nicht einer, der übers Wasser entwischt. Alle bleiben und sind ganz ernst in ihrem Tun, ganz sicher in ihrem Glauben, dass dies eine Stadt sei, dass sie einzig dazu da seien, auf diese Art zu leben, Kinder zu kriegen, sich nach Balkonen zu sehnen. Eine heisse Welle von Glück über diese Sicherheit steigt in mir auf. Gleichzeitig steht die gnadenlose Sonne der Angst über mir, und ein umfasender Zweifel beginnt mich zu würgen, ob wir uns nicht vielleicht alle gegenseitig im falschen Leben halten, indem jeder die Ahnung, dass dies nicht das richtige ist, auf so tapfere Weise für sich bewahrt. Wir können gefoltert werden bis zum äussersten und würden trotzdem nicht preisgeben, dass wir nicht wissen, wer oder was wir sind, dass wir so sind, um keine Zeit und keine Gedanken darüber verlieren zu müssen, ob wir nicht vielleicht ganz anders sein könnten.
Matthias Zschokke, in: Ein neuer Nachbar. Ammann Verlag, 2002
Dienstag, 22. Dezember 2009
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