Mittwoch, 31. Dezember 2008
Everbody is a strange person
Der Flug nach Bali dauert drei unaufgeregte Stunden, der Anflug auf die Götterinsel ist spektakulär und gewährt Einblicke in grossartige, bewaldete Vulkanberge und andere Erhebungen, die im Wolkenmeer schwimmen. Die Insel ist von einem üppigen, satten Grün, umgeben vom Smaragd des indischen Ozeans. Am Flughafen wird Felix von Aluk und seinen beiden Kumpels Yono und Anto erwartet. Anto hat von einem Liebhaber einen Pickup geschenkt bekommen und chauffiert sie zum «Bali Coconut Hotel». Das ist ein gemütliches kleines Hotel im traditionellen balinesischen Stil mit Swimmingpool und Garten ganz in der Nähe des Strandes, den sie allerdings nur selten besuchen (und wenn, dann meistens abends zum Sonnenuntergang). Das Hotel ist nur etwa zu zehn oder fünfzehn Prozent belegt, und auch sonst wirken Kuta und ganz Bali ziemlich ausgestorben, da kurz vorher, im Oktober, erneut Bombenanschläge stattgefunden haben (einer in einem Restaurant, ein anderer am Strand). So genannten Rucksackbomber waren am Werk, und im indonesischen Fernsehen ist praktisch dauernd vom Terrorismus und von der Jagd auf Terroristen die Rede, wobei Felix natürlich nur der Spur nach versteht, worum es im Einzelnen geht. Felix hat zwei Zimmer gemietet, im einen nächtigen Yono und manchmal auch Anto, nicht selten auch Aluk, weil Felix wieder einmal zu sehr schnarcht. Die Zimmer sind okay, nicht ganz so luxuriös wie diejenigen im Le Meridien zwar, aber recht geräumig, mit bequemen Betten und allem, was es braucht (und was es für Felix vor allem braucht, ist eine Klimaanlage). Auch kann man sich zu jeder Tages- oder Nachtzeit Speis und Trank ins Zimmer ordern, mit einer Mischung aus Eleganz und Gelassenheit jonglieren Balinesinnen volle Tablette zu ihren Zimmern. Die erste und die letzte Woche verbringt Felix mit seinem Partner und dessen Freunden in Bali, während sie sich zu Beginn der mittleren Woche in Antos Pick-up die Küste entlang Richtung Westen aufmachen, um dann bei Gilimanuk mit der Fähre nach Banyuwangi überzusetzen. Die Hafenstadt Gilimanuk ist etwa 135 Kilometer von Denpasar entfernt und verbindet mit einem Fährbetrieb über die Bali-Strasse, deren Überquerung etwa eine Stunde dauert, die Insel mit Ost-Java. Die Küstenfahrt von Denpasar nach Gilimanuk führt durch ein landschaftlich ausserordentlich reizvolles Gebiet mit zum Meer hin abfallenden Reisterassen und saftigen Plamenwäldern, die sich die Hügel hinauf ziehen. Die Strassen in Bali sind zwar relativ gut, aber auch schmal, und die Fahrweise der Einheimischen ist ziemlich rasant und manchmal auch etwas risikoreich. Für den Geschmack von Felix zu risikoreich – zum Beispiel, wenn eine Gruppe von drei oder vier einen Hügel hinaufkeuchenden Lastwagen bei völlig unzureichenden Sichtverhältnissen überholt werden soll. Am schlimmsten sind die Busfahrer, die wie die Räuber über die Strassen brettern. Anto fährt aber relativ vorsichtig. Die Überfahrt auf der Fähre ist dann das reinste Vergnügen, der Blick auf das immer näher kommende Java grossartig. In Banyuwangi kaufen Felix und seine Begleiter zunächst in einem Warenhaus Geschenke für Aluks Familie: einen Sarung für die Mutter, ein grosses Spielzeugauto für den Neffen und sonst ein paar Kleinigkeiten zum Verteilen. Ins Landesinnere bis zur Kleinstadt Genteng und bis zum Heimatdorf Aluks, das aus im Palmenwald locker verstreuten Häusern besteht, dauert es dann noch etwa eine Stunde. Aluk hat sich ein steinernes Haus gebaut, oder gleich zwei, eins für sich und eins für seine alte, kranke Mutter, aufgewachsen aber ist er in einer Bambushütte, in ärmlichsten Verhältnissen. Die Mutter hat ihre Kinder – vier Söhne, zwei Töchter – allein aufgezogen; nachdem ihr Mann sie hat sitzen lassen, um mit einem Ladyboy durchzubrennen, hatte sie kein Interesse mehr an Männern, war ihr partnerschaftlicher Bedarf gedeckt und sie lehnte entsprechende Angebote dankend, aber bestimmt, ab. Die Mutter, mit der sich Aluk eng verbunden fühlt, die er mehr als alles andere liebt und verehrt, hat sich abgerackert und dabei ihre Gesundheit ruiniert, um die Kinder durchzufüttern; jetzt leidet sie unter schwerem Asthma und unter Bluthochdruck. Sie ist eine zerbrechlich wirkende, aber bestimmte Person, die fast nur aus Haut und Knochen zu bestehen scheint. Die Erfahrung der Armut, die er als Kind erlebt hat, hat sich tief in die Seele von Aluk eingebrannt. Diese Erfahrung hat ihn sein Selbstvertrauen gekostet; er findet sich seltsam und hässlich, bezeichnet sich nicht nur im Scherz als Monster. «I’m such a strange person», ruft Aluk manchmal verzweifelt aus. Felix wird dann fast ein wenig wütend: «You’re a strange person – so what? I am also a strange person, everybody is a strange person, where is the problem? You can be ashamed of it, you can be afraid of it, you can be proud of it, you can make the best out of it, you can enjoy it: the choice is yours!» Aluk schaut Felix jeweils nur ganz verwundert an, wenn der einen solchen Ausbruch hat. Aluk weiss das alles, aber er ist sich auch bewusst, dass es leichter gesagt als getan ist, aus seiner Besonderheit das Beste zu machen. Schliesslich handelt es sich dabei um eine veritable Lebensaufgabe. Als Kind, sagt Aluk, hatte ich nie die Möglichkeit, zu spielen, ich musste arbeiten, zum Beispiel Kaugummi oder Eis verkaufen. Alles, was er an Bildung mitbekommen hat, ist ein bisschen Schule und dann noch ein bisschen Koranschule; das meiste hat er vom Leben gelernt. Aluk hält sich deshalb selbst für dumm. Er ist aber alles andere als dumm; er hat eine schnelle Auffassungsgabe, er spricht mindestens vier Sprachen (Bahasa Indonesia, Javanisch, Balinesisch, Englisch, etwas Deutsch), er hat einen kreativen Geist und – untrüglichstes Zeichen für Intelligenz – er hat Humor. Das Leben, von dem er das meiste lernte, wie wir alle übrigens, führte Aluk zunächst nach Bali, wo er erst auf dem Bau («in the project») und dann in einem Warung (einem kleinen Strassenrestaurant) arbeitete, und zwar von morgens fünf Uhr bis abends neun Uhr, sieben Tage die Woche. Da lernte er kochen. Dann hatte Aluk Glück: Er wurde von Lorna, einer amerikanischen Ärztin, die in Bali unter anderem Aids-Prävention betrieb, als Hausbursche engagiert. Hier lernte er Englisch, wurde nicht nur anständig, sondern wahrhaft freundschaftlich behandelt, bekam mit, wie so genannte Bule (wie Poulet ausgesprochen, aber mit weichem B), also Westler, so ticken, und was es heisst, schwul zu sein. Vorher hatte er zwar auch schon sexuelle Beziehungen mit Männern (vor allem mit einem seiner Lehrer an der Koranschule), aber damals, sagt Aluk, wusste ich noch nicht, «was Blasen, Ficken und Küssen bedeutet». Wenig später lernt Aluk an Balis Stränden seine ersten schwulen Sponsoren aus dem Westen kennen. Irgendwann wird er von einem dieser Sponsoren nach Deutschland eingeladen; allerdings hält diese Geschichte nicht, da der Deutsche bald zu seinem indonesischen Exfreund zurückkehrt. Das ist für Aluk die grosse Enttäuschung Nummer eins. Aus Liebeskummer trinkt er ein ganzes Fläschchen Poppers leer - ein Wunder, dass der das überlebt.
Felix lernt Aluk in der Bar kennen. Da ist Aluk noch keinen Tag in Zürich. Er hat Holland Hals über Kopf verlassen, wegen grosser Enttäuschung Nummer zwei, die sich in der Person eines holländischer Zahnarzt inkarniert hat, stinkreich und Besitzer von mindestens zwei Porsches, aber geizig, ein Arschloch und immer noch ungeoutet, obwohl schon fünfzig oder gar darüber. Also versteckt er Aluk regelrecht in seiner Wohnung über der Praxis in Amersfoort oder schliesst ihn sogar in seinem Zimmer ein, auch auf der Strasse darf Aluk sich nicht in der Nähe des schnauzbärtigen Dentisten zeigen, sondern hat auf der anderen Strassenseite zu gehen. Dafür darf er sich dann vom Doktor, der offenbar sexuell auf diese Marke konditioniert ist, also eine Adidas-Macke hat, in Adidas-Klamotten stecken lassen... Irgendwann hält Aluk das nicht mehr aus – das Eingesperrtsein, das Verleugnetwerden, mit der Adidas-Macke könnte er notfalls leben – und er flüchtet zu indonesischen Freunden in der Schweiz. Dort lernt er Felix kennen oder Felix lernt Aluk kennen und verliebt sich in ihn (er ist zwar damals noch mit Sonny liiert, aber diese Beziehung bröckelt bedenklich). Es braucht aber lange, bis Felix das Vertrauen von Aluk gewonnen hat – Aluk ist ein gebranntes Kind.
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