Donnerstag, 2. Oktober 2008

Früher und Heute (III)



«First Avenue Ecke Dreissigste Strasse», sagte ich zum Taxifahrer am nächsten Tag. «Universitätsklinik.»
«Gutaussehendes Weibsstück, mit dem Sie da aus dem Hotel gekommen sind», sagte der Fahrer, als die Fahrt durch die Stadt begann. Kurz bevor ich das Taxi herangewinkt hatte, war ich beim Verlassen des Essex House auf dem Weg zum Krankenhaus downtown der Frau eines alten Freundes über den Weg gelaufen, und ich hatte unter dem Hotelbaldachin eine Weile mit ihr gesprochen.
»Ja?»
«Auf’n Sprung zu Besuch bei ihr gewesen?»
«Verzeihung?»
«Sie ficken sie’»
Im Rückspiegel sah ich ein grünes Augenpaar, dessen brutaler Blick noch beunruhigender war als die Frage. Hätte ich nicht schon beim Gespräch vor dem Hotel Zeit verloren, dann hätte ich mich dagegen entschieden, mein Leben jenen Augen anzuvertrauen, und wäre aus dem Taxi ausgestiegen, doch da ich unbedingt im Krankenhaus sein wollte, um meinen Vater zu sehen, ehe er in den Operationssaal gebracht wurde, sagte ich: «Um die Wahrheit zu sagen, nein. Aber einer meiner Freunde. Sie ist seine Frau.»
«Welchen Unterschied macht das schon? Er würde Ihre Frau ficken.»
«Nein, dieser spezielle Freund nicht, wenn ich auch annehme, dass das vorkommt.» Ich nahm es an, weil ich es gelegentlich selbst getan hatte, doch anders als der Fahrer legte ich nicht gleich alle Karten auf den Tisch. Wir hatten noch ziemlich weit zu fahren.
«Das kommt dauernd vor, Kumpel», erklärte er.
Ich dachte, es wäre keine gute Idee, ihn zu beleidigen, und antwortete einigermassen leichthin: «Nun, es ist immer gut, mit einem Realisten zu sprechen.»
Er antwortete mir mit unverhüllter Verachtung. «Ach, so nennt man das?»
Jetzt erst nahm ich Gebäude draussen wahr, und ich bemerkte, dass er am Park in die falsche Richtung abgebogen war und jetzt uptown fuhr. «He!» sagte ich und erinnerte daran, wohin wir wollten.
Um seinen Irrtum zu korrigieren, beschloss er, ganz nach Osten bis zum F.D.R. Drive zu fahren und dann nach Süden «hinüberzuschiessen». Dazu gehörte, dass er sogar noch weiter in die falsche Richtung fahren musste, um auf den Schnellweg zu gelangen.
Ich war weitaus früher aufgebrochen als nötig gewesen wäre, um gegen elf Uhr dreissig beim Krankenhaus zu sein, doch wegen eines Staus bei der Einfahrt zum Schnellweg war es jetzt schon nach elf, ehe das Taxi überhaupt angefangen hatte, sich in den dichten Verkehrsfluss nach Süden einzufädeln.
«Wohl’n Arzt, wie?» fragte er und fixierte mich, wie ich im Spiegel sah, mit kriegerischem Blick.
«Ja», sagte ich.
«Was für ‚ne Art?»
«Raten Sie.»
«Kopf», sagte er.
«Stimmt.»
«Psychiater», sagte er.
«Stimmt.»
«In der Universitätsklinik.»
«Nein, oben in Connecticut.»
«Wohl Chef der Klinik?»
«Sehe ich aus wie der Chef der Klinik?»
«Klar», sagte er mit Autorität.
«Nein», sagte ich, µeinfach einer der ärztlichen Mitarbeiter. Damit bin ich zufrieden.»
«Sie sind schlau – Sie gehen nicht auf Dollarjagd.»
Ich stellte fest, dass ich ihn unter Beobachtung genommen hatte, als würe ich tatsächlich ein Profi, dessen Interesse über das eines gewöhnlichen, zweitweiligen Fahrgastes hinausging. Der Mann war ein Mastodon, und obwohl das Taxi eine grossformatige Limusine war, quoll er über seine Hälfte der vorderen Sitzbank hinaus und reichte oben bis etwa einen Zentimeter unter das Wagendach – und das Lenkrad in seinen Händen war ein winziger Säugling, ein Säugling, den er erdrosselte. Alles, was ich im Spiegel von seinem Gesicht sehen konnte, waren jene Augen, die aussahen, als könnten sie, wenn sie aus seinem Kopf heraussprängen, einem ebnso den Garaus machen wie seine Hände. Seine Ausstrahlung war sogar noch bedrohlicher als seine einleitende Bemerkung hatte vermuten lassen, und die Idee, mit ihm den Schnellweg «entlangzuschiessen», gefiel mir gar nicht, insbesondere seit klar war – und nicht nur, weil er fast zu Anfang in die falsche Richtung gefahren war –, dass seine Aufmerksamkeit auf etwas Zwingenderes gerichtet war, als mich dorthin zu bringen, wohin ich wollte.
«Wissen Sie was, Doc», sagte er und schwenkte ganz plötzlich und ohne Mangel an Waghalsigkeit auf die Überholspur Richtung Süden hinüber, «mein alter Herr liegt jetzt im Grab, ohne seine vier Vorderzähne. Ich hab sie ihm aus seinem beschissenen Maul geschlagen.»
«Sie haben ihn nicht gemocht.»
«Er war ein Scheisser und ein Versager, und er wollte, dass ich auch ein Versager würde. Elend hat gern Gesellschaft. Er hat meinen älteren Bruder immer dazu angestiftet, mich auf der Strasse zu verprügeln. Mein älterer Bruder hat mich verprügelt, und mein Alter hat ihn niemals davon abgehalten. Und da bin ich eines Tages, als ich zwanzig war, zu ihm hingegangen und ich hab gesagt: Weißt du, wofür das ist? Weil du mich nie vor Bobby beschützt hast. Ich bin nicht einmal zu seiner Beerdigung gegangen. Aber viele Kinder gehen nicht zur Beerdigung ihrer Eltern, oder?» Mit einer auf einmal ganz hohl klingenden, ganz auf Rechtfertigung bedachten Armsünderstimme fügt er hinzu: «Ich bin nicht der erste.»
Die Augen im Spiegel, die nichts Brutales oder Kriegerisches verbargen, warteten auf meine Antwort.
«Sie sind nicht der erste», versicherte ich ihm.
«Meine Mutter ist nicht besser», sagte er, und das Wort «Mutter» spuckte er aus, als wäre es kein Wort, sondern etwas Verdorbenes, in das er hineingebissen hatte. «Sie hat mich weinend angerufen, dass er tot ist, und ich habe gesagt: Los, nur weiter, wein bloss um den grossen Helden. Und ich habe zu ihr gesagt, wwas für eine dumme Kuh sie ist.»
«Es muss schwer für Sie gewesen sein, nicht wahr?»
Die Reinheit der Paranoia, die in jenen Augen aufflammte, Liss micht denken: Licht, das von der Klinge eines Messers springt. Doch wenn er glaubte, ich sei eine Art von Ironiker, der wie sein Vater minus vier Vorderzähne in die Grube fahren wollte, hatte er sich in mir getäuscht. Ich war ein Psychiater, der sich nicht zu Urteilen herabliess, und das schien ihm glücklicherweise nicht zu spät zu dämmern. Er war keineswegs dumm, meine Güte, er war misstrauisch! Indem sein verstorbener Vater es versäumt hatte, ihn vor Bobby zu beschützen, hatte er einen sehr skeptischen jüngeren Sohn auf die Welt losgelassen.
«Tja», antwortete er mit trauriger Stimme, «schwer kann man es schon nennen.» Doch indem er mit dem Kopf in die Luft stiess, fügte er hinzu: «Ich habe überlebt.»
«Das ist mal sicher.»
Dann verblüffte er mich. Ich wäre nicht überraschter gewesen, hätte er vom Sitz neben sich eine Teetasse erhoben uns mit höflich und zierlich abgespreiztem kleinen Finger einen kleinen Schluck genippt. «Doc, ich bin unsicher.»
«Sie?» Ungläubig, ich gönnt es ihm. «Wovon zum Teufel reden Sie? Sie haben Ihrem Vater die Zähne in den Rachen geschlagen, Sie haben Ihrer Mutter die Meinung gesagt, als sie in Tränen war – das ist Ihr taxi, was Sie da fahren, oder?»
«Oh ja. Ich habe zwei.»
«Zwei – wieso, Sie sind so sicher, wie man überhaupt nur sein kann.»
«Bin ich das?» fragte mich dieser gewalttätige Bastard.
«So scheint’s mir.»
«Sie sind gut zu mir, Doc – ich werde Ihnen einen Buck vom Fahrpreis abziehen. Sie sollen nicht für meinen Fehler zahlen müssen.» Als er vom Schnellweg zur Vierund dreissigsten Strasse abschwenkte, wurde er sogar noch grosszügiger. «Ich stelle schon jetzt den Taxmeter ab und ziehe Ihnen noch einen Buck vom Gesamtpreis ab.»
«Wenn Sie wollen. Das ist sehr nett von Ihnen.»
Ich fragte mich, ob ich es nicht zu weit getrieben hatte. Ich blickte in den Spiegel in der Erwartung, dass er jetzt bereit wäre, mich umzubringen, weil ich ihn nett genannt hatte. Doch nein, es gefiel ihm. Dieser Kerl ist menschlich, dachte ich, im schlimmsten Sinne des Wortes.
Als ich vor dem Krankenhaus aus dem Taxi sprang, war ich ein guter Psychiater und gab ihm den einzigen Rat, dem er meiner Meinung nach folgen konnte. «Weiterboxen», sagte ich zu ihm.
«He, Sie auch, Doc», sagte er, und das Gesicht, das, wie ich jetzt sah, das eines Riesenbabys war, eines übermässig fleischigen, schwer trinkenden, verbitterten Säuglings von vierzig Jahren, hatte sich jetzt in ein übersättigtes Lächeln aufgelöst und zeigte mir an, dass schon bei meinem allerersten professionellen Debüt eine positive Übertragung stattgefunden hatte. Er hatte es tatsächlich getan, so wurde mir jetzt klar, er hatte den Vater vernichtet. Er gehört zu der Urhorde von Söhnen, die, wie Freud zu mutmassen beliebte, dazu fähig sind, den Vater gewaltsam auszulöschen – die ihn hassen und fürchten und ihn, nachdem sie ihn überwältigt haben, dadurch ehren, dass sie ihn verzehren. Und ich komme aus der Horde, die keinen Schlag austeilen kann. Wir sind nicht so, und wir bringen es nicht fertig, weder gegen unsere Väter noch gegen sonst jemanden.
(aus: Philip Roth: Mein Leben als Sohn. Eine wahre Geschichte. dtv. Sehr empfehlenswertes Buch – wie alles, was ich bisher von Philip Roth gelesen habe. Der ist auf seine Art genauso satrk wie sein Namensvetter Joseph.)

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