Sonntag, 15. März 2009

Die Wundertüte

Die verwirrende Vielfalt des Lebens erstaunte Felix manchmal so, dass er schliesslich davon abkam, zu glauben, sie könnte ein Produkt seiner Fantasie sein. Er hatte zwar eine regsame und produktive Fantasie (wollte man seinen Träumen glauben), aber allmählich stellte er fest, dass sie sich an ihren Rändern fortwährend mit etwas vermischte, was ausserhalb von ihm liegen musste. Diese Erkenntnis liess sich keinesfalls beweisen. Er verliess sich auf die Indizien: Er wurde zu häufig überrascht. Er musste sich, wenn er nur ehrlich genug zu sich war, eingestehen, dass er eigentlich dauernd überrascht wurde. Das Leben erwies sich, auch nüchtern betrachtet, als eine einzige riesengrosse Wundertüte. Heute kann ihn diese dauernde Überraschungsinflation aber nicht mehr überrumpeln: Er ist inzwischen auf sie gefasst. Das heisst aber nicht, dass er nun vorsichtig oder gar vernünftig geworden wäre. Vorsicht, so wusste er aus Erfahrung, nützt gar nichts, im Gegenteil, sie führt nur dazu, dass man sich in falscher Sicherheit wiegt. Felix ist also nicht vorsichtig, er ist wach; das ist ein fundamentaler Unterschied. Er schwimmt, um es proetisch auszudrücken, im Strom des Lebens mit. Er ist selber ein Teil der Überraschungen: und sich selbst ist er vielleicht die grösste Überraschung. Er hat also auch die Illusion aufgegeben, sich selbst zu kennen, auf sich zu zählen und mit sich zu rechnen. Diese Zeiten sind vorbei, Sportsfreund.
So beginnt eine Geschichte, so beginnt eine Vielzahl von Geschichten. Wobei: beginnen ist falsch. Nichts beginnt je, in diesem absoluten Sinn, und nichts wird je enden. Durch diese Erkenntnis ist er nun mit etwas höchst Sonderbarem konfrontiert: mit der Ewigkeit, die man, beim blossen Darübernachdenken, nicht zu ertragen glaubt. Jedoch: Man eträgt sie ja, die Ewigkeit, nur eben, indem man nicht über sie nachdenkt. Und man erträgt die unendliche Abfolge von Geschichten, in die man verwebt ist und die man endlich und letztlich weder verstehen kann noch verstehen wird. Wie gesagt: Felix schwimmt oder badet im manchmal warmen, manchmal heissen, manchmal frostigen Strom oder Fluss des Lebens. Gekrampft und gezappelt hat er schon: Das war schlimm. Weiss Gott, warum er gekrampft und gezappelt hat. Vielleicht, weil das zu einer der unendlichen Geschichten gehört, die gespielt werden. Er will es gar nicht mehr begreifen: lieber will er ergriffen werden - mitgerissen und hinweggespühlt. Das ist viel schöner und es macht viel mehr Spass. Es kann dem, was man als Glück bezeichnen könnte, schon sehr nahe kommen.
Ein Glück, das Felix auch damals streifte, als er mitten in einem Gespräch war. Er war im Begriff, auf eine läppische Frage eine läppische und durch und durch verlogene Antwort zu geben. In seinem Gesicht war ein ganz und gar falsches Lächeln festgeklebt. Es war ein Geschäftsgespräch; Felix war für solche Gespräche - aber wohl doch ungenügend - trainiert. Plötzlich war in seinem Hirn eine Leere, in der Sterne funkelten, in der Kinder spielten und Vögel sangen und jemand über einen Witz lachte. In der Leere seines Hirn war zwischen umeinanderkreisenden Materiehaufen viel viel leichtes federleichtes Nichts platziert. Felix brachte kein Wort heraus. Er hatte nicht mal mehr die leiseste Ahnung davon, dass er noch vor Bruchteilen von Sekunden etwas Läppisches und ganz und gar Verlogenes zu sagen im Begriff war. Er schaute, blind und wach, in ein paar Augen, die sich mit der allergrössten Verzweiflung bemühten, nicht auch in diese Leere und Unendlichkeit, durch die ein paar Materiehaufen tanzten, hineinzufallen.
Die Geschäftsbesprechung endete nach einer nicht genau zu beziffernden Zeitspanne in einer wütenden Beschimpfungsorgie. Felix glaubt sich zu erinnnern, dass sie - er und sein Geschäftspartner - sich gegenseitig beschimpften. Das war gut, das war sehr gut. Endlich war Felix seinen Job los.
Aber das war (oder ist) natürlich nur der Anfang einer weiteren Geschichte.

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