Donnerstag, 31. Juli 2008
Hänsel und Gretel
Hänsel und Gretel liebten sich sehr. Das war auch kein Wunder - in der Waldeinsamkeit, in der sie lebten, hatten sie nur einander, um sich zu lieben. Sie kannten keine Menschenseele ausser sich und die Eltern. Und die Eltern waren bös uund alt. Die Eltern liebten das Leben nicht mehr, weil auch das Leben sie nicht mehr liebte und sie mit allerlei Gebrechen schlug. Hänsel und Gretel aber waren jung und wollten leben, und das dichte Grün des Waldes war für sie noch voller lockender Verheissung.
Vater und Mutter standen ihnen jedoch vor dem Glück. Wenn sie sich küssen und herzen wollten, mussten sie sich im Sommer im Gebüsch, im Winter im Geräteschuppen verstecken. Die Eltern sahen es nicht gern, wenn Hänsel die Gretel so berührte, wie sie manchmal von ihrem Vater berührt wurde. Sie fanden, das gehöre sich nicht, und Vater verprügelte Hänsel, während Gretel von der Mutter in die Kartoffeln geschickt wurde.
Das machte die beiden Kinder manchmal sehr traurig und sehr wütend. In ihnen wuchs das Aufbegehren und verwandelte sich in Hass. Hänsel wurde von Monat zu Monat grösser und stärker und liess sich von seinem Vater nicht mehr so einfach verprügeln - er prügelte jetzt zurück, mit der ganzen wilden Kraft seiner dreizehn Jahre. Man wird schnell erwachsen, wenn man beim Wald wohnt. Gretels Augen hatten jetzt manchmal einen eigentümlichen Glanz, wenn sie ihre Eltern beobachtete. Es war ihr klar geworden, dass sie mehr wusste als die Mutter. Die Mutter kannte die Wahrheit des Lebens nicht. Die Frau war verhärmt und voller Bitterkeit und Angst. Nicht einmal im Jahr sah Gretel ihre Mutter herzhaft lachen. Auch weinte sie fast ebenso selten, und das war beinahe noch schlimmer, denn sie hatte allen Grund zum weinen. Der Vater schlug auch die Mutter mehrmals am Tag. Er schlug sie weit häufiger, als er sie zärtlich berührte.
In Vater war eine unentwegt grollende Wut wie ein unterirdischer Vulkan. Seine ganze Kraft, die noch immer nicht unbeträchtlich war, verschwendete sich in Schlägen und sinnlosem Herumgebrüll.
Manchmal schauten sich die beiden, Hänsel und Gretel, lange an und sahen in den Augen des anderen den eigenen Wunsch gespiegelt.
Eines Abends, in der lichtlosen Jahreszeit, war es mit Vater besonders schlimm - er schlug immer wieder auf die am Boden liegende Mutter ein. Mutter schrie nicht mehr, sie wimmerte nicht einmal mehr. Da nahm Hänsel einen grossen Stein und schlug ihn dem Vater krachend über den Schädel.
Nachdem das Familienproblem auf diese Art gelöst wwar, machten sich Hänsel und Gretel auf den Weg, um endlich den Wald zu erforschen und vor allem herauszufinden, was hinter dem Wald war - wieder ein Wald? und dann eine Hütte am Rand des Waldes? in der eine Familie wohnt? Vater, Mutter, Hänsel und Gretel?
Vielleicht gab es aber auch gar nichts hinter dem Wald. Vielleicht hörte der Wald nirgendwo auf. Dann würden sie sich höchstwahrscheinlich in ihm verirren wie auf dem Boden eines Meeres.
Das sollte sie aber nicht daran hindern, die Erkundung des Waldes zu wagen, doch nicht ganz ohne Rettungsseil, wie Hänsel überlegte. Wir müssen eine Spur ziehen, sagte Hänsel, dann finden wir notfalls wieder hierher zurück.
Niemals, erwiderte Gretel darauf heftig, werde ich in dieses Haus zurückkommen! Lieber verdursttdurste ich in dem verdammten Wald, oder werde von den Wölfen gefressen!
Hänsel beschwichtigte Gretel und gab vordergründig nach. Er wollte jetzt, wo sie frei waren, nicht gleich mit Streit anfangen. Aber im Geheimen dachte er, trotzdem nach seinem Willen zu handeln. Frauen verstehen das nicht. Bei denen heisst es immer gleich: Alles oder nichts!
Gretel bemerkte nicht, dass Hänsel hin und wieder einen Brotkrumen fallen liess. Allerdings fiel ihr auf, dass Hänsel so frohgemut war; auch schien es ihr, als würde er mit weniger sanfter Stimme zu ihr sprechen, seit sie unterwegs waren.
Sie marschierten manchen Tag immer tiefer in den Wald hinein. Des Nachts fürchtete sich nicht nur Gretel vor der Dunkelheit und den Geräuschen des nächtlichen Waldes, während sie dicht aneinandergedrängt unter der Wolldecke sassen und ein wenig zu schlafen versuchten. Die Worte waren ihnen allmählich ausgegangen, und meistens blieben sie jetzt stumm. Die Vorrräte, die sie mitgenommen hatten, wurden allmählich knapp, und noch immr wollte der Wald kein Ende nehmen - im Gegenteil, er wurde immer dichter und ruhiger, nur selten noch waren Vögel zu hören, und die Baumwipfel wuchsen immer höher in den Himmel hinein, so dass kaum mehr ein Stück des Himmels zu sehen war. Hänsel liess immer weniger Brotkrumen fallen - es war auch kaum mehr Brot da. Inzwischen hatte auch er den Gedanken an eine Rückkehr fast aufgegeben - allerdings auch die Hoffnung, jemals wieder lebend aus diesem Wald herauszukommen.
Und dann begann es auch noch zu regnen - das Rauschen auf dem Blätterdach musste Regen sein, und dass es tropfte und gurgelte, feucht und kalt wurde, liess ebenfalls auf Regen schliessen. Verzagt versuchten sie, unter einem Gebüsch kauernd, sich aneinander zu wärmen. Gretel sagte: Wir werden sterben. Hänsel nickte stumm und dachte bei sich: Das kann noch lange dauern.
So sassen sie, eine kleine Unendlichkeit lang, während ihre Verzweiflung in sich zusammensank und zu einem Häufchen schmutziger Trostlosigkeit wurde. Bis schliesslich kein Wollen und kein Aufbegehren mehr in ihnen war. Bis sie ein Teil der Erde wurden, auf der sie sassen, und warteten, ohne zu warten, atmend, ohne zu atmen, schauend mit blindem Blick. Wenn sie in sich geschaut hätten, dann würden sie wohl mit Erstaunen wahrgenommen haben, dass die Angst aus ihren Herzen verschwunden war.
Da löste sich der Wald vor ihren Augen plötzlich auf und gab eine sonnenüberflutete Lichtung frei. Auf dieser stand ein kleines Häuschen. Es stand ganz still und friedlich da, und aus dem Kamin kräuselte Rauch.
«Siehst du das auch?», fragte Gretel flüsternd. «Wir sind wieder zu Hause!»
«Verdammt!», meinte Hänsel rauh und räusperte sich, «wie ist denn das gekommen? Es scheint jemand da zu sein.»
Die Nackenhaare sträubten sich ihm.
«Komm, wir sehen nach!», drängte Gretel. «Ich habe Hunger!»
«Bist du wahnsinnig! Ich sagte doch schon: da ist jemand. Vater, Mutter…», stammelte er.
«Die sind doch tot, du Schwachkopf!» Gretel funkelte ihren Bruder an. «Sei kein Feigling! Los, schauen wir nach!»
Und sie schlichen sich an das nächstgelegene Fenster und schauten rein.
Nichts rührte sich in der Stube.
Nur die Katze lag faul auf dem Fensterbrett und schaute sie verächtlich mit einem halben Auge an.
Keine Hexe braute am Herd einenZaubertrank. Doch lag auf dem Tisch eine halbe Wurst und ein Kanten Brot.
Jetzt liessen Hänsel und Gretel alle Vorsicht fahren.
Doch auf der Schwelle der Tür versperrte ihnen gross der Vater den Weg und brüllte mit rot unterlaufenen Augen: «Wo habt ihr gesteckt?! Euch werde ich es zeigen!». Und er griff nach der Rute und holte nach Hänsel auf. Auch Mutter lebte noch, wie sich jetzt zeigte. Zeternd und zitternd rang sie die Hände. Gretel staunte mit offenem Mund, und Hänsel vergass in seiner Überraschung, sich gegen die väterlichen Prügel zu wehren. Eines Tages, als er besoffen war, schlug Vater die Mutter so sehr, dass sie nicht einmal mehr wimmerte. Daraufhin liess Hänsel einen grossen Stein auf den Schädel des Vaters krachen. Wenig später verliessen Hänsel und Gretel die Lichtung und machten sich auf in den Wald.
So muss Hänsel seinen Vater immer wieder von neuem umbringen. Hänsel wird älter. Der Wald hat seine Verlockung verloren, ist eher Fluch als Verheissung. In Hänsel ist eine ständig grollende unterirdische Wut. Mit Gretel hat er ein, zwei Kinder. Auch Gretel ist älter geworden - eine bittere, verhärmte Frau. Die beiden Kinder, das Mädchen und der Knabe, werden aufwachsen und sich zu lieben beginnen, da sie nur einander haben dazu.
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