Samstag, 26. Dezember 2009

Mittwoch, 23. Dezember 2009

Wir befinden uns in einer Scheune im Nordosten unseres Landes,

in Amerika, im Hochsommer des Jahres, in dem der Präsident sich einem Amtsenthebungsgesuch gegenübersah, und bislang waren wir sowenig romanhaft wie die Kühe mythisch oder ausgestopft waren. Das Licht und die Hitze des Tages (dieser Segen), die gleichbleibende Geruhsamkeit des Lebens einer jeden Kuh, das dem Leben der anderen Kühe entsprach, der verliebte alte Mann, der die geschmeidigen Bewegungen dieser tüchtigen, energischen Frau verfolgte, die Verklärung, der er sich hingab, der Eindruck, als hätte er nie etwas Ergreifenderes erlebt, und auch mein eigenes bereitwilliges Warten, meine eigene Faszination angesichts der Vielfalt, der Variantionsbreite, der anarchischen Ungeregeltheit sexueller Verbindungen und angesichts des Gebots an Mensch und Vieh, an hochdifferenzierte ebenso wie an kaum differenzierte Lebensformen, zu leben und das Leben nicht bloss zu ertragen, sondern es zu l e b e n und seine sinnlose Bedeutsamkeit fortwährend hinzunehmen, weiterzugeben, zu füttern, zu melken und aus vollem Herzen als das Rätsel anzuerkennen, das es ist - all dies wurde von zehntausend winzigen Eindrücken als Teil der Wirklihkeit bestätigt. Die sinnliche Fülle, der Überfluss, die reichliche, überreichliche Vielfalt der Einzelheiten, die die Rhapsodie des Lebens ausmachen.
Philip Roth, in: Der menschliche Makel. Hanser 2002.

Dienstag, 22. Dezember 2009

Es rührt mich an...

... mit welcher Sorgfalt da Gartenwege angelegt, mit welcher Emphase Balkone möbliert sind, mit welcher Entschiedenheit Strassen überquert, mit welcher Inbrunst Stühle vor Tische gerückt werden. Ganz leicht kommt mir die Stadt vor, ein Hauch, die Einwohner Luftbläschen, die mit tiefem Ernst Brötchen tragen und Grillwürstchen im Rauch wenden. Mit welcher Würde, mit welcher Ergebenheit jeder sich selber spielt, bis zum bitteren Ende. Was für ein wunderschönes Gärtchen wir anpflanzen mit Bäumchen und Stühlchen und Sonnenschirmchen. Was für herrliche Wohnblöckchen mit zierlichen Treppenhäuschen und Schornsteinchen obendrauf, was für saftiggrüne Hügelchen dazwischen, was für Rutschbähnchen, was für Bierfläschchen, was für Messerchen! Die einen spielen torkelnde Säuferchen, die anderen spielen kurzgeschorene Muskelmännchen, krawattentragende Prokuristchen. Mütterchen tauchen auf, einigen perlen Tränchen über die Wangen, die Chromstahlteilchen an den Krankenhausbettchen blitzen kostbar, und nicht einer, der sagt, ich verstehe mich nicht; nicht einer, der zu flattern beginnt; nicht einer, der übers Wasser entwischt. Alle bleiben und sind ganz ernst in ihrem Tun, ganz sicher in ihrem Glauben, dass dies eine Stadt sei, dass sie einzig dazu da seien, auf diese Art zu leben, Kinder zu kriegen, sich nach Balkonen zu sehnen. Eine heisse Welle von Glück über diese Sicherheit steigt in mir auf. Gleichzeitig steht die gnadenlose Sonne der Angst über mir, und ein umfasender Zweifel beginnt mich zu würgen, ob wir uns nicht vielleicht alle gegenseitig im falschen Leben halten, indem jeder die Ahnung, dass dies nicht das richtige ist, auf so tapfere Weise für sich bewahrt. Wir können gefoltert werden bis zum äussersten und würden trotzdem nicht preisgeben, dass wir nicht wissen, wer oder was wir sind, dass wir so sind, um keine Zeit und keine Gedanken darüber verlieren zu müssen, ob wir nicht vielleicht ganz anders sein könnten.
Matthias Zschokke, in: Ein neuer Nachbar. Ammann Verlag, 2002

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Der Engel vom Hauptbahnhof



Letzthin unterhielt ich mich mit Fendi, meinem indonesischen Lebenspartner, über die alte Frau, die immer im Rollstuhl in der Hauptbahnhofshalle sitzt. Er hatte mit seinen Freunden gerätselt, was diese Frau wohl den ganzen Tag mache und warum sie da sei. Es gebe ihm jedes mal einen Stich ins Herz, wenn er sie so dasitzen sehe, weil sie ihn an seine Mutter erinnere. Zuerst hatten sie gedacht, sie sitze da, weil sie kein Geld habe, aber dann beobachteten sie, dass die Frau Geld energisch zurückwies und höchstens eine Blume oder einen Apfel als Geschenk akzeptierte. Einer kam dann auf die folgende Idee: Die Frau sitze da, weil sie als junge Frau ihren Geliebten verloren habe. Er habe sie verlassen und sei mit dem Zug weggefahren. Und nun sitze sie da und erwarte seine Rückkehr. Ist das nicht eine schöne, traurige Geschichte? Ich erklärte ihm dann, dass sie meines Wissens da sitze, weil sie sich von Gott höchst persönlich beauftragt fühle, die Ankommenden und die Abfahrenden zu beschützen und zu segnen, als Schutzengel gewissermassen – eine Interpretation, die ihm ebenfalls unmittelbar einleuchtete.

Dienstag, 15. Dezember 2009

Traurige Jäger (21)



Ihn wunderte nicht, dass die Zollbeamten wie Ärzte gekleidet waren; er wusste, dass im Staate Misericordia die Repräsentanten des Gesundheitswesens – ein Clan von Ärzten, Psychotherapeuten, Krankenschwestern, Sozialarbeitern – die Macht in ihrer Hand hatten. Natürlich waren auch die Zollbeamten in Misericordia Zollbeamte wie anderswo auch und keine Ärzte; trotzdem musste man als Besucher von Misericordia damit rechnen, dass man sich einer peinlich genauen Untersuchung seines Gesundheitszustands zu unterziehen hatte. Auch im weitesten Sinn als Kranke geltende Personen durften die Grenzen von Misericordia nicht passieren. Und wer ist schon nicht im weitesten Sinn krank?

Sancho Pansa, Journalist mit Embonpoint, gut gekleideter Porschefahrer, liess die umfangreichen Untersuchungen seines Körpers mit Gleichmut über sich ergehen, beantwortete willig alle Fragen, die man ihm stellte, um heraus zu finden, ob auch in seinem Kopf alles in Ordnung sei. «Nun, zumindest ist er kein Seuchenträger», murmelte der ranghöchste Zollbeamten-Arzt schliesslich, das Auto und sämtliche Habseligkeiten waren inzwischen auch desinfiziertem und Sancho konnte die Grenze passieren. «Helfen und Heilen!» las er auf unzähligen Plakaten und Flaggen, die links und rechts die Autobahn flankierten. Misericordia war der weltgrösste Produzent und Exporteur aller Arten von Pharmazeutika. Jetzt, dachte Sancho, brauche ich etwas zu trinken.

Er hielt an der ersten Raststätte. Natürlich konnte man sich in Misericordia nicht einfach etwas zu trinken bestellen; Alkoholausschank war offiziell nicht nur in Autobahnraststätten strengstens verboten. Der Fusel, den man zu übersetzten Preisen auf dem Schwarzmarkt angeboten bekam, schmeckt scheusslich und ruinierte nicht nur die Leber. Gott sei Dank hatte Sancho sein Reservefläschchen dabei, für das man sich an der Grenze seltsamer- und glücklicherweise überhaupt nicht interessiert hatte und dessen Inhalt er nun diskret in die Cola kippen konnte.

Sancho war einer der wenigen Journalisten, die die Grenzen Misericordias überschreiten durften, um eine Reportage über das «verbotene Land» zu schreiben. Sogar ein Interview mit dem ersten Misericordianer, dem Staatschef oder Oberstchefarzt, wie er hier genannt wurde, war ihm zugestanden worden. Ein wichtiger Job, der sich als Karrieresprung erweisen konnte. Sancho war mächtig stolz, dass die Chefredaktion ihn für diese Mission ausgewählt hatte.

Aber während Sancho so sass und an seiner mit Wodka versetzten Cola nippte und ein wenig stolz auf sich war, schlossen sich vier kräftige Hände um seine Arme und rissen ihn brutal zurück in die Wirklichkeit und Gegenwart. Zwei fast noch milchgesichtig junge Männer schauten ihn nicht böse, sondern fast traurig an. «Was soll denn das?!» fragte Sancho empört. «Lassen Sie mich unverzüglich los! Ich bin Journalist und beauftragt, eine Reportage über Ihr Land zu schreiben – ein Auftrag, der mich fast ein wenig stolz macht. Sie können sich sicher vorstellen, dass Ihr Benehmen keinen guten Eindruck hinterlässt.» Die Psychiatriepflegerburschen, die übrigens beide auffallend gut gebaut und hübsch waren, verzogen keine Miene in ihren Milch-und-Honig-Gesichtern. «Wir müssen Sie leider einer Blutprobe unterziehen. Sie stehen im Verdacht des illegalen Alkoholkonsums und damit der eigenwilligen Gefährdung Ihrer Gesundheit. Da in unserem Land Rechtsgleichheit herrscht, werden misericordianische Gesetze auch auf ausländische Journalisten, so selten sie bei uns auch zu finden sind, angewandt. Bitte folgen Sie uns widerstandslos. Wir wollen nur das Beste für Sie!»

Da wurde Sancho, was sonst nicht seine Art war, beinahe hysterisch. Die beiden hübschen Burschen lösten in ihm ein ihm völlig neues Gefühl der Panik aus. Er verlangte nacheinander nach einem Anwalt, nach einem Kontakt mit seiner Botschaft, zuletzt absurderweise gar nach einem Arzt. Die beiden Weisskittel redeten besänftigend auf ihn ein, während er aus der Raststätte gezerrt, geschleift und getragen wurde, verfrachteten ihn in ein Dienstfahrzeug, dessen Türen mit dem Wappen Misericordias («Helfen und Heilen») geschmückt waren. Verpassten ihm eine Spritze. Sogleich war er bereit, sich in alles, was da auf ihn zukommen sollte, heiteren Sinnes zu schicken. Die Wärter hatten ihren harten Griff gelockert. Die Hand des einen ruhte nun warm auf Sanchos Oberschenkel, während der andere den Arm beinahe freundschaftlich um seine Schultern gelegt hatte. Sanchos Kopf glühte, so sehr schämte er sich der Erregung, die machtvoll von ihm Besitz ergriffen hatte.

Samstag, 12. Dezember 2009

Winter, am Rand der Stadt

Man schämt sich

Man schämt sich, ich zu sagen.
Man kann sich nur den Schädel einschlagen.
Das Leben lässt sich nüchtern nicht ertragen.
Man schämt sich, ich zu sagen.

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Traurige Jäger (20)

Aber eine Stunde später schon ritten zwei uns wohlbekannte Gestalten – der lange Dünne mit dem Texanerhut auf dem Schädel auf einem klapperdürren Ross, der kleine Dicke auf einem kurzbeinigen Esel, beide mit Scheriffsstern auf der Brust – in die nächtliche Wüste hinaus. Der Himmel war von den vielen gut sichtbaren Sternen wirklich erstaunlich hell. Jetzt, in der Nacht, war es empfindlich kühl geworden, und Sancho und der Sheriff ritten in einem so flotten Tempo, wie es die Pferdestärken von Esel und Klappermähre gerade eben noch erlaubten.

Plötzlich hörte Sancho ein grässliches Schreien, das ihm sämtliches Blut in den Adern gerinnen liess. «Ach,das sind doch bloss die Affen», sagte der Sheriff, als er das Erschrecken seines Assistenten bemerkte. «Aha, nur die Affen», sagte Sancho und wiegte den Kopf.

Sie ritten die ganze Nacht, kreuz und quer, wie es Sancho schien (aber wie will man das in der Wüste beurteilen), ohne dass sich etwas Erzählenswertes ereignet hätte; ausser, dass der Sheriff einmal das ganze Magazin seiner Pistole auf einen harmlos dastehenden, wenngleich stacheligen Kaktus abfeuerte. Irgendetwas musste Don Quichotte an dem Kaktus erschreckt oder irritiert haben. Sancho war aber so taktvoll, den Sheriff nicht nach dem Grund dieser Irritation zu fragen. Trotzdem schien Don Quichotte für den Rest des nächtlichen Streifzuges etwas verlegen zu sein. «Du hast», sagte er zu Sancho, «wie alle allzu freundlichen Menschen etwas Schizophrenes an dir.» Ansonsten wurde zwischen den beiden nur noch wenig gesprochen.

Es dämmerte bereits der Tag, als sie müde und hungrig und staubig endlich wieder zuhause anlangten. Die Schwester des Sheriffs schlief wohl noch. Der Hund war bereits ausgeschlafen und bellte morgenfroh, nicht ahnend, dass er schon bald aus dieser Geschichte verschwinden muss. Sancho schlug vor, ein paar Eier zu braten, vorzüglich zu etwas Schinken und Speck, aber der Sheriff wollte wieder einmal nichts vom Essen hören. Deshalb beschränkten sie sich darauf, vor dem Schlafengehen ein letztes – oder vielmehr ein erstes – Glas zu trinken.

Als Sancho, der lange – getrennt durch die Unendlichkeiten von Raum und Zeit – nicht mehr auf einem Bett gelegen, die Glieder wohlig ganz fest und zärtlich auf der Matratze liegen fühlte und die Müdigkeit einer holdseligen Entspannung wich, da dachte er: So könnte es ewig sein, dieses Liegen ist das ganze Glück (der Schlaf sei ewig, doch das Erwachen gewiss). Dann schlief er schon, sank in einen neuen Traum. Die Momente des Glücks sind auch für einen Sancho von flüchtiger Natur. Don Quichotte aber ging auf und nieder, schlaflos, murmelte etwas zwischen den Zähnen hindurch und dachte nach und dachte nach.

Freitag, 4. Dezember 2009

Traurige Jäger (19)

Der Sheriff lud Sancho samt Hund dazu ein, in seinem Haus zu wohnen, das er mit seiner unverheirateten Schwester zusammen besass. Das Haus war verlottert und irgendwie altmodisch und vielleicht gerade deshalb sehr gemütlich. Die Schwester war eine schweigsame, mürrisch scheinende Frau mittleren Alters, die aber, wenn sie etwas sagte, einen klaren, nüchtern-sachlichen Geist besass. Zweifellos hatte es der Sheriff einzig und allein ihr zu verdanken, dass er ein einigermassen vernünftiges Leben zu führen vermochte, oder eben: vermocht hätte. Denn es ist einem Don Quichotte nicht vergönnt, ein einigermassen vernünftiges Leben zu führen. Das wissen wir ja.

Der Sheriff hatte ein eigenartiges Hobby oder vielmehr eine ziemlich ausgefallene Leidenschaft: Er sammelte Engel. Die standen in allen Grössen, Farben, Formen und Geschmacksnuancen im ganzen Haus herum und bildeten einen Gegenstand stetigen Zankens und Streitens zwischen den beiden Geschwistern. Aber der Sheriff, obwohl sonst von sanfter, gütiger Wesensart, liess sich auf keine Weise dazu bringen, von den Engelsfiguren, deren älteste nach seiner eigenen Aussage mehrere tausend Jahre alt war, abzulassen. Die Engel waren nämlich ein Teil der Lebensphilosophie Don Quichottes und hatten mit dem Kampf oder Kreuzzug zu tun, den er führte. Abends, nach einem einfachen, aber wohlschmeckenden Mahl, das aus Maisfladen, Hammelfleisch, einer Sauce aus Tomaten, schwarzen Oliven, viel Knoblauch, Rosmarin und Basilikum bestand, versuchte der Sheriff, seinem neuen alten Assistenten diese Lebensphilosophie auseinander zu setzen:

«Die Engel», führte Don Quichotte aus, «sind ein Symbol für die Zukunft des Menschen über den Menschen hinaus. In den Engeln vollendet sich das, was im Menschen erst angelegt ist als Möglichkeit. Der Mensch von heute ist ein Schlachtfeld, auf welchem die Engel der Zukunft mit den Gespenstern der Vergangenheit einen erbitterten, aber fairen Kampf kämpfen. Fair nenne ich ihn deshalb, weil der Ausgang dieses Kampfes immer wieder und immer noch ungewiss ist, also beide Seiten die Chance haben, ihn zu gewinnen.»

Der Sheriff machte eine bedeutungsschwangere Pause, in der das verächtliche Schnauben seiner Schwester deutlich hörbar war. Dann dozierte er weiter: «Ich stehe im Dienst der Engel. Ich ringe für den Engel in mir mit dem Schatten des Engels in meiner Brust. Ich fühle mich – verzeiht mir das Bild – zur Hebamme berufen, insofern fühle ich mich mit dem grossen griechischen Philosophen Sokrates verwandt; ich bin Hebamme, aber auch Gebärmutter und Embryo. Das ist alles so schwierig auszudrücken.» Don Quichotte seufzte.

Sie tranken Burbon oder Scotch, Sancho konnte das nicht so genau entscheiden. Jedenfalls schmeckte es scheusslich. Zumindest wenn mqn es mit einem guten spanischen Brandy verglich. Der Hund schnarchte.

«Die Engel haben ihre Antithese, ihren Kontrapunkt, ihren Schatten. Dieser Schatten ist nicht das Tier, oder das Tierische im Menschen, das wir meinen, wenn wir vom Teufel reden und im Hinblick darauf, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Nein. Das Tierische in uns ist wie eine wehmütige Erinnerung an eine längst vergangene, altvertraute Zeit. Mit der Entwicklung vom Menschen zum Engel, wenn ich so sagen darf, ist auch das Böse im Begriff, einen entsprechenden Schritt zu tun und seine verlockende, entsetzliche Melodie auf einer höheren – oder tieferen – Oktave zu spielen. So, wie die Engel ein Entwurf des Guten im Menschen sind, so sind die Schattenengel eine Projektion des Ungeheuerlichen in die Zukunft hinein. Dass beide Entwicklungen zusammengehören und sich bedingen, um ein Ganzes zu geben, braucht uns hier nicht zu interessieren, Sancho. Der Kämpfer ergreift Partei. Und zwar ohne Vorbehalte.»

Der Sheriff schwieg und trank. Sancho trank und schwieg. Die Schwester Don Quichottes murmelte: «Hirngespinste!» und nahm ebenfalls einen Schluck.

«Und so, wie das Engelhafte der Zukunft kraft seiner Potenz schon jetzt im Gegenwärtigen und gar im Vergangenen wirkt, Sancho, schwappt auch die Ungeheuerlichkeit des Bösen zurück ins Gegenwärtige. Das ist die Krankheit, von der ich dir sprach!»

Die Schwester sagte: «Dass es Gut und Böse gibt, ist ein Gesetz des Lebens. Sogar der tödliche Kampf ist ein Spiel. Nur Idioten machen eine Idee zur Tyrannin ihres Lebens. Eine Idee ist wirklich eine gute Geliebte für einen Mann: so treu, dass sie ihm schliesslich die Luft zum Atmen nimmt!» Die Schwester lachte trocken.

«Es gibt hier», fuhr der Sheriff fort, ohne sich in seinem Gedankengang stören zu lassen, «ganz in der Nähe und mitten in der Wüste das, was ich das Bermudadreieck der Zukunft nenne: Eine chemische Fabrik, in der hinter Stacheldraht, Elektrozaun und scharf bewacht von Männern mit Maschinenpistolen und Schäferhunden, die Alchemie unserer Zeit vorangetrieben wird. Es gibt eine Energiefabrik, in welcher der Funken aus dem Stein geschlagen wird und der Mensch sich die Gewalt der Materie untertan macht. Und es gibt eine Weltraumbasis, von welcher aus die Menschen – vorerst noch langsam wie die Mücken _ in die unendlichen Tiefen des Alls vordringen.

Hier, in diesem Bermudadreieck der Zukunft, zeigt das, was wir den Fortschritt der Wissenschaft nennen, sein Janushaupt ganz deutlich. Der so genannte Fortschritt könnte uns vielleicht helfen, mit der stets wachsenden Zahl von Menschen auf der Erde fertig zu werden, sie zu ernähren und zu erhalten – er kann uns zum Beispiel helfen, neue Heimstätten im Weltraum zu finden, er uns sogar zu so etwas wie einer gewissen Weisheit und einem begrenzten Verständnis führen – er kann aber auch bewirken, dass die Menschheit endgültig zu einer Monstrosität wird, zu einer Krankheit, zu einem Fieberwahn, den die Erde, will sie gesunden, erst einmal ausschwitzen muss.

Die Brutalität und Grausamkeit, die Menschen an Menschen verüben können und wollen und verüben in den grossen Krieger der Völker und den kleinen Kriegen des alltäglichen Zusammenlebens, diese äusseren Zeichen des Bösen sind ein vergleichsweise harmloser Widerschein der wahren zerstörerischen Kraft.»

«Das Böse», sagte die Schwester des Sheriffs darauf nur trocken, «ist keine selbstständige Kraft. Es ist ein Teil der Kraft, die sich selbst in einer bestimmten Art und Weise interpretiert. Es gibt, wie auch die Physik es sagt, nur diese eine Kraft, allerdings in sehr verschiedenen Manifestationen. Gott, mein lieber Bruder, ist blind.»

Sancho ging die Theoretisiererei der beiden allmählich auf die Nerven. Er wollte wieder einmal etwas Konkretes hören. Die Anwesenheit der Schattenengel, erfuhr er auf sein Drängen, sei im «Bermuda-Dreieck» besonders stark zu bemerken; man spüre sie wie einen kalten Hauch, der ganz und gar durch einen hindurchgehe, so, als wäre man bloss ein Knochengerüst ohne Fleisch und Haut. Ausserdem werde das Denken bei der Berührung mit den Schattenengeln wie zu einem Stück Materie: Man denke plötzlich in kleinen Lehmklümpchen, die absonderliche Figuren ganz ohne Sinn ergeben würden, und dies reize einen zu einem ganz und gar nicht lustigen Lachen, es sei, als würde man an einer besonders unanständigen Stelle besonders hinterhältig gekitzelt. Auch habe man, mitten in der Wüste unter einem unnatürlich grossen Mond stehend und mit dieser erdrückenden Unzahl von Sternen über dem Kopf und der absurden Silhouette der Weltraumbasis im Gegenlicht der Scheinwerfer vor Augen, immer das Gefühl, als ob dicht hinter einem jemand stehe. Es sei dies ein sehr körperliches Gefühl. Es mache einen gelinde gesagt nervös. Er, der Sheriff, neige überhaupt zur Nervosität in letzter Zeit. Deshalb habe er auch Sancho als seinen Assistenten engagiert, denn der, mit seiner Statur und seiner Bodenständigkeit, mache den Eindruck eines nicht so leicht zu erschütternden Menschen.

Sancho wollte diese Komplimente (oder wie auch immer die Einschätzung des Sheriffs gemeint war) schleunigst abwehren und berichtigen, aber Don Quichotte war bereits nicht mehr zu bremsen. «Noch diese Nacht», rief er mit dem Feuer der bei ihm wieder neu erwachten Begeisterung aus, «wollen wir der Gefahr vereint ins Auge sehen.» Dabei hatte er, wie Sancho fand, vom Whiskey bereits den gewissen sehnsüchtigen glasigen Blick. Auch gefiel ihm der Gedanke gar nicht, heute noch einmal raus zu müssen mit seinem Herrn in die finstere Nacht, wo es doch hier so gemütlich war gerade.