Mittwoch, 11. November 2009

Traurige Jäger (17)

Als rosig und kitschig und kalifornisch der Morgen sich am Himmel breitmachte, lag Sancho Pansa noch immer am Rand der Strasse, versunken in einen tiefen, komatösen Schlaf. Die Strasse war ein Highway, wenig befahren um diese Tageszeit, und von Mauern war weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil – die Strasse führte durch eine Wüste.

Jetzt näherte sich ein struppiger Hund dem wie tot am Boden liegenden Sancho, um ausgiebig an ihm zu schnuppern und ihm das Gesicht und schliesslich auch das Gesicht abzulecken. Man sieht, dass der kleine struppige Hund sogleich eine tiefe Zuneigung zu unserem Sancho fasste. Durch die Berührung der warmen, raue und nassen Hundezunge wurde Sancho schliesslich wach. Er hatte soeben davon geträumt, in einer römischen Arena mit einem jungen Elefanten einen langsamen Tango zu tanzen. Das Publikum hatte getobt und gewiehert vor Lachen. Sancho konnte das nicht verstehn, Was war denn so komisch daran, wenn er in einer römischen Arena einen langsamen Tango mit einem jungen Elefanten tanzte?

Doch nun sah er ganz nah vor seinen Augen den Kopf des Hundes, der ihn mit verliebter Gier in den Augen anschaute. «Weg, weg da», ächzte Sancho und versuchte sich zu erheben, was ihm nach einiger Mühe, denn alle Glieder taten ihm fürchterlich weh, schliesslich auch gelang. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und stiess kurze begeisterte Beller aus.

Als er verwundert um sich schaute, fragte sich Sancho besorgt, wo denn die Mauern, die Stadt, der Palast und vor allem sein Freund, der Botschafter Don Quichotte von Toboso, geblieben waren. Oder hatte er das alles bloss geträumt? Dass er jetzt in einer Wüste gelandet war, hatte gerade noch gefehlt und setzte dem ganzen die Krone auf. Und liess sich eiegntlich nur durch Zauberei erklären, obwohl Zauberei, Verzauberung und Magie weit besser zu Don Quichotte passten.

Jetzt, in der hellen, nun schon heissen Sonne, neigte Sancho Pansa weit mehr als bei Nacht zum philosophischen Sichdreinschicken in die momentane Situation. «Sei es wie es sei», sagte er zu dem Hund. «Man wählt sich sein Leben ja nicht aus. Wer fragt dich denn nur schon, ob du überhaupt geboren werden willst.» Der Hund bellte zustimmend, es schien ihm auch schon so einiges widerfahren zu sein in seinem Leben. «Ein Hundeleben», stellte Sancho fest und wischte sich den Schweiss von der Stirn. Er hatte Kopfschmerzen. Indessen näherte sich mit stets sich verstärkendem Brummen ein rasch grösser werdender Latwagen oder Truck von Süden oder Norden oder Westen oder Osten her, um mit lautem Tuten an Sancho und dem Hund vorbeizudonnern.


Einige hundert Meter weiter schien es sich der Lastwagenfahrer oder Trucker allerdings anders überlegt zu haben, denn er stoppte seinen Koloss ziemlich abrupt. «Gut», dachte Sancho, «gut. Latschen wir also hin. Wir können ja nicht ewig hierbleiben, wo immer hier auch ist.» Und er nahm zusammen mit seinem Hund den staubigen Weg unter ihre sechs Beine, einen ziemlich langen Weg, der sie von dem wie ein Weihnachtsbaum geschmückten riesigen Lastwagen trennte. Sancho kam es so vor, als hätte er inzwischen den ganzen Kopf voller grauer Haare. Wir könnten jetzt gemein sein und den Trucker, kurz bevor Sancho und sein Hund das Riesenbaby ereichten, davonfahren lassen, aber stattdessen lassen wir den Fahrer, dessen Haar im heissen Wüstenwind flattert, aus dem Fenster gelehnt schreien: «Hurry up, man, hurry up, I can’t wait for you this whole fucking day!». Sancho kletterte schnaufend in die Führerkabine, der Hund sprang ihm auf den Schoss. Ehrlicher, fadengerader, schörkelloser Südstaatenrock drang in seine Ohren. Der Fahrer war rotblond und kräftig und von irischer Abstammung. Er hatte natürlich tätowierte Arme und trug eine blaue Fliegermütze mit Schirm, die zu klein wirkte auf seinem riesigen runden Schädel. Ein Gringo, dachte Sancho, wieso begegne ich jetzt einem Gringo? Der Lastwagenfahrer begann, auf Sancho einzureden in seiner breiigen Sprache. «Where you go?» fragte der Trucker, «are you Mexican?» Und, als Sancho nur verständnislos schaute: «Tu Mexico?» – ;No Mexico», sagte Sancho darauf, «Elijas, Provinca di Salamanca, España.» Das verstand nun wiederum der Trucker nicht. Er war aber überzeugt davon, dass er sich einen illegalen Einwanderer aus dem Süden in den Wagen geholt hatte, den er schleunigst wieder loswerden musste. Er war zwar ein gutmütiger Mensch, aber nicht lebensmüde. Da musste nur eine Polizeistreife kommen. Doch tauchte glücklicherweise bloss eine Tankstelle auf, «The greatest Niagara». Eine Tankstelle mit Motel und allen Schickanen. Na ja, ein bisschen abgefuckt, aber immerhin.

«Du stiegst hier aus», sagte der Trucker unwirscher zu Sancho, als er es eigentlich wollte. Oft sind ja die Menschen im Grunde genommen besser als das Resultat, das die Umstände aus ihnen gemacht haben. Sancho verstand zwar nicht den genauen Wortlaut der wiederum amerikanisch gesprochenen Worte, aber es war ihm immerhin klar, dass er in diesem Gefärt zusammen mit seinem Hund nicht mehr erwünscht war. Erst nimmt er mich mit, um mich dann gleich wieder rauszuschmeissen, grummelte er in sich hinein. Soll einer diese Gringos verstehen, Die spinnen doch, die Amerikaner. Sancho schüttelte, aber vorsichthalber mehr innerlich, den Kopf.

Da stand er nun wieder mit seinem Hund auf der staubigen Strasse. Was jetzt? Sancho, der Weltenherrscher, hatte keinen Cent in der Tasche und sah aus wie ein Landstreicher. Ach, Weltenherrscher. Eier!

Er hatte keinen Cent, keinen Sou und auch keine müde Pesete in seinem Sack, dafür einen kleinen hungrigen und durstigen Hund am Hals. Eine unangenehme Situation für einen Mann in einem fremden Land. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als durch jene Tür zu treten, über welcher ein Schild mit dem Wort «Bar» hing. «Bar», das verstand er. Ein polyglottes Wort, fast in sämtlichen Sprachen der Welt zu Hause. Gott sei Dank gibt es solche Wörter, dachte Sancho. Gott sei Dank gibt es solche Wörter, die nicht nur leere Worte sind. Bars, die man wirklich betreten kann. Beim Lesen des Wortes «Bar» merkte Sancho, dass nicht nur der Hund, sondern auch er selbst ziemlich durstig war.

Vielleicht hatten die da ja eine Arbeit für ihn, Zapfsäule bedienen oder so was, Tellerwaschen meinetwegen, dachte Sancho. Für nicht mehr als ein Glas Bier und eine Wurst für den Hund. Schliesslich befand er sich offenbar in dem gelobten Land, wo man es vom Tellerwäscher zum Millionär bringen konnte.

Montag, 9. November 2009

Traurige Jäger (16)

Und der liebe Gott schaute mit seinem unerschütterlichen dritten Auge auf diese zwei Geschöpfe seiner Vorstellungskraft, das unglückliche und das glückliche, das verzweifelte und das zuversichtliche, das dicke kurze und das dünne lange, und Er sah, es war alles gut.

Freitag, 6. November 2009

Traurige Jäger (15)

Währenddessen kämpfte sich Don Quichotte, wie immer unerschrocken, durch das zähe Gestrüpp und Gebüsch eines reichlich ungepflegten Parkes, der bald in einen veritablen Wald zu münden schien. Das wunderte den Toboser, dass es mitten in einer Stadt mit solch strengen kalten geraden Strassen hinter einfachen, wenn auch hohen und glattwandigen Mauern plötzlich und unverhofft Wildnis und gar Wälder geben sollte. Jetzt sah er sogar friedliche Sterne zwischen den Baumkronen leuchten und einen zu einem Viertel vollen Mond. Er überlegte scharf, ob und gegebenenfalls wo sohl der Stern Toboso sein fernes Licht der Erde zeigen mochte. Aber es hatte so viele Sterne am Himmel, dass Don Quichotte nur vage und seufzend «irgendwo da oben» denken konnte. Irgendwo da oben? Plötzlich schien ihm der Himmel eher als eine Spiegelung des Oben, ein Meer, in das er, vollkommen und ganz und gar zur Kugel geworden, zweifellos dereinst einmal eintauchen würde, nicht mehr Teil, sondern ununterscheidbar Ganzes geworden. Und Don Quichotte wurde, gewissermassen auf Vorschuss, von einem Glücksgefühl durchströmt, das in sich vollkommen war wie ein Windstoss, der mit den Blättern und Ästen der Bäume spielt.

Mittwoch, 4. November 2009

Traurige Jäger (14)

Für Sancho war es, als wäre er allein in einem Alptraum zurückgeblieben. Das gleissende Licht der Strassenbeleuchtung brannte ihm in den Kopf. Die Leere Strasse war kalt und gefährlich, als wolle sie sich nächstens auftun und ihn verschlingen, zermalmen mit ihrem steinernen Gebiss. Er fühlte sich wieder wie der kleine Junge, der er einmal gewesen war. Als dieser kleine Junge hatte er sich jeweils in Situationen wie diesen unter dem Bett verkrochen oder sich im Schrank versteckt, voll banger Hoffnung, dass ES, das unbekannt Drohende, das immer näher kam, ihn nicht entdecken möge. Aber hier gab es weder ein Bett, unter das man kriechen, noch einen Schrank, indem man sich verstecken konnte. Auch näherte sich auf der leeren, hell erleuchteten Strasse nichts. Trotzdem schnatterten die panischen Stimmen in Sanchos Hirn wie verrückt. Sein Herz war eine hüpfende Eisenkugel, die ihn gefangen hielt. Er schiss sich in die Hosen, ohne es zu merken. Er hielt es nicht mehr aus, bei wachem Bewusstsein zu sein, und stürzte, in den Armen einer wohltätigen Ohnmacht landend, auf das harte Pflaster der Strasse. Für einmal hatten alle Heiligen des Himmels, die er so oft anzurufen pflegte, ein Einsehen gehabt.

Sonntag, 1. November 2009

Traurige Jäger (13)

Es war Nacht und neblig. In der Nähe des Regierungspalastes waren die Strassen praktisch menschenleer. Sie waren nicht nur praktisch, sie waren definitiv menschenleer. Und hell, sehr hell beleuchtet. Die grossen herrschaftlichen Häuser aber, die sich hinter hohen Mauern mehr erahnen als sehen liessen und in geräumigen Parks verbargen, dunkel und durch kein Lebenszeichen irgendwelche Bewohner verratend. Auch Geräusche waren nur als ein fernes Brummen und Summen zu hören. Es fuhren keine Autos oder andere Verkehrsmittel durch die hell erleuchteten Strassen. Der Stadtteil, den Don Wuichotte und Sancho Pansa durchwanderten, war flach und eben, was das Marschieren nicht weniger eintönig machte. Die beiden frischgebackenen Stadtwanderer waren in einfache Gewänder gehüllt, die an römische Tuniken gemahnten: Diese Kleidung hatten sie sich von Bediensteten geborgt oder vielmehr sie ihnen gestohlen, gezwungenermassen, denn paradoxerweise besassen sie beide kein Geld. Im Palast brauchte man ja auch kein Geld.

«Dies ist», sagte Don Quichotte, nachdem sie gut eine Stunde gegangen waren und sich die Kulisse, durch die sie schritten, noch immer nicht verändern wollte, «dies ist wirklich eine kuriose Stadt, die Ihr da habt. Sind alle Städte auf der Erde so? Wir in Toboso – ob kugelförmig oder nicht – bewegen uns, wie sie vielleicht wissen, in einem Gemisch aus Wasser und Luft. Angesichts dieser Strassen, Exzellenz, verstärken sich mein Heimweh und meine Sehnsucht nach den heimatlichen Gestaden sogar noch.» – «Fürwahr, mir scheint es auch eigenartig, dass wir auf keine Untertanen stossen. Ich habe pulsierendes Leben erwartet, ein Auf und Ab und Hin und Her, Frauen in glitzernden Kleidern, Männer mit schief im Mundwinkel hängenden Zigaretten, Zuhälter, Dirnen und Gangster, Halbwelt und Lichtreklamen, im Neonlicht blitzende Autokarossen, was weiss ich. Aber das kommt schon noch. Haben sie ein wenig Geduld, lieber Botschafter. Immerhin sind bis jetzt auch keine Cerberaner aufgetaucht.» – «Die Cerberaner sind da, wo Menschen sind. Mein Gott, ich beginne mich noch nach ihnen zu sehnen!»

Und missmutig schritten sie weiter durch die Nacht. Die absolute Gleichförmigkeit der Strassen und Häuser machte es ihnen übrigens bald genug unmöglich, sich zu orientieren und eine Richtung zu halten. Auch schien das leise, feine Brummen aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen und bot deshalb keinen Anhaltspunkt. Möglich, dass sie bereits wieder auf den Palast zu gingen oder sich in einem Kreis bewegten wie in dichtem Schneegestöber oder in der schattenlosen Wüste. Sancho, der schon lange nicht mehr zu Fuss gegangen war, taten die Füsse weh, Don Quichotte, seiner körperlichen Konstitution wegen, eher das Kreuz. Auch hätte für Sanchos Geschmack allmählich eine Gast- und Raststätte, und sei es auch eine miese verkommene Spelunke, auftauchen dürfen.

Es war ein Leichtes, in diesen leeren nebligen Strassen, obwohl sie beleuchtet waren, sang- und klanglos ganz einfach verloren zu gehen. Ein Totenreich war diese Stadt: kein Fetzchen Musik erklang, kein Fitzelchen von einer stimmen war zu vernehmen, nur das feine Brummen und Summen wie von einer gewaltigen Maschine. Sancho bekam plötzlich einen Wutanfall, er stampfte und schrie, weinte und tobte, bis er sich rot und zerzaust und echauufiert auf den sinnlosen Gehsteig setzen musste. «Dieser Schweinehund hat mich betrogen!» knirschte er zwischen den Zähnen hindurch, «die ganze Zeit über schamlos betrogen! Mein Weltreich existiert nicht. Die Massen, von denen ich in meinem Wahn glaubte, sie würden mir zujubeln, waren eine Fata Morgana. Zerstoben wie eine Geisterschar, ins Nichts verpufft, pulverisiert! Die Menschheit und ihre Geschichte war also ein Traum, ein leerer eitler Traum! Wahrscheinlich gibt es auch Herrn von Klumpfuss nicht, sind der Palast und das Harem der dicken Frauen dem syphilitischen Hirn eines versoffenen Dichters entsprungen, ja, auch die dicken Frauen, für die ich in meiner Schwäche nun mal eine Schwäche habe, und wahrscheinlich haben wir es nur noch nicht bemerkt, dass es auch uns nicht gibt.»

«Beruhigen Sie sich, Exzellenz, schschsch! Ich kann Ihnen versichern, dass Sie – wenn auch vielleicht nicht absolut, so doch relativ – ganz und gar vorhanden sind» versuchte Don Quichotte, der als Toboser menschliche Existenzängste nicht kannte, den unglücklichen Welt-Diktator zu trösten, und legte ihm einen Arm um die Schulter. «Ich vermute vielmehr, dass dieser Gürtel aus Niemandsland aus purer Berechnung, das heisst zu einem ganz konkreten Zweck, angelegt wurde. Da steckt Politik dahinter. Herr von Klumpfuss ist schon ein rechter Teufel!» Don Quichotte, der die Philosophie stets mit der Tat zu verbinden versuchte, dachte scharf nach. Dann beugte er sich zu Sanchon hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: «Wir müssen über eine Mauer klettern! Wir müssen in einen Park einbrechen, ein Haus erobern! Aber vorsichtig: Die Nacht hat tausend Augen!»

Das war leichter gesagt und zur Absicht erklärt als getan. Die Mauer war hoch und glattwandig. Und nirgendwo stand etwas herum, das man als Hilfsmittel zum Klettern hätte benutzen können. Ausserdem kam es ihnen jetzt, wo sie ihren Vorsatz gefasst hatten, so vor, als würden sie von allen Seiten beobachtet. Das kalte künstliche Licht war womöglich noch heller geworden.

«Sie müssen sich mir auf die Schultern stellen, Exzellenz», sagte Don Quichotte. «Aber nein, Herr Botschafter, dieses Angebot kann ich unmöglich annehmen, bedenken Sie doch mein Gewicht. Sie müssen sich mir auf die Schulter stellen!» _ ;Ihr gewicht, Exzellenz, ist kein Argument. Ich bin ebenso schwer wie Sie, nur ist mein Gewicht anders verteilt. Mehr vertikal, sozusagen. Nein, ich muss Ihnen den Vortritt lassen: Schliesslich ist das Euer Hohheitsgebiet, in das wir hier eindringen!» - ,Eben, mein lieber Botschafter, eben! Sie sind mein Gast, und deshalb gehen Sie vor. Und jetzt Ende der Diskussion!»

Damit war der kleine höfliche Streit entschieden. Don Quichotte stellte sich also dem Weltenherrscher Sancho auf die Schultern (was leichter gesagt als getan ist, aber das ist eine andere Geschichte) und vermochte so den Mauerrand gerade eben zu erreichen. Obwohl er beträchtliche Kraft in den Fingern hatte, zog er sich nur mit viel Mühe hoch. Oben angekommen, sagte er zu Sancho, der weit unten ganz klein bei der Mauer stand: «Auf der anderen Seite scheint es ebenso steil wieder runterzugehn.» Er öffnete die Arme, als wolle er los fliegen, und verschwand hinter der Mauer, verschluckt von der Finsternis.

Montag, 26. Oktober 2009

Traurige Jäger (12)

Da ergab es sich, was selten geschah, dass Sancho Pansa, der Weltdiktator, und der ständig an seinem Hof akkreditierte Botschafter Tobosos, Don Quichotte, eines Abends allein zusammen dienierten. Es wurde wieder einmal eine Lachsmoussetarte zur Vorspeise serviert, die zwar exzellent zubereitet war, aber Sancho, im Herzen eher Gourmand als Gourmet, Liebhaber rustikaler Genüsse wie hausgemachter Tortilla und einer gut gewürzter, mit Knoblauch gespickter Chorizo-Wurst, inzwischen zum Hals heraushing.

Don Quichotte mochte einer Lachsmoussetarte erst recht nichts abzugewinnen. Er schaute sie mit seinen melancholischen, blutunterlaufenen Augen nur ganz verächtlich an. Ein paar Gänge später kam zu einem guten Burgunder (Meursault AC Dufouleur Père & Fils) ein Baron d’agneau de Lait auf den Tisch. Der dicke Diktator richtete zum ersten Mal sein Wort an den hageren, mit Appetitlosigkeit gestraften Botschafter. «Ich sehe», seufzte Sancho, «werte Exzellenz, famoser Botschafter, dass Sie auch keinen rechten Hunger haben. Wie sagt das Sprichwort schon wieder? Hunger ist der beste Koch. Und das Sprichwort hat ja ganz recht. Wie aber soll man, frage ich Sie, hier mal so richtig Hunger bekommen? – Ja ja», fuhr Sancho übergangslos fort, manchmal denke ich, dass ich zum Herrscher einfach nicht geboren bin. Ich bin zu sensibel für die Bürde dieses Amtes. Aber was will man? So einen Job kann man doch nicht einfach kündigen. Aber manchmal habe ich die Schnauze einfach voll davon, in diesem goldenen Käfig zu hocken. Unter uns gesagt, streng unter uns gesagt, mein lieber Botschafter, Sie verstehen. Für die Öffentlichkeit bin und bleibe ich natürlich kraftstrotzend, unerschütterlich, zuversichtlich. Der grosse Mann mit Durchblick. Der kleine grosse Mann mit Durchblick, von mir aus.» Sancho schwieg, um eine Träne um so wirkungsvoller aus dem Augenwinkel tropfen zu lassen. «Unter uns gesagt, streng unter uns gesagt, habe ich den Durchblick natürlich überhaupt nicht. Ich weiss nicht, wie meine Untertanen leben, kenne ihr Denken und Fühlen nicht, weiss nicht, was sie tun, was sie bewegt, freut und ärgert. Gar nichts weiss ich. Und dieser Klumpfuss, der meint, für mich denken und entscheiden zu müssen, der glaubt, für mich die Dinge und die Menschen und die Zusammenhänge zu kennen und den Durchblick zu haben, ist ein Scheusal. Ein Scheisskerl. Ein Hurensohn. Ein Mutterficker. Ein Grossmutterverkäufer. Sie sehen, streng unter uns gesagt: Er geht mir tierisch auf den Sack. Ausserdem weiss ich wohl, dass er mich verachtet. Benützt und verachtet, jawohl. Aber was kann ich schon tun? Ich kann ihn nicht entlassen, der Mann hat ja kein Amt. Er ist ein grauer Mann, und ich fürchte, es gibt noch viele von seiner Art am Hof.» Sancho schwieg, ermattet und gedankenschwer.

Don Quichotte wunderte sich über die lange Rede des Diktators, denn üblicherweise pflegte Sancho sich in Sprichwörtern zu ergehen, zu schnaufen oder zu schweigen. «Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen», fing er nach einigen Momenten des Nachdenkens an, «der vielleicht sowohl Ihnen als auch mir selbst einen noch nicht abschätzbaren Vorteil oder gar uns beiden einen plötzlichen Ausweg zeigen kann. Auch ich traue Herrn von Klumpfuss nicht über den Weg, auch wenn es den Anschein hat, dass wir beide die Cerberaner bekämpfen. Es heisst ja, der Feind deines Feindes ist dein Freund. Was man von solchen Sprüchen halten soll? Item. Item und wie dem auch sei. Ich muss die Angelegenheit endlich wieder in meine eigenen Hände nehmen. Ich habe vielleicht, ganz entgegen meiner Gewohnheit, schon allzu lange gezögert und gezaudert und zugewartet, und Sie, Exzellenz, wenn ich mir die Bemerkung untertänigst erlauben darf, wohl auch.» Sancho war plötzlich ungeduldig. «Sagen Sie schon, mein lieber Botschafter, was Sie zu sagen haben, und kommen Sie auf den Punkt!» – «Der Vorschlag ist wie jede Idee im Grunde genommen lächerlich einfach. Wir machen uns einfach aus dem Staub! Mischen uns inkognito unters Volk. Sie, um ihren Untertanen zu begegnen, ich, um auf meine Art die Sache der Toboser zu regeln.» Don Quichottes Augen glühten im alten Feuer. Aber Sancho hatte natürlich Bedenken anzumelden. Gewiss, er brannte darauf, inkognito durch die Welt zu wandern, wieder einmal richtig Hunger und Durst zu haben, wieder einmal richtig müde zu sein. Er hatte genug von dem falschen Märchen, in dem er lebte. Aber andererseits hatte er sich auch an das fette faule Leben im Palast gewöhnt, und die heimtückischen Gefahren, die von diesem ausgingen, schienen ihm weniger bedrohlich als die freie Wildbahn des Lebens draussen vor dem Palast. Und die Eitelkeit! Die Eitelkeit, ein Diktator und Weltbeherrscher zu sein, musste auch fallen gelassen werden. Das tat weh. Aber gut, dachte Sancho, lassen Wir die Eitelkeit fahren und werden wieder zu einem ich mit kleinem i, mehr noch: Scheissen Wir drauf. Er sagte: «Mein lieber Botschafter und Freund! Ihre Idee gefällt mir sogar ausnehmend gut. Allerdings gibt es noch einige Punkte zu klären. Diese Punkte gilt es dringend zu klären, bevor wir aufbrechen können. Zum Beispiel ist zu bedenken, dass ichj, soweit ich mich enrinnern kann, noch nie ausserhalb der Mauern dieses Palastes war. Genau wie der letzte chinesische Kaiser, Wu oder Pu oder Pipapo oder wie er hiess, befinde ich mich in der fatalen Situation, die Welt da draussen, die mein Reich ist, nur vom Hörensagen her zu kennen. Ich weiss nicht, welche Sprache mein Volk spricht. Ich weiss nicht, wie man sich als gewöhnlicher Mensch, sagen wir einmal als ein Mensch der Klasse F oder G, unter gewöhnlichen Menschen bewegt und benimmt, was sich ziemt oder nicht ziemt, wie und was man isst, wie und wen man liebt und überhaupt, etc. etc. etc. Dazu kommt, dass man mich kennt: Mein Gesicht flimmert über die Bildschirme, mein gesicht hängt, wie man mir immer wieder versichert hat, im jedem anständigen Wohnzimmer auf dieser Welt, ganz zu schweigen von den überlebensgrossen Porträts und Statuen, die die Räumlichkleiten der öffentlichen Gebäude und die Plätze schmücken. Man würde mich doch sofort erkennen! Wie kann ich da inkognito sein?» – «Aber nicht doch, Exzellenz! Sie haben, mit Verlaub, ein recht durchschnittliches Gesicht, das in einer gewöhnlichen Umgebung niemandem auffallen wird. Ausserdem haben sich die Leute schon dermassen an das omnipräsente Bild Ihrer Majestät gewöhnt, dass sie es inzwischen gar nicht mehr sehen. Allenfalls werden die Leute beim Anblick der einst hoheitlichen und jetzt normalsterblichen Exzellenz einen Moment lang denken: Den kenn ich doch von irgenwo her. Aber dann wird dieser Gedanke schon weitergewwandert sein, wie wir. Und was die Sitten und Bräuche in Ihrem Reich angeht, Hochwohlgeborener, das Leben draussen kennt nur einen Grundsatz: Versuch und Irrtum, also: Lernen, lernen, lernen!»

Einen Moment lang war Sancho arg gekränkt und wollte böse auf den Botschafter respektive auf Don Quichotte werden, wegen des gewöhnlichen Gesichts. Aber dann erinnerte er sich seines feierlichen Vorsatzes, aller Eitelkeit fortan abzuschwören. Zudem brachte nur schon der Gedanke an die Schwierigkeiten und und Entbehrungen der Zukunft Sanchos alten Appetit zurück: Er ass das Dessert, Poires «Palais Royal», seit langem wieder einmal mit Vergnügen und Lust. Der Diktator der Welt und der Botschafter Tobosos beschlossen, ihren Plan noch in derselben Nacht auszuführen. Ihre langen dünnen und kurzen breiten Schatten liessen sie dabei mit einem schälkischen Vergnügen in der Vergangenheit zurück.

Freitag, 9. Oktober 2009

Traurige Jäger (11)

Sancho Pansa, seines Zeichens Welt-Diktator, charismatische Identifikationsfigur, grosser Kommunikator und Lebemann, verbrachte seine Zeit inzwischen wie die Made im Speck. Zu regieren hatte er nicht viel und von dem nicht vielen immer weniger. Es ist zu vermuten, dass es ihn selbst nicht mehr brauchte – hatten sich doch die Medien seines Bildes bemächtigt. Es ist zu vermuten, dass sein Phantom ein Eigenleben zu führen begonnen hatte. Möglicherweise verfassten andere für ihn die Reden, die er nicht einmal mehr selbst zu halten brauchte. Möglicherweise fasste man in seinem Namen Beschlüsse, von denen er keine Ahnung hatte und deren Bedeutung er wahrscheinlich gar nicht verstanden hättte. Mit seinem Wort, das andere sprachen, bestimmte er über Bürger, mit denen er keinen Kontakt hatte, war überall präsent und doch ganz allein (im Glashaus seiner Lüste, umgeben von Lustdienerinnen und anderen Bediensteten, die ihm den Becher reichten, vielleicht auch die Füsse küsste, sicher ihm den Becher reichte, immer wieder, und ihm Schmeichelworte ins Ohr flüsteren).

Sancho ass mit immer geringerem Appetit, trank mit immer weniger Durst, triebs mit den dicken Frauen mit immer weniger Lust. Er fing an, sich vor Impotenz zu fürchten – eine Sache, die jeden Mann beunruhigen würde, erst recht aber einen spanischen Macho. Er wurde übellaunig und tyrannisch. Wenn er Nero – oder vielmehr Peter Ustinoff in der Rolle von Nero – gewesen wäre, hätte er sich ein Rom angezündet vor lauter Langeweile und ein Gedicht dazu verfasst oder eine Kantate. Aber es gab kein Rom mehr, das man hätte anzünden können, es gab überhaupt nichts mehr anzuzünden, wozu man hätte Tränen vergiessen und diese in einer Kanüle auffangen können. Ausserdem war Sancho (wie übrigens auch Nero anno dazumal) im Verseschmieden nur mässig begabt. Die Welt ist zu den Zeiten, in denen unsere Geschichte handelt, absolut sicher vor unbeherrschten oder hysterischen Tyrannen. Dafür sorgen Leute wie unser lieber Herr von und zu Klumpfuss schon.

Überhaupt fand von Klumpfuss, dass man auf Sancho eigentlich so langsam verzichten könnte. Dieser Sancho verschlang nur viel Geld. Es kostet Geld, sich einen Weltdiktator wie Sancho zu halten. Geld, das man besser in die Verbesserung der menschlichen Gensubstanz investieren würde. Auch war die Art des Sancho Pansa dem Herrn von Klumpfuss ganz persönlich sehr unsympathisch. Sancho war in den klumpfussschen Augen total vertiert. Und alles Tierische am Menschen war Klumpfuss zutiefst suspekt. Auf Tiere konnte Klumpfuss als Vegetarier generell verzichten. Das einzig Gute an der Natur, diesem Ungeheuer, war, dass sie einst den Menschen hervorgebracht hatte. Und der Mensch wiederum hatte einzig und allein die Pflicht, den vollkommenen Menschen zu zeugen, den Übermenschen. Und damit basta.

Der Klumpfuss dachte also daran, Sancho, unseren Sancho, den er nun nicht mehr brauchte, der seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte, aus dem Weg zu räumen. Davon ahnte unser Sancho natürlich nichts. Und Don Quichotte, was ist mit dem? Der wurde immer magerer, schweigsamer, melancholischer. Wen wunderts.