Sonntag, 14. August 2011

Literatur und Politik

«Politik ist Verallgemeinern», erklärte mir Leo. «Literatur ist Differenzieren, und die beiden stehen zueinander nicht nur in einem reziproken Verhältnis – sondern in einem feindlichen Verhältnis. Für die Politik ist die Literatur dekadent, schlaff, unerheblich, langweilig, verschroben, fade, etwas, das weder Hand noch Fuss hat und das es eigentlich gar nicht zu geben braucht. Warum? Weil der Wunsch nach Differenzierung schon Literatur ist. Wie kann man Künstler sein und Nuancen ausser Acht lassen? Wie kann man Politiker sein und Nuancen beachten? Der Künstler sieht die Nuance als seine Aufgabe. Die Aufgabe besteht darin, nicht zu vereinfachen. Auch wenn man sich dazu entschliesst, so einfach wie möglich zu schreiben, etwa wie Hemingway, bleibt die Aufgabe, die Nuancen herauszuarbeiten, das Komplizierte aufzuhellen, die Widersprüche darzustellen. Und nicht, die Widersprüche wegzuwischen, die Widersprüche zu leugnen, sondern zu forschen, wo innerhalb der Widersprüche der gepeinigte Mensch zu finden ist. Man muss das Chaos mit einkalkulieren, man muss es zulassen. Man muss es zulassen. Sonst produziert man Propaganda, wenn nicht für eine politische Partei, eine politische Bewegung, dann stumpfsinnige Propaganda für das Leben selbst – für das Leben, wie es sich vielleicht selbst gern in der Öffentlichkeit dargestellt sehen möchte. (…)»

Philip Roth, in «Mein Mann, der Kommunist», übersetzt von Werner Schmitz, rororo Taschenbuch, Seite 275

Montag, 1. August 2011

Eyjafjallajökull oder Das Haus, in dem die Schatten der Vergangenheit wohnen

Er klopfte ohne zu zögern. Er musste mit dem Direktor sprechen, schliesslich hatte sich ein Unglück ereignet, ein Unfall oder gar ein Verbrechen, in das ältere oder alte Damen verwickelt waren. Auf sein Klopfen wurde nicht reagiert. Vorsichtig öffnete Oesch die Tür, trat ein und blieb überrascht stehen. Der Raum war unglaublich gross und in dämmriges Grün getaucht. Überall standen überdimensionierte, tropisch anmutende Pflanzen, riesige Farne, bizarr anmutende Kakteen, Bananenbäume, Heliconien, Orchideen... Oesch war kein Pflanzenkenner, aber ein Pflanzenliebhaber – ihn faszinierte das Büro des Direktors, in dem es feucht, süsslich und erdig roch, in dem die Luft schwer und warm war und durch das Kolibris und andere kleine, bunte Vögel schwirrten. War das möglich? Warum sprengte das Büro des Direktors alle Proportionen, gab es überhaupt Platz in einem Stadthaus für einen riesigen Raum wie diesen? Und warum war das Büro – gar kein Büro? In dieser Halle gab es weder Schreibtische noch Gestelle oder weitere Büromöbel und auch keine Kopiergeräte, Computer und andere Büromaschinen. In diesem Büro gab es Natur pur und sonst gar nichts. Fehlten nur noch die Schildkröten und in den Baumkronen herumturnende Affen. Vom Direktor fehlte hingegen jede Spur.

Oesch versuchte, sich an den Direktor zu erinnern. Er musste den Direktor doch kennen, schliesslich arbeitete er nicht erst seit gestern beim Hilfswerk. Aber sein Gedächtnis liess ihn im Stich. War der Direktor jung oder alt, ein Mann oder eine Frau, ein angenehmer Mensch oder nicht? Oesch musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte. Vielleicht existierte der Direktor gar nicht? Aber ein umfassendes Hilfswerk von einer solchen überragenden Bedeutung musste doch einen Direktor haben – oder etwa nicht?

Oesch drang weiter in den Raum vor. Er fühlte sich trotz seiner Verunsicherung auf eine nicht unangenehme Weise leer, erwartungslos, ja geradezu wurstig gestimmt. Er nahm einen Geruch wahr, der ihn an Zoo und Tropenhaus erinnerte. Er war im Dschungel.

Die Pflanzen, überall die wild wuchernden Pflanzen: Sie riechen, sie bewegen sich, sie greifen nach mir.
Natürlich, die Pflanzen sind lebendige Wesen. Komisch. Das war mir bisher gar nicht recht klar. Die haben zwar kein Hirn und keine Augen und keine Ohren und so. Und doch sind sie aus einem Stoff gemacht, dass sie fühlen können. Aus einem besonderen Stoff, aus einem feinen Stoff: dem Stoff, aus dem die Träume sind.
Ja, sie sind wie Blinde, die Pflanzen. Wie Blinde tasten sie mit ihren knochenlosen Pflanzenarmen in der ewigdunklen Suppe ihrer Umgebung.
Oder, was wahrscheinlicher ist, sie tasten nach mir, unschuldig getrieben von ihrem Instinkt. Sie wollen mich verschlingen. Es sind nämlich Fleisch fressende Pflanzen. Ich bin in einen Urwald geraten. Wie komm ich bloss in diesen Urwald?
Ich muss fliehen.
Aber wohin?
Da, die Tarzanlianen – sieht aus wie in einem Comic-Strip. Ist aber alles echt. Plastisch. Vielleicht ist es ein 3-D-Comic.
Wenn es nur ein Comic wäre! Oder ein Film. Oder ein Traum. Einfach erwachen können – das wäre schön!
Wäre das schön?
Auf jeden Fall mach ich mir hier in die Hosen in diesem Urwald. Wobei ich ja gar keine Hosen anhabe. Ich bin ziemlich nackt. Ich habe nur eine Baseballmütze auf dem Kopf und einen Gürtel mit Dschungelmesser umgeschnallt und grobe Stiefel an den Füssen.
Das kommt davon, wenn man zum Abenteurer geboren ist.
Verdient man aber schwer Geld auf diesen Expeditionen, Goldsucherfahrten, El-Dorado-Trecks.
Was ist denn das für ein Brüllen und Quietschen?
Ach ja, der Urwald. Hab ich schon fast wieder vergessen. Ein Urwald voller Affen, Tiger, Leoparden, Schlangen, Spinnen, Kannibalen…
Ach hör schon auf!
Mir ist komisch. Kalt oder heiss. Zu kalt oder zu heiss. Zu kalt und zu heiss. Ich brauch etwas. ICH BRAUCH ETWAS!
Ich muss raus hier.
Diese geilen Pflanzen versuchen die ganze Zeit, mir zwischen die Beine zu greifen. Ich hab einen Steifen, weiss gar nicht warum. Geil bin ich jedenfalls nicht. «Hart wie der Zahn der Bisamratte…»
Weg da! Pfoten weg!
Ich will in die Stadt! Ich will in die Stadt, denn ich brauche etwas, Geld und ETWAS, ich bin ein Stadtjunge, verdammt noch mal. Ich hasse die Natur. Scheissnatur! Scheissnatur!

Die Stadt.
Die stinkende Welt der Stadt.
Die Welt des täglichen Verkehrskriegs und des vertrauten Bildes von Erbrochenem auf der Strasse.
Der Welt der aufeinander prallenden Menschenmassen in den Einkaufsparadiesen und den Bars.
Die neonfunkelnde Welt der Stadt.

Da vorn ist es ein bisschen lichter. Vielleicht sollte ich auf einen Baum steigen. Vielleicht sehe ich dann was. Ein Hochhaus zum Beispiel. Eine Autobahn. Einen Spielsalon. Einen Waschsalon. Einen Saloon mitten im Wilden Westen. Die Luft flimmert in der Hitze, man hört keinen Ton, aber jetzt hört man das Getrampel von Pferdehufen, und ein Haufen bärtiger Männer mit wilden Gesichtern reitet in die Stadt und hat nichts Gutes im Sinn.

Das ist ja ein Sumpf da vorn. Ein stinkender Sumpf. Es riecht wie im Bumsraum einer ungepflegten Schwulensauna.
Hier hats bestimmt Krokodile.
Die liegen im Wasser und bewegen sich nicht und sehen aus wie ein angefaulter Baumstrunk, aber wenn man ihnen zu nahe kommt, dann schnapp! Gemein wie das Leben.
Ich spüre, wie sich meine Körperhaare aufrichten, eins nach dem andern.
Etwas kommt näher.
ETWAS.
Hilfe, ich will weg hier. Lasst mich raus!
Es ist so eng und feucht und heiss –
krieg keine Luft mehr –
ich – glaub – ich – verrecke –

Scheisstraum das. Dass ich immer so einen Scheiss zusammenträumen muss. Hm, Nachmittagsträume. Ich glaub, ich brauch etwas. Fühl mich wirklich ein bisschen komisch. Wo hab ich denn… Ja: das reicht jetzt noch bis am Nachmittag. Das nehm ich jetzt, und dann will ich noch ein bisschen liegen. Dann träum ich bestimmt nicht mehr solchen Scheiss. Und dann muss ich mir Geld besorgen, mindestens einen Hunderter. Besser natürlich einen Fünfhunderter oder einen Tausender. Vielleicht find ich ja heut einen, der mich adoptiert. Wo sind die Streichhölzer? Eine Zigarette möchte ich rauchen. Nicht jetzt, nachher. Durst habe ich auch. Aber jetzt nehm ich zuerst was. Und dann lege ich mich nochmals ins Bett, um zu überlegen, wie ich denn heute zu Geld komme. Wenn ich doch ein richtiger Krimineller wäre! Wer einen Banküberfall machen will, muss planen und organisieren können, braucht Kreativität, kriminelle Intelligenz, Durchsetzungskraft. Und wenn er die hat, wird er nicht Bankräuber, sondern Banker. Ist einfacher. Bringt mehr Kohle. Geht bei mir nicht. Mach ich halt den Strich.
Ja.
Mhm, schon besser.
Wenn ich jetzt auf den Strich geh, ist mir alles scheissegal. Nun kommt angelatscht, ihr alten, hässlichen, frustrierten Typen mit euern Eheweibern zuhause und den knackigen Söhnen, die ihr nicht anfassen dürft! Mich interessiert Sex nicht mehr, ist eine unappetitliche Sache, und wenn ich einem den Sabberschwanz nuckeln soll, kommt mir echt das grosse Kotzen. Nein, das mach ich nicht mehr mit. Sollen sie an mir rumfummeln, können auch meinen halbsteifen Schwanz lutschen, während sie sich einen runterholen dabei. Manche verlangen, dass man sie anpisst oder ihnen auf den Kopf scheisst, so ekelhaftes Zeug, ist mir auch egal, solange sie mich in Ruhe lassen, ist leicht verdientes Geld. Ja, da trifft man schon ganz komische Vögel.

Also, ich bin vielleicht ja selbst auch ein bisschen schwul, aber nicht richtig, damit, dass ich auf den Strich gehe, hat das nichts zu tun. Ich brauche einfach den Zaster.
Ich bin müde.
Ich möchte ewig so liegen bleiben und gar nicht mehr aufstehen müssen.
Vielleicht ist es so, wenn man tot ist.
So herrlich gleichgültig, satt.
Wie im Paradies.
Wind, kleine flinke Wölkchen am Himmel.
Ein weisses Häuschen, das auf einem Felsen steht hoch über dem Meer.
Junge braune Männer, die ihre nackten Körper über die Klippe segeln lassen.
Junge Männer, die fliegen können.
Wassertropfen schmiegen sich an ihre glatte, braune Haut, während die Sonne ihre Körper küsst.
Dann tauchen ihre Körper ins Meer ein.
Das Leben ist ein Tanz, ein Spiel.
Und rings der Raum so weit, so weit.
Und die kleinen flinken Wölkchen unendlich fern am weiten Himmel.
Und ich sitze auf dem Felsen hoch über dem Meer.
Ich bin nackt, und der Wind und die Sonne liebkosen meine Haut.
Tief unten schäumt und gischt das Meer.
Ganz klein schwimmen die jungen Männer mit ihrer dunklen Haut im Wasser.
Sie rufen mir etwas zu, aber ich verstehe sie nicht.
Ich höre den hellen Klang ihrer Stimmen.
Sie winken mir: Ich soll zu ihnen runterspringen.
Ja, ich will auch ein fliegender Knabe sein.
Ich springe auf die Füsse.
Ich hüpfe auf dem Felsen wie auf einem Trampolin, nackt, schwerelos.
Ich segle über die Klippen und falle langsam wie in Zeitlupe auf die Wasser zu
und tauche ein in das silberne Element,
den reinen Stoff des Lebens.

Scheisse, wie spät ist es? Schon nach vier. Muss wohl wieder eingeschlafen sein. Muss wohl geträumt haben. Ich habe eine Latte. Es war wohl ein erotischer Traum, schade, dass man Träume immer gleich wieder vergisst.
Ich will mal einen Kaffee trinken und eine Zigarette rauchen. Und was essen.
Allzu mager sollte ich nämlich nicht werden.
Das mögen die Freier nicht, so ein klappriges Knochengestell.
Die wollen dralles Fleisch am Arsch und stramme Schenkel, die geilen Böcke.
Mein Gesicht gefällt mir. Die schwarzen Augenbrauen wachsen fast zusammen auf dem zarten Fleisch über der Nase. Jetzt sind die Haare wieder länger: braun und dicht. Lange Haare stehen mir einfach besser als kurze.
Gestern habe ich ein Gesicht gesehen: Schutzlos und schön. Ein fleischgewordener Traum Gottes.
Vielleicht sind wir ja alle Figuren aus den Träumen Gottes.
Vielleicht gibt es Gott ja tatsächlich.
Und manchmal hat Er einen geilen Traum, dann wieder einen Alptraum.
Was Gott wohl empfunden hat, als er mich träumte... ?
Halt, nein: Er träumt mich ja jetzt!
Eigenartig.

Der Kaffee ist heiss.
Ich weiss gar nicht, wie das die Leute machen: acht, neun Stunden am Tag arbeiten. Die zwei, drei Freier, die ich pro Tag bediene, sind rasch erledigt.
Die können ihren Sprutz ja meistens nicht schnell genug loswerden.
Trotzdem: Langweilig wird mir nie.
Einfach die Tatsache, dass man überhaupt lebt.
Eine von Millionen von Samenzellen gewinnt den Wettlauf und befruchtet das Ei.
Im Grunde ist jeder, der geboren wird, schon mal ein ganz grosser Gewinner. So gesehen.
Die Kraft hat alles, was ist, ins Dasein geschleudert, ejakuliert, die Berge, die Bäume, die Autos und die Atomkraftwerke.
Sie macht, dass das Herz schlägt, der Atem geht, die Bagger sich durch das Erdreich wühlen und die Raketen ins All fräsen.
Die Ideen, Gedanken und Gefühle des Wesens, das uns gemacht hat, müssen alle zu Fleisch werden, das ist das Wunder und der Fluch der Existenz.
Ich möchte es verstehen. Ich muss darüber nachdenken.
Unbedingt.
Ich hab doch mal was gelesen über den menschlichen Geist.
Dass dieser Geist pure Magie sei oder so.
Auch die Ideen und Gedanken und Gefühle des Menschen müssten zu Fleisch und Blut werden, zu handfesten Wirklichkeiten.
Deshalb sei alles so, wie es sei, gebe es keinen Ausweg aus diesem Labyrinth.
Es passiere, was passieren müsse. Im Guten wie im Schlechten.
Wenn man mit einem solchen Hunger zur Welt kommt wie die Menschen, dann muss man sich nicht wundern, dass schliesslich alles kahl gefressen ist.
Insbesondere, weil der Appetit mit dem Essen kommt, wie man sagt.

Ich bin müde.
Ich möchte im warmen Wasser liegen.
Der Wind müsste mich in seine Arme nehmen.
Das Feuerchen in meinem Herzen gibt warm.