Montag, 4. Februar 2008

Wiener Blues für den König der Fische




Felix sitzt wieder einmal im Café «Hummel» in Wien und hat sich einen Tee und eine Soda bestellt. Der Kellner hat ihn zwar komisch angeschaut, aber Felix findet, dass es um halb elf in der Früh noch entschieden zu früh für das erste Bier ist. Ausserdem hat er gestern Nacht im Zug über die Schnur gehauen. Er hat eine Flasche Wein geleert, es war ein guter Château-Neuf-du-Pape Jahrgang 1983. Er bestellte sich dann auch noch Bier und schluckte eine – zwar schwache – Schlaftablette. Daraufhin schlief er tief und fest, wahrscheinlich hat er entsetzlich geschnarcht. Als er erwacht, gleitet vor dem Fenster eine vom ersten blassen Februarsonnenschein erhellte schneebedeckte Landschaft vorbei. Er erinnert sich undeutlich an einen Traum von Bären, die ihn über einen offenen weiten Platz gejagt haben. Sein Hals schmerzt, das aufgequollene, entzündete Halszäpfchen klebt am ausgetrockneten Gaumen. Er bestellt beim Couchetier mit krächzender Stimme einen Kaffee und eine grosse Flasche Mineralwasser. Immerhin, Kopfschmerzen hat er keine. Über Nacht hat sich auch nicht der Weltuntergang ereignet, oder vielleicht doch, jedenfalls ist ihm dies wohltuend egal.
Er mietet sich im Hotel Concordia, einem Jugendstilhaus, zum reduzierten Winterpreis ein kleines Zimmerchen im fünften Stock. Nach einer unverhältnismässig langen Fahrt im altersschwachen Lift liegt er auf dem Bett, verkatert und völlig erschöpft, und ringt nach Atem. In seinem Kopf formen sich Erinnerungen an Gerüche, an Bilder und Gefühle zu einem geilen Brei. Mit einem Gefühl von unbefriedigbarem Durst auf der Zunge fällt er in einen unruhigen Schlummer.
Er sitzt nackt auf dem Bett. Seine Augen brennen hinter dem Dunkel der Hände. Plötzlich fühlt er, wie sanfte Finger über sein Haar streichen. Er lässt es einfach geschehen, ohne sich zu fragen. Lässt es geschehen, dass sich fremde Lippen auf seiner Haut niederlassen. Dass sich ein geschmeidiggliedriger, samthäutiger Körper an den seinen schmiegt. Seine Sinne werden von einem tiefen weichen Schwarz umschmeichelt, in das er sich bedingungslos hineinfallen lässt.
Vor seinen Augen dämmert es grünlich. Er befindet sich einige tausend Meter unter Meer, auf dem Grund, inmitten eines Waldes von schwänzelnden züngelnden Pflanzen. Umschwänzelt und umzüngelt von fischleibigen Jünglingen. Er selber ist ein fischleibiger züngelnder und schwänzelnder Jüngling.
«Majestät haben geträumt!», blubbert ihm eine Stimme zu. Es ist die Stimme des ersten königlichen Unterwasserhofnarren. Er erwacht und befindet sich in einem Hotelzimmer im achten Wiener Bezirk. Die Nacht des Ozeans, in die seine Sinne so wohltätig gebettet waren, hat sich gelichtet. Er nimmt neben sich die Umrisse eines schwarzen Körpers wahr, während er sich auf den linken Ellenbogen aufstützt.
«Wer bist du?», fragt er. Die schwarze Gestalt knurrt liebevoll und kitzelt ihn mit den Krallen ihrer Pfoten. Da schläft Felix wieder ein.
Am andern Morgen wird er durch ein heftiges Pochen geweckt. «Wir dulden keine Gäste bei den Gästen!» tönt die Stimme des Portiers in kräftigem Wienerdialekt durch die Tür. «Ich bin allein, bin doch so allein!», gibt Felix fast schreiend zur Antwort, von einem Moment auf den andern hellwach, und tastet mit den Händen panisch im Bett herum. «Ich bin allein, allein, allein!» Da bumsen aber schon starke Polizistenschultern gegen die Tür von Zimmer 502 im fünften Stock des Hotels Concordia im achten Wiener Bezirk. Felix sitzt aufrecht im Bett, mit nacktem Oberkörper und gesträubtem Haar. Vier Bullen mit Maschinengewehren im Anschlag – spezielle Eingreiftruppe oder so – stehen um ihn herum. «Wo hast du ihn versteckt?», schreit der Polizist, der offensichtlich der Anführer der Bande ist.
«Er sitzt im Kreuzpunkt, er hat sich verzogen», antwortet Felix darauf nicht ohne Würde. «Es gibt für euch nichts zu tun. Und überhaupt, ich hatte gedacht, Austria sei ein monarchistisch gesinntes Land. Ich bitte also um ein wenig Achtung für den König der Fische!» Worauf die Polizisten sich höflich und kratzfüssig empfehlen.

Quatsch, so spielt sich diese Geschichte natürlich nicht ab. Felix hat bloss geträumt. Allerdings ist die Luft im Abteil wirklich unglaublich trocken, und als der Couchette-Mann Felix fürs Frühstück weckt, ist sein Mund tatsächlich verklebt, das Halszäpfchen ist aufgequollen und tut beim Schlucken weh. Während des Frühstücks unterhält Felix sich mit einem Ungarn, der unzählige Tabletten – homöopathische, wie er betont, er habe einen kleinen Herzinfarkt gehabt – schluckt, über das Wetter, das immer ein dankbares Thema ist. Und Felix wohnt in der Tat im Hotel Concordia in der Josefstadt, da das Hotel Wolf geschlossen ist momentan, sonst würde Felix natürlich das Wolf wählen, wo er vor sieben Jahren logiert hat, Felix ist ein Gewohnheitstier und ausserdem ein wenig nostalgisch veranlagt. Man gibt ihm ein ruhiges Zimmer im fünften Stock des Jugendstilhauses, in dem das Hotel untergebracht ist, und das Felix ganz gut gefällt.

Felix flaniert in die Innenstadt, in den 1. Bezirk, isst im «Nordsee» etwas Fischiges und trinkt dazu ein grosses Bier; vorher, unterwegs, hat er sich sehr komisch gefühlt, irgendwie abgehoben, ähnlich, wie letztes Jahr in Cerbère. Tripartig, so, als würde er nächstens den Verstand oder wenigstens den gesunden Realitätssinn verlieren. Dabei war’s wohl einfach wieder Kater und Müdigkeit. Nach Fisch und Bier geht es ihm ein bisschen besser. Er beschliesst, da er doch nun Archäologe ist, dem Naturhistorischen Museum einen Besuch abzustatten. In den grossen Sälen ist er manchmal einer Ohnmacht nahe, aber er hält tapfer durch, nur die zoologische Abteilung durchquert er fast im Laufschritt. Die kalte Luft draussen tut gut – es hat heuer viel Schnee in Wien. Felix wird fast wieder frisch. Er geht zu Fuss alte Wege – in die Kreuzgasse, wo er, wie wir uns erinnern, einmal in einer WG gewohnt hat und von einem Verehrer gebadet wurde, lang ist es her. Er fährt dann mit der Strassenbahn zurück, Kopfhörer des Walkman übergestülpt, und trinkt im «Hummel» Bier, schlürft eine Leberknödelsuppe.



Dann geht er aufs Hotelzimmer und schläft eine Runde – es ist wirklich ruhig hier, man schläft herrlich. Etwa zwei Stunden später erwacht er und fühlt sich nach wie vor komisch, irgendwie zerschlagen. Er hat noch keinen Hunger. Er liegt auf dem Bett und holt sich einen runter (nein, das hat er vor dem Einschlafen gemacht), er liegt also auf dem Bett und liest in einem Krimi (Sjöhwall/Wahlöo: Der Mann, der sich in Luft auflöste) und trinkt dann eine Dose Zirrer-Bier, die er sich eigentlich für die Nacht in einem Laden gekauft hat.



Der Roman, der in den Sechzigerjahren spielt, handelt von einem schwedischen Journalisten namens Alf Matsson, der spurlos in Ungarn verschwunden ist. Er war im Auftrag einer Schwedischen Zeitung nach Budapest geflogen, um dort ein Interview mit einem Boxer zu führen und über politische Ereignisse zu berichten. Da sich Alf Matsson seit einer Woche nicht zu Wort meldet und man ihn auch nicht im Hotel erreichen kann, erstattet man dem Aussenministerium Bericht über den Fall. Die Angelegenheit muss jedoch inoffiziell behandelt werden, da sonst politische Problemen zu befürchten oder gar zu erwarten wären. Die Stockholmer Polizei wird eingeschaltet und schickt Martin Beck, welcher wegen dieses Falles seinen Urlaub opfert, nach Budapest. Dort erfährt der Kommisar im Hotel, dass Alfred Matsson noch am Tag seiner Ankunft das Hotel verlassen hat, ohne Pass und Gepäck, und seitdem nicht mehr aufgetaucht ist. Martin Beck begegnet einem schwedischen Kollegen, der ihm bei dem Fall hilft. Da es weder Hinweise noch Spuren von dem Journalisten gibt, weiss Martin Beck nicht, was er tun soll. Doch eines Nachts wird er am Donaukai von Unbekannten zusammengeschlagen und plötzlich sieht die Sache anders aus.

Um etwa halb acht schlägt Felix das Buch zu und verlässt das Hotel. Durch die Strozzi- und Neubaugasse will er die Gegend an der Linken Wienzeile, wo sich die Schwulenlokale befinden, erreichen. Unterwegs stösst er auf ein chinesisches Lokal, das ihn sozusagen zum Eintreten auffordert. Es befinden sich nur wenige Gäste in dieser Gaststätte, dafür hängen chinesische Schlangen in der Luft herum. Felix bestellt zuerst eine Frühlingsrolle, dazu ein Viertel Rotwein, nicht ganz passend, dann Nasi Goreng, auch nicht gerade chinesisch, eine Riesenplatte voll und saugut, Felix überisst sich, bestellt, nachdem das Viertel Rotwein alle ist, noch warmen Reiswein zum Verdauen, merkt aber bald, dass Reiswein beim Verdauen wenig bis gar nichts hilft. Eher im Gegenteil. Dann geht er runter zur Linken Wienzeile. Zuerst, im Alfi, setzt er sich an die Bar. Junge und hübsche Knaben gibt es da und alte, dickbäuchige Freier, es ist, als sei er nie weggewesen. Felix schaut bloss zu, wie die Geschäfte abgewickelt werden, hat selber nichts im Sinn, fühlt sich zu alt, um als Stricher durchzugehen, und zu jung, um den Freier abzugeben (was freilich ein Irrtum ist; man ist nie zu jung, um Freier zu sein, bloss Geld muss man haben). Felix trinkt zuerst Kaffee und Clavados, dann ein Krügl Bier. Das Krügl (oder heisst es etwa der Krügl?) bedeutet in Wien ein grosses, das Seidl (der Seidl?) ein kleines Bier. So was weiss man natürlich, wenn man in Wien als Habitué durchgehen will (es heisst das Krügl, definitiv). Einer der Stricher fasst Felix so ziemlich ins Auge, aber dieser sagt Felix nicht zu – zu männlich, zu kräftig, mit Schnauz. Hingegen ist ihm der Barkeeper sehr sympathisch. Sonst hat Felix mit niemandem auch nur Augenkontakt.
Nächste Station ist das «Manhattan». Dieses Lokal kennt Felix nicht, weil es neunundsiebzig noch nicht existierte. Es hat genau einen Jungen da, der Felix gefällt, aber der ist schon vergeben. Felix trinkt ein Achtel Roten, er ist müde und es wird ihm bald langweilig. Er versucht es dann noch in einem letzten Lokal, das «Freddys Bar» heisst und sich auch irgendwo da in der Gegend befindet. Freddy – Felix nimmt an, dass der Glatzkopf hinter der Theke Freddy sein muss – hat nur wenige Gäste: ein paar ältere Herren. Felix kann ihren Klatsch ziemlich gut mitverfolgen, es ist, wenn er die Augen schliesst, wie ein Hörspiel in astreinem Wienerdialekt, das heisst, es schmäht nur so daher. Dazu furchtbarste Dudel-Schunkel-Musik. Felix trinkt ein Achtel Rotwein. An einem Würstlstand nimmt er dann noch ein so genanntes Frankfurter Würstl, wie man es nur in Wien bekommt, zu sich, als Bettmümpfeli, wenns denn schon kein Würstl von einem feschen Burschn sein soll. Schon vor zwölf ist er wieder im Bett und überlegt sich, warum es zum Beispiel in Wien keine Wiener Würstchen zu kaufen gibt oder in Berlin keine Berliner und in Paris auch keine Pariser. Und der Hamburger, den man in Hamburg immerhin bekommt, ist auch keine ausgesprochene Hamburger Spezialität.

Am nächsten Tag fährt Felix mit der Stadt- und der Strassenbahn raus nach Grinzing und dann durch die verschneiten Rebkulturen zum Kahlenberg hoch. Das ist ziemlich schön. Im Restaurant auf dem Kahlenberg trinkt er ein Viertel Weisswein. Dann steigt er runter nach Nussdorf. Daselbst in einer Kneipe ein weiteres Viertel. Dann mit der U-Bahn vom Bahnhof Heiligenstadt aus (graue leere Häuserfronten, trostlos) zur U-Bahn-Station Schwedenplatz und von da aus quer durch den 1. Bezirk in «seine» Josefstätter-Strasse und ins Hummel, wo Felix gebackene Champignons, eine Spezialität des Hauses, isst und ein weiteres Viertel trinkt. Dann zwei Stunden schlafen. Duschen, rasieren, wichsen, oder nein: wichsen, duschen, rasieren. Ein Bier im «Strozzihof», eine, zwei Codein-/Ephedrin-Tabletten. Felix fühlt sich jetzt in Form. Dann runter an die Wienzeile, rein in die «Gärtnerinsel», ein verrücktes Lokal, hohe Räume, bisserl düster, alter Bullerofen, surrealistische Bilder an der Wand, paar übriggebliebene langhaarige Wiener Freaks. Klaus Naomi singt, opernhaft. Sehr verladene Vibrationen. Felix bestellt Rindfleischsalat pikant und Bier. (Noch nie was gehört von Klaus Naomi? Macht nichts, der ist auch in den Achzigerjahren nicht mehr als ein Geheimtipp, ein deutscher Untergrunder in New York, und wir meinen, gehört zu haben, dass der schon vor einigen Jahren das Zeitliche gesegnet hat, Aids, Überdosis, so was. Schwul war er natürlich auch, ein schwuler Untergrundsänger. Couscous Poulette schreibt in seinem/ihrem Blog über Klaus Naomi: «Ce gay-lurron, aux faux airs du Petit Prince, posait sa tessiture de ténor mix castrat sur des airs de cabarets. Mmmm, de Simple man à Waisting my time, difficile de définir le style Naomi. Androïde du côté vestimentaire, maquillage de geisha, voix d’opéra, être bizarre … tout cela à la fois.» Das kann man gelten lassen. Und fragen Sie uns bloss nicht, wer zum Teufel Couscous Poulette ist.)



Manhattan. Ein alter Rechtsanwalt, scharf auf junge Boys, aus Jersey, Kanalinsel, kippt einen Scotch nach dem anderen, korrigiert das Englisch von Felix, treibt Schweizer Geographie mit ihm und will wissen, wie Felix es mag, von vorn oder von hinten, mit oder ohne Rohrstöckchen. Immerhin zahlt er Felix ein Bier. Codein/Ephedrin. Ein Amerikaner erzählt, dass im wahren Manhattan, also dem am anderen Ende des grossen Teichs, alle Saunen und viele Bars geschlossen worden seien, wegen Aids, da müssten die Schwulen aus dem Big Apple eben nach good old Europe rüberschippern, um Scenelife zu erleben. Der sadistische Engländer mit dem Lehrerkomplex meint, Aids sei von den Kommunisten in die westliche Welt eingeschleust worden. Nuts! ruft Felix, shit!
Es schneit. Felix will noch in die Disco «Why Not», im ersten Bezirk. Er ist schon ziemlich verladen. Felix hat das Gefühl, man wolle ihn in diesem Etablissement verarschen und übers Ohr hauen (will man auch, aber so besoffen ist Felix denn doch nicht, dass er zweimal fürs gleiche Bier bezahlt). In der Disco hat es anfangs wenige Leute, aber so gegen eins trudeln die Gäste ein. Disco-Scheiss-Musik und stiere Videoclips. Der Ami von vorhin schmust mit einem süssen Thaiboy. Felix denkt mit Wehmut an Tuj. Er hat bei all den knackigen jungen Männern aber nicht den Hauch einer Chance. Keiner schaut ihn auch nur mit dem Arsch an.
Felix geht zu Fuss nach Hause oder vielmehr zurück ins Hotel, nach Hause wär ja wohl ein bisschen weit, verirrt sich in den eisigen, einsamen sibirischen Strassen voller Eis und Schnee, zerreisst in einem Wutanfall den Stadtplan, den er nicht mehr deuten kann. Er findet dann, gegen halb vier und völlig durchfroren, aber wieder halbwegs nüchtern, doch noch und wie durch ein Wunder zum Hotel zurück, allerdings von einer ganz anderen Seite her, als er erwartet hätte. Er schläft mit einem Gefühl der Enttäuschung ein.
Am nächsten Abend, kurz vor sieben, sitzt Felix wieder in der «Gätnerinsel» vor einem Viertel Roten. Es ist saukalt draussen jetzt. Felix war heute in Schönbrunn, zu Fuss. Plötzlich – nein, nicht plötzlich, schon gestern tat es ihm ein bisschen weh – schmerzt sein Knie so stark, dass er kaum mehr gehen kann. Felix humpelt also zur nächsten U-Bahn-Station und fährt zurück in die Innenstadt, um zuerst im «Bräunerhof» zu sitzen…



… und dann ins Kino zu gehen. Es läuft «La cage aux folles», Teil 3. Der erste Teil war ja noch lustig, aber die Story dieses dritten Teils ist dünn und dümmlich. Irgendwie passend zu diesem Wienaufenthalt, der kein sehr gelungenes Revival darstellt.

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