Dienstag, 31. März 2009

Bungee Juming oder die Kunst, den Absturz zu geniessen



Der Bungee-Springer, steht in einem Buch über Abenteuer-Sportarten, lässt sich einfach fallen. Sich einfach fallen zu lassen, ist aber, wie jeder weiss, nicht einfach. Wie die Babys kennen wir alle den reflexartigen Klammergriff. Genauso klammern wir uns an Gewohnheiten, Normierungen, Konditionierungen, antrainierte Reflexe oder wie immer man es nennen will, weil sie uns Sicherheit versprechen und wir das bekannte Unglück dem unbekannten Glück vorziehen, weil wir Angst haben und das Risiko scheuen. Wir verwechseln Geborgenheit mit Erstarrung, Verkrampfung. Wir verweigern uns dem Realitätsprinzip, weil wir uns an unseren Wirklichkeitsvorstellungen festklammern und die Landkarten mit der Landschaft verwechseln. Wir gehen auf dem dünnen Eis der Normalität und der Harmlosigkeiten und reden uns ein, von der Tiefe unter uns nichts zu wissen.

Freitag, 20. März 2009

ent-täuschung

werde ich enttäuscht
ent-täusche ich mich
und komme der wahrheit
und sei sie auch bitter
etwas näher

indem du mich enttäuschst
klärst du mich auf über dich
aber auch über mich
(über mich aber auch über dich)
es fällt mir jedoch schwer
dir dankbar zu sein
für die ratlosigkeit
die du mir schenkst
ich kann das nicht
jetzt noch nicht

die ent-täuschung ist
ein katalysator er beschleunigt
den wandel meiner gefühle
das umschlagen von liebe in hass
von freude und lust
in schmerz wut trauer
und angst

werde ich ent-täuscht
so muss ich einhalten und
für einen moment zurücktreten
wenn ich nicht will dass der strudel
mich in die tiefe saugt

die enttäuschung nimmt mir
viel: all diese
süssen träume diese hoffnung auf glück
die ent-täuschung aber gibt mir wieder
zurück: ein stück
wirklichkeit

(es ist wie es ist
sagt die liebe)

Montag, 16. März 2009

Ein Platzhirsch



Ein Platzhirsch steht an einem malerischen Seee und bewundert das auf der glatten Wasseroberfläche gespiegelte Bild seines süperben Geweihs. Dann gleitet sein Blick hinunter zu seinen Füssen, die ihm merkwürdig verkrüppelt und verformt vorkommen. Er ist frustriert darüber. Dann hört er das Horn - Halali von Jägern, die ihm auf den Fersen sind. Er setzt sich in Bewegung, ohne zu denken - und seine Beine tragen ihn wie der Wind über die Wiese zum Wald hin. Doch nun bleibt er im Unterholz hängen mit seinem prächtigen Geweih – die Jäger kommen und erschiessen ihn.

Sonntag, 15. März 2009

Die Wundertüte

Die verwirrende Vielfalt des Lebens erstaunte Felix manchmal so, dass er schliesslich davon abkam, zu glauben, sie könnte ein Produkt seiner Fantasie sein. Er hatte zwar eine regsame und produktive Fantasie (wollte man seinen Träumen glauben), aber allmählich stellte er fest, dass sie sich an ihren Rändern fortwährend mit etwas vermischte, was ausserhalb von ihm liegen musste. Diese Erkenntnis liess sich keinesfalls beweisen. Er verliess sich auf die Indizien: Er wurde zu häufig überrascht. Er musste sich, wenn er nur ehrlich genug zu sich war, eingestehen, dass er eigentlich dauernd überrascht wurde. Das Leben erwies sich, auch nüchtern betrachtet, als eine einzige riesengrosse Wundertüte. Heute kann ihn diese dauernde Überraschungsinflation aber nicht mehr überrumpeln: Er ist inzwischen auf sie gefasst. Das heisst aber nicht, dass er nun vorsichtig oder gar vernünftig geworden wäre. Vorsicht, so wusste er aus Erfahrung, nützt gar nichts, im Gegenteil, sie führt nur dazu, dass man sich in falscher Sicherheit wiegt. Felix ist also nicht vorsichtig, er ist wach; das ist ein fundamentaler Unterschied. Er schwimmt, um es proetisch auszudrücken, im Strom des Lebens mit. Er ist selber ein Teil der Überraschungen: und sich selbst ist er vielleicht die grösste Überraschung. Er hat also auch die Illusion aufgegeben, sich selbst zu kennen, auf sich zu zählen und mit sich zu rechnen. Diese Zeiten sind vorbei, Sportsfreund.
So beginnt eine Geschichte, so beginnt eine Vielzahl von Geschichten. Wobei: beginnen ist falsch. Nichts beginnt je, in diesem absoluten Sinn, und nichts wird je enden. Durch diese Erkenntnis ist er nun mit etwas höchst Sonderbarem konfrontiert: mit der Ewigkeit, die man, beim blossen Darübernachdenken, nicht zu ertragen glaubt. Jedoch: Man eträgt sie ja, die Ewigkeit, nur eben, indem man nicht über sie nachdenkt. Und man erträgt die unendliche Abfolge von Geschichten, in die man verwebt ist und die man endlich und letztlich weder verstehen kann noch verstehen wird. Wie gesagt: Felix schwimmt oder badet im manchmal warmen, manchmal heissen, manchmal frostigen Strom oder Fluss des Lebens. Gekrampft und gezappelt hat er schon: Das war schlimm. Weiss Gott, warum er gekrampft und gezappelt hat. Vielleicht, weil das zu einer der unendlichen Geschichten gehört, die gespielt werden. Er will es gar nicht mehr begreifen: lieber will er ergriffen werden - mitgerissen und hinweggespühlt. Das ist viel schöner und es macht viel mehr Spass. Es kann dem, was man als Glück bezeichnen könnte, schon sehr nahe kommen.
Ein Glück, das Felix auch damals streifte, als er mitten in einem Gespräch war. Er war im Begriff, auf eine läppische Frage eine läppische und durch und durch verlogene Antwort zu geben. In seinem Gesicht war ein ganz und gar falsches Lächeln festgeklebt. Es war ein Geschäftsgespräch; Felix war für solche Gespräche - aber wohl doch ungenügend - trainiert. Plötzlich war in seinem Hirn eine Leere, in der Sterne funkelten, in der Kinder spielten und Vögel sangen und jemand über einen Witz lachte. In der Leere seines Hirn war zwischen umeinanderkreisenden Materiehaufen viel viel leichtes federleichtes Nichts platziert. Felix brachte kein Wort heraus. Er hatte nicht mal mehr die leiseste Ahnung davon, dass er noch vor Bruchteilen von Sekunden etwas Läppisches und ganz und gar Verlogenes zu sagen im Begriff war. Er schaute, blind und wach, in ein paar Augen, die sich mit der allergrössten Verzweiflung bemühten, nicht auch in diese Leere und Unendlichkeit, durch die ein paar Materiehaufen tanzten, hineinzufallen.
Die Geschäftsbesprechung endete nach einer nicht genau zu beziffernden Zeitspanne in einer wütenden Beschimpfungsorgie. Felix glaubt sich zu erinnnern, dass sie - er und sein Geschäftspartner - sich gegenseitig beschimpften. Das war gut, das war sehr gut. Endlich war Felix seinen Job los.
Aber das war (oder ist) natürlich nur der Anfang einer weiteren Geschichte.

Mittwoch, 11. März 2009

Das träumende Kind



«Sie löste die Bänder ihres Hutes und legte ihn in ihren Schoss. Nach einer Weile sagte sie: «Da ist etwas, das ich dir sagen möchte», und machte eine lange Pause. Während des ganzen Gespräches im Walde verhielt sie sich auf dieselbe Weise - ein langes Schweigen vor jeden Satz einschiebend, nicht eigentlich so, als ob sie ihre Gedanken sammeln müsse, sondern als sie das Sprechen an sich mühevoll oder unzulänglich fände.
Sie sagte: «Der Junge war mein eigenes Kind.» «Wovon redest du?» fragte Jakob sie. «Von Jens», sagte sie, «er war mein Kind. Erinnerst du dich, dass du mir, nachdem du ihn das erste Mal gesehen hattest, erzähltest, er sei mir ähnlich? Er war mir wirklich ähnlich; er war mein Sohn.» Nun hätte Jakob erschrecken und glauben können, sie habe den Verstand verloren. Doch in jüngster Zeit waren die Dinge oft in unerwarteter Weise an ihn herangetreten; er war auf das Widersinnige vorbereitet. So sass er ruhig auf dem Baumstamm und betrachtete die jungen Buchenschösslinge in der Erde vor ihm. «Liebstes», sagte er, «Liebstes, du weißt nicht, was du sagst.»
Sie schwieg eine Weile, als sei von seinem Einwand ihr Gedankengang unterbrochen worden. «Es ist für andere schwer zu verstehen, ich weiss», sagte sie schliesslich geduldig. «Wenn Jens noch hier wäre, hätte er es dir vielleicht verständlich machen können, besser als ich. Aber versuche wenigstens», fuhr sie fort, «mich zu verstehen. Ich habe mir gedacht, du müsstest davon wissen. Und wenn ich nicht mit dir darüber sprechen kann, dann kann ich mit niemandem sprechen.» Sie sagte dies in derart tiefer Besorgnis, als drohe ihr wirklich völlige Sprachlosigkeit. Es fiel ihm ein, wie in den vergangenen Wochen ihr Schweigen schwer auf ihm gelastet und wie er versucht hatte, sie zum Sprechen zu bringen, über irgend etwas. «Nein, mein Liebstes», sagte er, «sprich nur, ich werde dich nicht unterbrechen.» Sanft, wäre sie dankbar für sein Versprechen, begann sie:
«Er war mein Kind - und das Charlie Dreyers. Du bist Charlie einmal in Papas Haus begegnet. Doch war es in der Zeit, als du in China warst, dass er mein Geliebter wurde.» Bei diesen Worten fiel Jakob der anonyme Brief ein, den er einst erhalten hatte. Als er sich seines damaligen entrüsteten Zurückweisens der Verleumdung erinnerte und der Sorgfalt, mit der er diese von ihr ferngehalten hatte, kam es ihm merkwürdig vor, dass er sie nun fünf Jahre später aus ihrem eigenen Mund wiederholt hörte.
«Als er mich bat», sagte Emilie, «befand ich mich für einen Augenblick in grosser Gefahr. Denn ich hatte noch nie mit einem Mann über diese Sache gesprochen. Nur mit Tante Malvina und mit meiner Gouvernante. Und Frauen sind, aus irgendeinem Grunde, den ich nicht kenne, der Meinung, dass solch ein Verlangen etwas Gemeines und Selbstsüchtiges bei einem Manne und eine Beleidigung für die Frau sei. Warum erlaubt ihr uns eigentlich, dass wir das von euch denken? Du, der du ein Mann bist, musst doch wissen, dass er mich aus seiner Liebe und aus seinem grossen Herzen heraus bat, ja, aus Seelenadel. Er hatte mehr Leben in sich, als er selbst brauchte. Er wollte mir diesen Überfluss schenken. Es war das helle Leben; ja, es war die Ewigkeit, was er mir schenken wollte. Und ich, die ich so schlecht aufgklärt worden warm wie leicht hätte ich ihn abweisen können. Noch heute, wenn ich daran denke, fürchte ich mich davor wie vor dem Tod. Doch habe ich keinen Grund dazu, denn ich bin ganz gewiss, wenn ich mich wieder in jenem Augenblick befände, dann würde ich mich wieder so verhalten, wie ich es damals tat. Und ich ward errettet aus grosser Gefahr. Ich schickte ihn nicht fort. Ich liess ihn mit mir zurückgehen, durch den Garten - wir standen drunten am Gartentor -, und liess ihn bei mir bleiben die Nacht, bis er des Morgens in die weite Ferne musste.»
Wieder machte sie eine lange Pause und fuhr dann fort: «Doch durch die Unsicherheit und die Angst vor den Menschen, die ich im Herzen trug, mussten ich und das Kind viel durchmachen. Wenn ich ein armes Mädchen gewesen wäre, mit hundert Richstalern nur uund sonst nicht auf der Welt, wäre es besser gewesen, denn dann wären wir beieinander geblieben. Ja, wir haben viel durchgemacht.»
«Als ich Jens wiederfand und er heimkam mit mir», nahm sie nach einem Schweigen ihren Bericht wieder auf, «liebte ich ihn nicht. Ihr alle liebtet ihn, nur ich selbst tat es nicht. Es war Charlie, den ich liebte. Und doch war ich mehr bei Jens als einer von euch. Er hat mir viele Dinge erzählt, die keiner von euch hörte. Ich sah wohl, dass wir keinen zweiten solchen finden konnten wie ihn, dass es keinen gab, der so weise war.»
Sie wusste nicht, dass sie die Heilige Schrift zitierte, so wenig, wie das dem alten Reeder bewusst gewesen war, als er anordnete, dass Jens begraben würde in dem Acker seiner Väter und in der Höhle, die darin gemacht war - dies war ein charakteristisches kleines Kunststück, das dem Zauber des toten Kindes zuzuschreiben war. «Ich habe viel von ihm gelernt. Er war immer ehrlich, wie Charlie. Er war so ehrlich, dass ich mich schämen musste. Manchmal meinte ich, es sei unrecht von mir, dass ich ihn lernte, dich Papa zu nennen.»
«In der Zeit, als er krank war», sagte sie, «war das einzige, woran ich dachte, dies: Wenn er stirbt, kann ich endlich um Charlie Trauer tragen.» Sie hielt ihren Hut hoch, sah ihn an und liess ihn wieder sinken. «Und dann», sagte sie, «brachte ich es schliesslich doch nicht fertig.» Sie machte eine Pause. «Aber wenn ich Jens davon erzählt hätte, es hätte ihm Vergnügen bereitet; es hätte ihn zum Lachen gebracht. Er hätte zu mir gesagt, ich sollte imposante schwarze Gewänder und lange Schleier kaufen.»
Es war ein Glück, dachte Jakob, dass er ihr versprochen hatte, sie nicht zu unterbrechen. Denn hätte sie jetzt verlangt, dass er redete, er hätte nicht ein Wort zu sagen gewusst. Als sie nun an diesen Punkt ihrer Geschichte gekommen war, sass sie eine solch lange Zeit schweigend da, dass er einen Augenblick lang glaubte, sie sei am Ende angekommen, und darauf befiel ihn ein würgendes Gefühl, als müsste ihm jedes Wort im Halse stecken bleiben.
«Ich dachte», begann sie unvermittelt wieder, «dass ich für das alles würde leiden müssen, schrecklich sogar. Aber nein, es war nicht so. Es gibt eine Gnade in der Welt, grösser als wir sie uns vorstellen können. Die Welt ist nicht die harte, strenge Stätte, wie es uns gelehrt wird. Sie ist nicht einmal gerecht. Es wird einem alles vergeben. Die schönen Dinge in der Welt kann man nicht erniedrigen oder beleidigen; sie sind viel zu stark. Du hättest Jens nicht erniedrigen oder beleidigen können; niemand hätte es je gekonnt. Und jetzt, nachdem er gestorben ist», sagte sie, «verstehe ich alles.»
Wieder sass sie regungslos da, in anmutsvoller Ruhe auf dem Baumstamm. Zum ersten Mal während ihres Gesprächs schaute sie sich um; ihr Blick glitt langsam, beinahe zärtlich, über die Waldlandschaft.
«Es ist schwierig», sagte sie, «zu erklären, wie einem zumute ist, wenn man die Dinge versteht. Es fiel mir noch nie leicht, Worte zu finden, ich bin nicht wie Jens. Doch seit letztem März, seit der Frühling begann, ist es mir immer so vorgekommen, als wüsste ich gut, warum, zum Beispiel, alles hier so blüht. Und warum die Vögel zurückgekommen sind. Die Freigebigkeit der Welt; und auch Papas und deine Gütre! Wie wir heute durch den Wald gingen, war mir, als hätte ich nun mein Augenlicht wiedergefunden und meinen Geruchssinn, wie ich sie als kleines Mädchen hatte. Alle Dinge hier erzählen mir, ganz von allein, was sie bedeuten.» Sie hielt inne, ihren Blick auf ihn richtend. «Sie bedeuten Charlie», sagte sie. Nach einer langen Pause fügte sie hinzu: «Und ich, ich bin Emilie. Auch das ist unveränderlich.»
Sie machte eine Bewegung, als wolle sie ihre Handschuhe anziehen, die in ihrem Hut lagen, doch dann legte sie diese wieder zurück und sass still wie zuvor.
«Jetzt habe ich dir alles erzählt», sagte sie. «Jetzt musst du entscheiden, was wir tun sollen.»
«Papa wird es nie erfahren», sagte sie sanft und nachdenklich. «Keiner von ihnen wird es je erfahren. Nur du. Ich hab mir gedacht, wenn wir von Jens sprechen -» sie machte eine kleine Pause, und Jakob dachte: «Bis heute hat sie noch kein einziges Mal von ihm gesprochen - «auch von diesen Dingen sprechen.»
«Nur in einem», sagte sie langsam, «bin ich klüger als du. Ich weiss, dass es besser wäre, viel besser, und leichter für dich wie für mich, wenn du mir glaubtest.»
Jakob war gewohnt, eine Situation rasch einzuschätzen und dann dementsprechend seine Entscheidungen zu fällen. Er wartete einen Augenblick, nachdem sie zu Ende gesprochen hatte, um auch jetzt so zu verfahren.
«Ja, mein Liebes», sagte er, «das ist wahr.»
Tania Blixen: Das träumende Kind