Donnerstag, 25. September 2008

Früher und heute (II)



"Wenn ich ins Kino will und sage, ich habe kein Geld, dann darf ich nicht ins Kino. Weil es niemanden gibt, der ohne Geld ins Kino gehen will. Es gibt zu jeder Zeit Dinge, die man aussschliessen kann. Früher durfte man zum Beispiel die Vorstellung ausschliessen, ein Mensch könne fliegen, oder, die Erde sei rund. Heute darf man die Idee ausschliessen, es gäbe Menschen, die ohne Geld ins Kino wollen. So verschieben sich die Unmöglichkeiten.
So wie heute niemand mehr grosse Löcher in den Zähnen hat, wo Spinat drin steckt.
Früher hatte man grosse Löcher mit Spinat. Heute nicht mehr. Weil wir versichert sind gegen grosse Löcher mit Spinat.
Die ganze Zahnlosigkeit ist heute aufgehoben. Soll es einer wagen, ohne Zähne in einer Stadt herumzulaufen. Im Emmental mag das angehen. Dort darf man ja auch noch schwerhörig sein, oder mit einer abgefrorenen Nase Milch verkaufen. Aber nicht in der
Stadt. Selbstverwahrlosung ist strafbar, weil es an Unmögliches erinnert, und 'Unmöglich' ist ein Lästerwort. Mir soll einer kommen mit einem Grind. Den werde ich schleunigst da hinschicken, wo er hingehört. Das heisst, ich weiss nicht, wo er hingehört, aber mein nächster Polizist wüsste das."
(aus: Matthias Zschokke: Max)

Mittwoch, 24. September 2008

Kürzestroman

Der schöne Ritchie verliebt sich in den kleinwüchsigen Robie. Er weiss nicht, wie ihm geschieht. Robie ist ausserstande, diese Liebe zu erwidern oder auch nur anzunehmen, weil er sich nicht vorstellen kann, dass ein gutaussehender, "normaler" Mensch wie Ritchie sich in einen "Krüppel" wie ihn verlieben kann. Eine unmögliche Liebe, die tragisch endet: Ritchie bringt sich aus Verzweiflung um, Robie versteinert.

Felix Rex



Es gibt Leute, die träumen davon, Diktator zu sein.
Felix weiss, dass er ein König ist (in seinem kleinen Königreich).

Sonntag, 21. September 2008

Früher war alles...



...gleich wie heute und doch ganz anders. Das Hotel Dolder hiess früher zum Beispiel einfach "Grandhotel Dolder", während es sich heute viel moderner oder postmoderner und vor allem viel englischer "The Dolder Grand" nennt. "Im Dolder Grand spielt Dollar Brand", könnte Felix da dichten, nur würde das wahrscheinlich kaum einen Sinn machen, weil 1. Dollar Brand heute kaum mehr jemand kennt und weil 2. der in die Jahre gekommene afrikanische Pianist und Komponist sich seit längerer Zeit Abdullah Ibrahim nennt. Seine Musik ist übrigens, nebenbei gesagt, immer noch ein Ohr voll wert.
Ja, die heutige Zeit, wie soll Felix sie beschreiben? Sie zeichnet sich, wie übrigens alle Zeiten davor oder danach, durch ihren Materialismus aus. Geld regiert die Welt, jawoll. Aber welches Geld? Ist Geld überhaupt real? Woher kommt zum Beispiel das Geld, welches die US-Regierung dem maroden Bankensystem unterbuttert? Wieviele Milliarden waren es schon wieder - 700 Millarden oder 7000 Milliarden? Wo hat die US-Regierung dieses Geld gefunden? Und wem muss sie es irgendwann wieder zurückzahlen? Wer schuldet wem Geld - und warum? Was ist Geld überhaupt?
Hand aufs Herz - bei dieser Subprime-Krise: Blicken Sie da durch? Felix hat gestern Abend eine Diskussionssendung im Fernsehen zu verfolgen versucht, musste aber schliesslich kapitulieren - er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was ihm da hätte erklärt werden sollen. Irgendwann hatte er das unheimlich Gefühl, dass die Befrager - zwei Journalisten der NZZ - und der Befragte - ein Privatbanker und Spezialist (Mitglied des Bankrates), Konrad Hummler hiess er, glaube ich - genauso wenig eine Ahnung hatten, wovon sie sprachen, wie ich verstand, was sie sagen wollten.
Und wie war das schon wieder? Der Markt wird es schon richten, hiess es doch die ganze Zeit. Dieses neoliberale Gerede, wie lässt es sich mit den abstrakten ominösen 700 oder 7000 Milliarden Dollar vereinbaren, von denen ich weiter oben sprach? Die unsichtbare Hand des Marktes - ein Gespenst?
Die Natur des Menschen ist immer noch dieselbe wie schon immer - insofern haben sich die Zeiten nicht geändert. Kürzlich wurde das Milgram-Experiment wiederholt, in welchem Menschen andere Menschen auf "wissenschaftlichen Befehl" mittels Stromstössen "bestrafen" mussten oder vielleicht auch durften. Die meisten haben es wiederum getan. Nur scheint es heutzutage immer mehr in Mode zu kommen, dass man vor allem die Opfer (und die "Gutmenschen") als die "Bösen" definiert - während die Zyniker, die gerissenen Erfolgstypen, die schlauen Machtmenschen und die hemmunglosen Egoisten zu Vorbildern erklärt werden (eine schon fast karikierende Darstellung hat dieser Menschentyp im Roman "American Psycho" von Bret Easton Ellis gefunden. In Abwandlung der Darwinschen Losung "Survival of the fittest" müsste man dann davon sprechen, dass heute nur noch die Rücksichtslosesten eine Überlebenschance haben.
Kein Wunder, dass Jugendliche sich da in Jugendszenen gegen die Erwachsenen verbünden("Emos"),in denen die Empfindsamkeit, die Trauer, der Weltschmerz und das Dasein eines Loosers lustvoll inszeniert wird.

Donnerstag, 4. September 2008

Eine kleine Reise nach Belgien



Acht Stunden im Zug vergehen gleichzeitig langsam und schnell. Dieser Zug ist angenehm, nicht zu voll und nicht zu leer und nicht zu hypermodern, ein guter alter Zug eben, der in annehmbarem Tempo durch eine annehmbare, ja durchaus sehenswerte Landschaft fährt. Bis Strassburg, gar bis Metz ist es regnerisch, ab Luxemburg reisst die Wolkendecke auf und zum Abend hin, schon in Belgien, gibt es spektakuläre Licht-und-Wolkenspiele. In Brüssel dann ein wolkenloser Himmel, aber kalt – Nordwind.
Unterwegs, im Zug, kleine Begegnungen mit freundlichen, aber völlig unaufdringlichen Menschen – ein alter Mann, ein Bauer mit grossen Händen und einem roten Gesicht und warmen Augen, der Felix hin und wieder anlächelt, zwischen Strassburg und Metz. Ein junges Mädchen mit Rucksack und viel Gepäck, das friedlich schläft und sogar ein wenig schnarcht. Der Bauerngeruch des Alten, das Schnarchen des Mädchens sind seltsamerweise Balsam für die Nerven von Felix. Er ist nämlich immer ein bisschen nervös, wenn er allein unterwegs ist an einen Ort, wo er bisher noch nie war. Und allein unterwegs ist er, weil Aluk sich momentan in Indonesien befindet und weil Aluk in diesem Jahr kein Visum für die Schweiz mehr ausgestellt bekommt.
Belgien oder vielmehr Wallonien ist überraschend, vom Zug aus, sehr ländlich, hügelig, waldig, wenig dicht besiedelt. Die Orte erinnern Felix an England oder an Holland – graue und rötliche Backsteinhäuser, die meisten unverputzt, schön im Herbstlicht.

Brüssel hat Felix sich ganz anders vorgestellt – unattraktiv, technokratisch, ohne Charme. Dass das nicht stimmt, fällt Felix schon bei der Einfahrt auf – es nachtet bereits ein. Zunächst aber Stress – wo soll Felix aussteigen? Brüssel hat jede Menge Bahnhöfe: Ost, West, Nord, Süd, Central usw. Felix entscheidet sich schliesslich für den Gare du Midi, die Endstation. Und nun benimmt er sich wirklich wie der letzte Tourist, mit seinem Regenschirm und dem Koffer und dem Baedeker in der Hand. Felix weiss, er muss zur Rolstraat, die auch Rue de Rouleau heisst; da hat er im «Residence les Ecrins» ein Zimmer reserviert. Das klang, in der Beschreibung des Schwulenführers, ganz attraktiv. Zentral gelegen, ein über hundertjähriges Haus, grosse, schöne Räume… Zuerst sucht Felix also die U-Bahn und dann die richtige Linie und muss fragen, wie man ein Ticket löst, Felix schämt sich und ist nervös und kommt sich wie eine ältere, hilfesuchende Dame vor. Aber dann muss er sich unverhofft doch irgendwo in der Nähe des Hotels befinden. Beginenhof, St. Katharinen-Kirche, alles vorhanden, nur von der Rue de Rouleau keine Spur, und die Leute, die Felix auf der Strasse nach der Strasse fragt, haben ebenfalls keine Ahnung. Schliesslich hilft ihm die freundliche Wirtin einer Kneipe weiter – Felix hat die richtige Adresse zielsicher mehrere Male knapp verpasst.

Das Zimmer ist enttäuschend – klein, das Bett unbequem, obwohl neu, die Dusche in der Zwischenetage ohne Warmwasser, wie Felix später bemerkt. Gewiss, das Haus ist alt und die Lage perfekt, aber mehr als die 45 Euro, die Felix pro Nacht bezahlt, ist seine Kammer wirklich nicht wert. Aber was solls, Felix ist froh, wieder einmal irgendwo untergekommen zu sein. Ein Bett braucht der Mensch; ein Nest braucht der Mensch, und sei es auch noch so bescheiden. Nun kann Felix sich etwas entspannen und merkt, dass er ziemlich müde ist. Er ist 47 und spürt das auch, jedes einzelne verdammte Jahr schleppt er mit sich herum, wie Jahrringe haben sie sich um seinen Bauch gelegt – kein Wunder, dass dieser immer umfangreicher wird. Felix setzt sich in eine Kneipe, eine italienische, wie er bald merkt, und er bestellt ein Bier und eine Pizza mit Salat und natürlich Wein und später Grappa und flirtet die ganze Zeit mit einem jungen Marokkaner? Algerier?, der hinter der Theke als Buffetbursche arbeitet, der Bursche ist wirklich noch sehr jung und sehr sexy und er schaut Felix die ganze Zeit an und lächelt ihm zu und Felix lächelt mit leuchtenden Augen zurück, sie tauschen auch mal ein Wort, ach, es ist fast wie in alten Zeiten, nur dass die alten Zeiten eben vorbei sind und Felix, wie gesagt, inzwischen ein älterer Herr ist, aber auch ältere Herren können ja ganz nett sein, wie man weiss. Und dann bezahlt Felix und gibt dem Falschen das übertriebene Trinkgeld – der Buffetbursche darf ja nicht einkassieren – und verfügt sich zurück in sein lausiges Hotelzimmer, wo er, trotzdem zufrieden und mit einem behaglichen Seufzer, endlich die müden Haxen hochlagern kann, sich ein letztes Glas Wein genehmigt und sich im ersten deutschen Fernsehen, der Sender ist aufs Netz des Hotel-TVs aufgeschaltet, noch ein paar Infos zu den anstehenden deutschen Wahlen reinzieht. Es geht um einen Typen namens Möllemann, der mit antisemitischen Äusserungen auf Flugblättern, die er zum Wahlkampf verteilen liess, aufgefallen ist. Das sind die Wonnen des Alters, sozusagen, oder wenigstens die Wonnen des persönlichen Älterwerdens von Felix, nicht Möllemann natürlich, aber dass er sich im Hotelzimmer damit begnügen kann, in die Glotze zu schauen und sich nicht von irgendeiner innerpsychischen Instanz zu irgendeiner Form von Nachtleben genötigt sieht oder gedrängt fühlt. Dann schläft Felix ein, aber, verdammt noch mal, ihm fehlt sein zweites Kissen, an das er sich klammern kann und das gewissermassen unabdingbar ist, und das Bett fällt etwas nach hinten ab, was es nicht sollte, denn das ist ungut beim Schnarchen, weil so das Gaumensegel oder wie dieses Ding heisst irgendwie eingeklemmt oder an den Rachen gepappt wird, sodass Felix nach nächtlichem Atemstillstand, einem so genannten Schlaf-Apnoe-Syndrom, mit einem Gefühl der Atemnot erwacht – aber ist ja egal, Felix hat Ferien, er kann ausschlafen und träumt verrücktes Zeug, unter anderem vom Job, was für ein Witz.

Am nächsten Tag wacht Felix dann trotzdem einigermassen gut gelaunt auf. Das Hotelfrühstück ist auch eher eine Sache, über die wir gnädig den Mantel des Schweigens breiten wollen. Aber draussen ist wunderschönes Wetter, kalt, wie gesagt, jedoch ein Licht vom feinsten. Brüssel ist wirklich eine beeindruckende Stadt. Felix hat vor Kurzem damit angefangen, zu fotografieren, mit einer ganz einfachen Canon ohne Zoom, die Panorama-Bilder machen kann und die Felix gegen seine Coop-Superpunkte eingelöst hat. Felix beginnt also eine lange Stadtwanderung. Nur schon in unmittelbarer Umgebung des Hotels gibt es jede Menge attraktiver Bilder, in diesem besonderen Licht. Jede Menge Altstadt, leicht zu finden bei der guten Beschilderung, die sich die Touristikabteilung der Stadt hat einfallen lassen, jede Menge Wanderwege. Felix lässt sich treiben durch Alt und Neu. Der grosse Markt ist fantastisch, wirklich einer der grandiosesten Plätze, die es in Europa gibt. Maneken Pis ist lächerlich, was dieser pinkelnde Knabe an sich hat, um zum Wahrzeichen zu werden, ist Felix schleierhaft. Kirchen, Gebäude, Bilder, Ausblicke, Überblicke, nicht zu beschreiben, aber zu fotografieren. Felix marschiert und knipst, er sitzt in der Sonne und im kalten Wind, in Parks und im botanischen Garten, und er geniesst vor allem dieses besondere Licht, die Vermählung dieser Stadtlandschaft mit diesem Licht, dass es nur jetzt, Ende September und oft im Oktober und selten auch noch im November auf diese Weise gibt, es ist das klare, unaggressive Licht des Herbsts. Das Licht des Sommers ist pampig, matschig, erdrückend. Im Frühling ist es einfach Sonnenlicht, das zu blühenden Bäumen und Blumen passt. Aber jetzt ist es strahlend, klar, konturierend.

Irgendwie zieht es Felix in die Eglise de Sablon, eine gotischen Kirche aus dem 15. Jahrhundert, die der Jungfrau Maria gewidmet ist. Die erste Liebfrauenkirche von Sablon wurde 1304 von der Gilde der Armbrustschützen gestiftet und zu Beginn des 15. Jahrhunderts teilweise, dem Geschmack der Zeit entsprechend, barock verschönert. In dieser Kirche wird seit 1348, als Herzog Johann III. von Brabant in Brüssel residierte, die Notre-Dame à la Branche verehrt, die im «göttlichen Auftrag» von Beatrijs Soetkens, der Frau eines armen Tuchwebers, aus der Antwerpener Liebfrauenkirche entwendet worden war. Nach dem «gottgewollten» Raub der Statue der heiligen. Jungfrau, so erzählt die Legende, erwies sich die Reise von Antwerpen zurück nach Brüssel als sehr beschwerlich. Mit einem kleinen Ruderboot musste sich die fromme Reisende gegen heftigen Wind, gefährliche Strömung und Wellengang vorwärtsbewegen. Himmlische Kräfte erbarmten sich und trugen den hölzernen Kahn mit der gleichzeitig gottesfürchtigen und langfingrigen Beatrijs pfeilschnell und sicher durch die Gischtkronen des aufgepeitschten Wasser. Vor einer herbeigeeilten Menge ging Beatrijs mit der Statue der heiligen Jungfrau am Übungsplatz der Schützengilde an Land. Ob ihrer wundersamen Rückkehr wurde beschlossen, fortan der heiligen Jungfrau zu Ehren eine grosse Prozession abzuhalten.

In diese Muttergotteskirche zieht es Felix nun also mit aller Kraft. Er zündet eine Kerze für 50 Cent für seinen kürzlich verstorbenen Vater an. Und dann setzt er sich auf einen der bereitgestellten Stühle und ergibt sich der Stimmung in diesem hohen, weiten Raum. Felix ist nicht katholisch, er würde sich nicht einmal als Christen bezeichnen, aber er spürt die Anwesenheit der Muttergottes und des leidenden Jesus in diesem Raum trotzdem. Er sitzt da und die Tränen strömen aus ihm heraus. Er spürt seine Seele wie eine offene, brennende Wunde, und er spürt all den Schmerz der Welt, seinen eigenen, aber auch den der anderen, und ein unendliches Meer von Traurigkeit, das unterirdisch in ihm wogt. Dies zu spüren und es dem Unbekannten, Grossen, das Felix in diesem Raum empfängt, zu übergeben oder es ihm darzustellen – wir finden kein besseres Wort –, ist in diesem Moment sein Gebet. Felix erwartet keine Antwort darauf und es ist keine Art von Gebet, das erhört werden könnte, aber es ist eben die einzige Art, wie Felix beten kann.