Mittwoch, 12. November 2008

Dem Himmel einen schreienden Teppich entgegenhalten



«Als Honda am Nachmittag Benares erreichte, liess er, sobald er im Hotel seine Koffer ausgepackt und gebadet hatte, einen Führer kommen. Eine auch von der Anstrengung der langen Bahnfahrt nicht geminderte, merkwürdig jugendliche Ungeduld hatte ihn in den Zustand einer gewissermassen heiteren Unruhe versetzt. Vor den Hotelfenstern draussen war alles von einer beklemmenden Nachmittagssonne erfüllt. Wenn er sich, hatte er das Gefühl, in sie hineinwürfe, müsste es möglich sein, das Mysterium unmittelbar zu erfassen.
Indessen, Benares war eine Stadt sowohl von höchster Heiligkeit als auch von tiefstem Schmutz. Zu beiden Seiten der engen Gassen, in die über die Dachtraufen hinweg kaum ein Sonnenstrahl fiel, standen dicht beieinander die Geschäfte mit Obst, mit Gesottenem, beriet hier ein Astrologe, wurden einem dort Getreide und Mehl zugewogen; alles voller Gestank, Feuchtigkeit, Krankheit. Nachdem sie dies hinter sich hatten, traten Honda und sein Führer auf einen an den Fluss grenzenden Platz hinaus; auf ihm sassen in Reihen rechts und links die aus dem ganzen Land hierher gepilgerten Siechen, in sich zusammengesunken, bettelnd, während sie auf den Tod warteten. Dazu die vielen Tauben. Der glühende Himmel nachmittags um fünf. Vor sich in seiner Bettelschale, einer Blechbüchse, ein paar Kupferstücke, das eine Auge rot und erblindet, hatte ein Leprakranker die fingerlosen Handstummeln in den Abendhimmel aufgereckt wie ein Maulbeerbaum nach dem Beschnitt seine Äste.
Da gab es Verkrüppelte jeder Art, hüpften Zwergwüchsige umher. Körperlich ohne irgendein gemeinsames Merkmal, waren sie wie uralte, nicht zu entziffernde Schriftzeichen. Nicht weil Entartung oder Verfall sie so hatte werden lassen, sondern weil sie noch immer die Lebendigkeit und Wärme des Fleisches besassen, wehte aus den verzerrten, verbogenen Gestalten ein zugleich widerwärtiger und heiliger Sinn. Blut und Eiter wurden von unzähligen Fliegen weitergeschleppt wie Blütenpollen. All diese Fliegen waren dick und funkelten grüngolden.
Rechts, wo es zum Fluss hinab ging, war ein mit bunt leuchtenden heiligen Symbolen bemaltes Sonnensegel aufgespannt, und neben der Menge, die der Predigt eines Priesters lauschte, lag, in ein Tuch eingewickelt, ein Leichnam.
Alles befand sich in einem Zustand des Schwebens. Das heisst: die nacktesten, hässlichsten Wirklichkeiten menschlichen Fleisches, einschliesslich seiner Ausscheidungen und üblen Gerüche, Krankheitskeime und Verwesungsgifte, begannen, so der Sonne ausgesetzt, in der Luft dahinzutreiben wie in der normalen Realität Dampf. Benares. Ein Teppich von geradezu prachtvoller Hässlichkeit. Eintausendfünfhundert Heiligtümer. Tempel, an denen neben den roten Säulen in schwarzen Ebenholzreliefs die Liebe dargestellt war in allen nur denkbaren Formen des Geschlechtsverkehrs. Häuser, in denen Witwen von früh bis spät unter lauten Klagelitaneien inbrünstig den Tod herbeisehnten. Einheimische. Fremde Besucher. Sterbende. Gestorbene. Mit Pusteln übersäte Kinder. Kinder, die sich sterbend an die Brüste ihrer Mütter klammerten… Ein von ihnen allen, den Tempeln, den Menschen, Tag und Nacht dem himmlischen Firmament lustvoll entgegengehaltener, schreiender Teppich.»
Yukio Mishima, in: Der Tempel der Morgendämmerung.

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