Samstag, 21. November 2009
Das Eigene und das Fremde
Manchmal, in einem unbedachten Moment, dachte Kafka, wird man sich selbst zum Anderen, zum Fremden. Das Ich sieht sich gleichsam im Spiegel und erkennt sich nicht. Je älter Kafka wird, desto weniger gelingt es ihm, sich heimisch zu fühlen in seiner Identität, die er als seine Person definiert. Kafka empfindet sich als Reisender oder vielmehr als unstetes Bewusstsein, das unterwegs ist, aber nicht auf ein bestimmtes Ziel zu, sondern gewissermassen frei schweifend. Wobei diese Freiheit keine ist - das Bewusstsein ist in den Körper geknechtet, und der Körper ist in die Vergänglichkeit gekenchtet, und Vergänglichkeit führt auf direktem Weg zur Auflösung, zur Negierung, ins Nichts. Die einzige Freiheit, die Kafka dabei sehen kann, ist die Freiheit des Buddhisten, der sich in alles schickt, der das Nichts akzeptiert, der es gar freudig als Nirwana begrüsst. Diese Freiheit ist die wunderbare Freiheit, den innersten Kern alles Seienden als Ilusion zu begreifen und das Leben als einzigartige Inszenierung der Leidenschaften und des Leidens. Die Welt ist eine Falle, denkt Kafka, die uns mit Irrlichtern der Schönheit lockt. Was wir suchen, sind Betäubung und Visionen. Was wir besitzen, ist der Käfig der Gefangenschaft. Uns lockt nicht, was wir ersehnen; wir lieben nicht, was uns die metaphorische Last des Lebens von den Schultern nimmt. Wir wollen genauso wenig sterben, denkt Kafka, wie wir geboren werden wollten. Die Fähigkeit, getröstet zu werden, ist uns mit dem Kinderglauben abhanden gekommen. "Ich beneide alle Leute darum, nicht ich zu sein." (Fernando Pessoa, "Buch der Unruhe").
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