Mittwoch, 29. Oktober 2008
Man hört nie auf zu warten, dass das Eigentliche anfängt
Bahnhof von Webster Grove, St. Louis, wo Jonthan Franzen aufgewachsen ist
«Die Adoleszenz geniesst man am besten unbefangen, doch leider ist Befangenheit ihr bestimmendes Symptom. Selbst wenn einem etwas Wichtiges passiert, selbst wenn einem das Herz bricht oder vor Freude übergeht, selbst wenn man sich ganz und gar in das Bemühen vertieft, das Fundament der eigenen Persönlichkeit zu legen, kommen die Momente, da man sich bewusst wird, dass das, was passiert, nicht das Eigentliche ist. Ausser wenn man stirbt, liegt das Eigentliche noch vor einem. Das allein, dieses grausame Gemisch aus Bewusstsein und Irrelevanz, diese festintegrierte Bedeutungslosigkeit, ist Erklärung genug, dass einen alles ankotzt. Man fühlt sich elend und schämt sich, wenn man seine Adoleszenznöte für nicht wichitg hält, aber man ist dumm, wenn man es tut. Das war die Zwickmühle, vor der unser Spiel mit Mr. Knight (dem Schuldirektor, Anm. prinzderstaebe) und die Tatsache, dass wir etwas derart Nutzloses (die Streiche einer Gruppe Jugendlicher, zu der auch der Autor gehörte, Anm. prinzderstaebe) derart ernst nahmen, uns noch wundersame fünfzehn Monate Gnadenfrist gewährte.
Aber wann beginnt das Eigentliche? Mit fünfundvierzig bin ich nahezu täglich dankbar, dass ich der Erwachsene bin, der ich mit siebzehn so gern sein wollte. An meiner Armkraft arbeite ich im Fitnessraum; mit Werkzeug komme ich mittlerweile ganz gut zurecht. Gleichzeitig, nahezu täglich, verliere ich Schlachten gegen den Siebzehnjährigen, der noch immer in mir steckt. Ich esse mittags eine halbe Schachtel Oreo-Kekse, ich mache am Fernseher Grosseinkäufe, ich fälle moralische Pauschalurteile, ich renne in zerschlissenen Jeans durch die Stadt, ich trinke an einem Dientagabend Martini, ich glotze auf Bierwerbungsdekolltés, ich bezeichne jede Gruppe, der ich nicht angehöre, als uncool, ich verspüre den Drang, Range Rover zu ritzen und ihnen die Reifen zu zerstechen; ich tue so, als würde ich nie sterben.
Aus der Zwickmühle, dem Problem einer Mixtur aus Bewusstsein und Leere, kommt man nie heraus. Man hört nie auf zu warten, dass das Eigentliche anfängt, weil das einzig Eigentliche am Ende das ist, dass man stirbt. Bis dahin jedoch taucht immer wieder Mr. Knight auf: Mr. Knight als Gott, Mr. Knight als Geschichte, Mr. Knight als Regierung oder Schicksal oder Natur. Und das Spiel der Kunst, das als Buhlen um Mr. Knights Aufmerksamkeit beginnt, lädt einen schliesslich dazu ein, es um seiner selbst willen mit einem Ernst zu betreiben, der durch seine fundamentale Nutzlosigkeit rettet und gerettet wird.»
(Jonathan Franzen in: Die Unruhezone. Eine Geschichte von mir. Rowohlt Verlag 2007. Unbedingt zu empfehlen ist der grossartige Roman «Corrections» (dtsch. Korrekturen, erschienen ebenfalls bei Rowohlt. Lesen!)
Dienstag, 28. Oktober 2008
Am schlimmsten sind die Verallgemeinerer und Pauschalisierer
Natürlich muss man verallgemeinern: Bäume sind Bäume und Wald ist Wald, Kühe machen Mühe und Schweizer sind ordentlich, aber fantasielos, zuverlässig, aber auch langweilig. Nein, im Ernst: Verallgemeinerungen müssen sein, damit man nicht im Chaos versinkt, rein gedanklich, und, sprichwörtlich, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Verallgemeinerungen sind also nicht schlimm, sie sind gewissermassen ein Arbeitsinstrument unseres Geistes. Schlimm sind hingegen die systematischen Verallgemeinerer, die so an ihre Verallgemeinerungen glauben wie die christlichen Fundamentalisten wortwörtlich an die Bibel, die also den Werkzeugcharakter von Verallgemeinerungen entweder aus dem Blick verloren haben oder gar nie im Blick hatten. Verallgemeinerrungen sind die nahen Verwandten der Vorurteile und beide sind Nachkommen von Denkfaulheit oder mangelnder geistiger Redlichkeit. So werden denn plötzlich „die Albaner“ zu Kriminellen und „die Jugendlichen“ zu Kampftrinkern und „die Banker“ zu kapitalistischen Heuschrecken und die Männer kommen vom Mars und die Frauen von der Venus und die Schwulen haben eine Föhnfrisur und einen ausgestellten kleinen Finger… Nur ja nicht differenzieren, heisst denn auch die Devise in der Politik, in der Wirtschaft und in den Medien; differenzierte Urteile sind unpopulär und anstrengend und dürfen den Menschen nicht zugemutet werden. Tatsächlich nicht?
Freitag, 24. Oktober 2008
Ich erkenne meine Grenzen, also bin ich
An einem der Freitage beim Spazieren kam mir der folgende Satz in den Sinn: «Ich bin das, wozu mich meine Erfahrungen gemacht haben. Aber weshalb habe ich gerade diese Erfahrungen gemacht?» Dieser Frage möchte ich in einem Text nachgehen. Wenn ich beispielsweise 50 oder 100 Jahren früher geboren worden wäre, hätte ich wahrscheinlich nie und nimmer junge Männer aus Thailand und Indonesien getroffen und mein Leben wäre ganz anders – wahrscheinlich weitaus weniger glücklich, aber wer weiss? – verlaufen. Die Geschichte meines Lebens ist insofern bedeutend und spannend, weil in ihr auf einzigartige Weise Umstände und Zufälle gebündelt sind, ein Zusammentreffen von Faktoren stattfindet, das sozusagen einmalig ist – einmalig, aber aus nahe liegenden Gründen auch wieder symptomatisch. Was ist Wirklichkeit? Vielleicht ist eben doch alles nur ein Traum? Was bleibt von der Vergangenheit, von vergangenen Geschichten? Meine eigene Vergangenheit, meine eigene «Geschichte» kommt mir genau so irreal vor wie die Geschichte überhaupt. Was empfinde ich, wenn ich an die Zeiten von Breschnew oder Nixon denke? Ich sehe vor meinem geistigen Auge fast gespenstische Filmsequenzen in komischen Farben von Menschen mit seltsamen Frisuren und in seltsamen Kleidern. Mich streift genauso ein Gefühl der Irrealität, wie es mich früher, in der Erinnerung, als Kind oder junger Mann streifte, wenn ich an das Jahr 2008 dachte. Das war Science Fiction für mich!
Ich konnte mir als Jugendlicher nie und nimmer vorstellen, 40 zu werden. Und jetzt bin ich, ein nach Feng-Shui-Gesetzen in dieser Welt ausgerichtetes oder auch eingerichtetes Dickerchen, drauf und dran, 53 zu werden. Das ist doch ungeheurlich! Und ich hätte nie gedacht, dass das Älterwerden dermassen viele amüsante Aspekte haben könnte. Tatsache! Ich habe noch nie so viel gelacht wie in den letzten paar Wochen und Monaten. Als ich Ende dreissig eine etwas ausgedehntere Midlife-Krise endlich hinter mich gebracht hatte, offenbarten mir die menschlichen Obliegenheiten immer mehr ihre komischen Seiten. Klar, diese menschlichen Angelegenheiten und Sachen und Verhältnisse und Bewandtnisse und Beziehungen haben natürlich nicht nur diese komische Seite, es gibt weiss Gott auch die dämonische Dimension des hominiden Lebens, das ist ja das Verwirrende. Gerade das kann man als junger Mensch so wenig begreifen und so schlecht akzeptieren. Als junger Mensch willst du Ordnung haben, willst dir ein ordentliches Weltbild schaffen, glaubst noch, dass das möglich ist, gibst dir Mühe, unterteilst in «gut» und «bös», bist guten Willens, wenn dabei auch manchmal übermütig, öfters betrübt, immer mal wieder zornig, ab und an depressiv, fast immer hoffnungslos verwirrt – aber irgendwann gibst du dieses Bemühen auf, erkennst, dass es völlig nutzlos ist, lässt die Widersprüchlichkeiten widersprüchlich sein und Gott einen lieben Mann und Fünfe gerade, erkennst, wie befreiend das Paradoxe ist. Brauchst alles nicht mehr so todernst zu nehmen, vor allem nicht dich selbst. Es gibt nichts Angenehmeres und Befreienderes, als über sich selbst zu lachen. Das kannst du dir als junger Mensch noch nicht leisten. Da musst du erst noch etwas erreichen, was auch immer, ein Lebensziel und so, eine Karriere durchziehen, ein Künstler sein, reich sein, erfolgreich sein, schön sein. Irgendwann ist das gegessen. Ist die jugendliche Schönheit dahin, entfällt auch die Notwendigkeit, gefallen zu müssen. Irgendwann erkennst du, dass du es nie und nimmer schaffen wirst, alle Bücher zu lesen, alle Länder zu bereisen oder alle Herzen zu erobern und erst recht nicht alle Länder zu erobern und alle Herzen zu bereisen. Irgendwann wird dir bewusst, dass das letzte Hemd tatsächlich keine Taschen haben wird. Gibst du dich mit dem zufrieden, was dir zu-fällt, fällt plötzlich eine Menge Stress von dir ab und deine Schultern werden leicht, wenn auch dein schwerer und runder gewordener Bauch zu verhindern weiss, dass du abhebst. Pflicht weicht immer mehr der Kür. Und, so paradox das klingt, der bedrohlich näher rückende Tod verleiht dem Leben eine besondere bittere Süsse. Gerade das Bewusstsein der Begrenztheit der Zeit, die man auf dieser Erde zur Verfügung hat, zwingt einen schon fast in die Gegenwart hinein, in ein Erleben des legendären Hier und Jetzt – ganz ohne Yoga oder bewusstseinerweiternde Drogen. Die relativierende Wirkung dieser zunehmenden Todesnachbarschaft schärft das Gefühl für den Lebensgenuss – und für die Absurdität des menschlichen Seins, oder vielleicht des Seins überhaupt. Ich erkenne meine Grenzen, also bin ich. Wie soll ich irgendetwas begreifen, wirklich erkennen, begreifen – das Wesen der Zeit, das Leben, die Wirklichkeit, den Tod – und dann erst Gott! Religion, die vorgibt, Gott zu begreifen, zu verstehen, erklärbar zu machen, ist die wohl allergrösste denkbare Überheblichkeit, die schlimmste und unheilbringendste Hybris, überhaupt denkbar ist. Ein lächerlicher Kinderversuch, absolut unreligiös im Grunde.
Montag, 20. Oktober 2008
Mittwoch, 15. Oktober 2008
Dienstag, 14. Oktober 2008
Donnerstag, 2. Oktober 2008
Früher und Heute (III)
«First Avenue Ecke Dreissigste Strasse», sagte ich zum Taxifahrer am nächsten Tag. «Universitätsklinik.»
«Gutaussehendes Weibsstück, mit dem Sie da aus dem Hotel gekommen sind», sagte der Fahrer, als die Fahrt durch die Stadt begann. Kurz bevor ich das Taxi herangewinkt hatte, war ich beim Verlassen des Essex House auf dem Weg zum Krankenhaus downtown der Frau eines alten Freundes über den Weg gelaufen, und ich hatte unter dem Hotelbaldachin eine Weile mit ihr gesprochen.
»Ja?»
«Auf’n Sprung zu Besuch bei ihr gewesen?»
«Verzeihung?»
«Sie ficken sie’»
Im Rückspiegel sah ich ein grünes Augenpaar, dessen brutaler Blick noch beunruhigender war als die Frage. Hätte ich nicht schon beim Gespräch vor dem Hotel Zeit verloren, dann hätte ich mich dagegen entschieden, mein Leben jenen Augen anzuvertrauen, und wäre aus dem Taxi ausgestiegen, doch da ich unbedingt im Krankenhaus sein wollte, um meinen Vater zu sehen, ehe er in den Operationssaal gebracht wurde, sagte ich: «Um die Wahrheit zu sagen, nein. Aber einer meiner Freunde. Sie ist seine Frau.»
«Welchen Unterschied macht das schon? Er würde Ihre Frau ficken.»
«Nein, dieser spezielle Freund nicht, wenn ich auch annehme, dass das vorkommt.» Ich nahm es an, weil ich es gelegentlich selbst getan hatte, doch anders als der Fahrer legte ich nicht gleich alle Karten auf den Tisch. Wir hatten noch ziemlich weit zu fahren.
«Das kommt dauernd vor, Kumpel», erklärte er.
Ich dachte, es wäre keine gute Idee, ihn zu beleidigen, und antwortete einigermassen leichthin: «Nun, es ist immer gut, mit einem Realisten zu sprechen.»
Er antwortete mir mit unverhüllter Verachtung. «Ach, so nennt man das?»
Jetzt erst nahm ich Gebäude draussen wahr, und ich bemerkte, dass er am Park in die falsche Richtung abgebogen war und jetzt uptown fuhr. «He!» sagte ich und erinnerte daran, wohin wir wollten.
Um seinen Irrtum zu korrigieren, beschloss er, ganz nach Osten bis zum F.D.R. Drive zu fahren und dann nach Süden «hinüberzuschiessen». Dazu gehörte, dass er sogar noch weiter in die falsche Richtung fahren musste, um auf den Schnellweg zu gelangen.
Ich war weitaus früher aufgebrochen als nötig gewesen wäre, um gegen elf Uhr dreissig beim Krankenhaus zu sein, doch wegen eines Staus bei der Einfahrt zum Schnellweg war es jetzt schon nach elf, ehe das Taxi überhaupt angefangen hatte, sich in den dichten Verkehrsfluss nach Süden einzufädeln.
«Wohl’n Arzt, wie?» fragte er und fixierte mich, wie ich im Spiegel sah, mit kriegerischem Blick.
«Ja», sagte ich.
«Was für ‚ne Art?»
«Raten Sie.»
«Kopf», sagte er.
«Stimmt.»
«Psychiater», sagte er.
«Stimmt.»
«In der Universitätsklinik.»
«Nein, oben in Connecticut.»
«Wohl Chef der Klinik?»
«Sehe ich aus wie der Chef der Klinik?»
«Klar», sagte er mit Autorität.
«Nein», sagte ich, µeinfach einer der ärztlichen Mitarbeiter. Damit bin ich zufrieden.»
«Sie sind schlau – Sie gehen nicht auf Dollarjagd.»
Ich stellte fest, dass ich ihn unter Beobachtung genommen hatte, als würe ich tatsächlich ein Profi, dessen Interesse über das eines gewöhnlichen, zweitweiligen Fahrgastes hinausging. Der Mann war ein Mastodon, und obwohl das Taxi eine grossformatige Limusine war, quoll er über seine Hälfte der vorderen Sitzbank hinaus und reichte oben bis etwa einen Zentimeter unter das Wagendach – und das Lenkrad in seinen Händen war ein winziger Säugling, ein Säugling, den er erdrosselte. Alles, was ich im Spiegel von seinem Gesicht sehen konnte, waren jene Augen, die aussahen, als könnten sie, wenn sie aus seinem Kopf heraussprängen, einem ebnso den Garaus machen wie seine Hände. Seine Ausstrahlung war sogar noch bedrohlicher als seine einleitende Bemerkung hatte vermuten lassen, und die Idee, mit ihm den Schnellweg «entlangzuschiessen», gefiel mir gar nicht, insbesondere seit klar war – und nicht nur, weil er fast zu Anfang in die falsche Richtung gefahren war –, dass seine Aufmerksamkeit auf etwas Zwingenderes gerichtet war, als mich dorthin zu bringen, wohin ich wollte.
«Wissen Sie was, Doc», sagte er und schwenkte ganz plötzlich und ohne Mangel an Waghalsigkeit auf die Überholspur Richtung Süden hinüber, «mein alter Herr liegt jetzt im Grab, ohne seine vier Vorderzähne. Ich hab sie ihm aus seinem beschissenen Maul geschlagen.»
«Sie haben ihn nicht gemocht.»
«Er war ein Scheisser und ein Versager, und er wollte, dass ich auch ein Versager würde. Elend hat gern Gesellschaft. Er hat meinen älteren Bruder immer dazu angestiftet, mich auf der Strasse zu verprügeln. Mein älterer Bruder hat mich verprügelt, und mein Alter hat ihn niemals davon abgehalten. Und da bin ich eines Tages, als ich zwanzig war, zu ihm hingegangen und ich hab gesagt: Weißt du, wofür das ist? Weil du mich nie vor Bobby beschützt hast. Ich bin nicht einmal zu seiner Beerdigung gegangen. Aber viele Kinder gehen nicht zur Beerdigung ihrer Eltern, oder?» Mit einer auf einmal ganz hohl klingenden, ganz auf Rechtfertigung bedachten Armsünderstimme fügt er hinzu: «Ich bin nicht der erste.»
Die Augen im Spiegel, die nichts Brutales oder Kriegerisches verbargen, warteten auf meine Antwort.
«Sie sind nicht der erste», versicherte ich ihm.
«Meine Mutter ist nicht besser», sagte er, und das Wort «Mutter» spuckte er aus, als wäre es kein Wort, sondern etwas Verdorbenes, in das er hineingebissen hatte. «Sie hat mich weinend angerufen, dass er tot ist, und ich habe gesagt: Los, nur weiter, wein bloss um den grossen Helden. Und ich habe zu ihr gesagt, wwas für eine dumme Kuh sie ist.»
«Es muss schwer für Sie gewesen sein, nicht wahr?»
Die Reinheit der Paranoia, die in jenen Augen aufflammte, Liss micht denken: Licht, das von der Klinge eines Messers springt. Doch wenn er glaubte, ich sei eine Art von Ironiker, der wie sein Vater minus vier Vorderzähne in die Grube fahren wollte, hatte er sich in mir getäuscht. Ich war ein Psychiater, der sich nicht zu Urteilen herabliess, und das schien ihm glücklicherweise nicht zu spät zu dämmern. Er war keineswegs dumm, meine Güte, er war misstrauisch! Indem sein verstorbener Vater es versäumt hatte, ihn vor Bobby zu beschützen, hatte er einen sehr skeptischen jüngeren Sohn auf die Welt losgelassen.
«Tja», antwortete er mit trauriger Stimme, «schwer kann man es schon nennen.» Doch indem er mit dem Kopf in die Luft stiess, fügte er hinzu: «Ich habe überlebt.»
«Das ist mal sicher.»
Dann verblüffte er mich. Ich wäre nicht überraschter gewesen, hätte er vom Sitz neben sich eine Teetasse erhoben uns mit höflich und zierlich abgespreiztem kleinen Finger einen kleinen Schluck genippt. «Doc, ich bin unsicher.»
«Sie?» Ungläubig, ich gönnt es ihm. «Wovon zum Teufel reden Sie? Sie haben Ihrem Vater die Zähne in den Rachen geschlagen, Sie haben Ihrer Mutter die Meinung gesagt, als sie in Tränen war – das ist Ihr taxi, was Sie da fahren, oder?»
«Oh ja. Ich habe zwei.»
«Zwei – wieso, Sie sind so sicher, wie man überhaupt nur sein kann.»
«Bin ich das?» fragte mich dieser gewalttätige Bastard.
«So scheint’s mir.»
«Sie sind gut zu mir, Doc – ich werde Ihnen einen Buck vom Fahrpreis abziehen. Sie sollen nicht für meinen Fehler zahlen müssen.» Als er vom Schnellweg zur Vierund dreissigsten Strasse abschwenkte, wurde er sogar noch grosszügiger. «Ich stelle schon jetzt den Taxmeter ab und ziehe Ihnen noch einen Buck vom Gesamtpreis ab.»
«Wenn Sie wollen. Das ist sehr nett von Ihnen.»
Ich fragte mich, ob ich es nicht zu weit getrieben hatte. Ich blickte in den Spiegel in der Erwartung, dass er jetzt bereit wäre, mich umzubringen, weil ich ihn nett genannt hatte. Doch nein, es gefiel ihm. Dieser Kerl ist menschlich, dachte ich, im schlimmsten Sinne des Wortes.
Als ich vor dem Krankenhaus aus dem Taxi sprang, war ich ein guter Psychiater und gab ihm den einzigen Rat, dem er meiner Meinung nach folgen konnte. «Weiterboxen», sagte ich zu ihm.
«He, Sie auch, Doc», sagte er, und das Gesicht, das, wie ich jetzt sah, das eines Riesenbabys war, eines übermässig fleischigen, schwer trinkenden, verbitterten Säuglings von vierzig Jahren, hatte sich jetzt in ein übersättigtes Lächeln aufgelöst und zeigte mir an, dass schon bei meinem allerersten professionellen Debüt eine positive Übertragung stattgefunden hatte. Er hatte es tatsächlich getan, so wurde mir jetzt klar, er hatte den Vater vernichtet. Er gehört zu der Urhorde von Söhnen, die, wie Freud zu mutmassen beliebte, dazu fähig sind, den Vater gewaltsam auszulöschen – die ihn hassen und fürchten und ihn, nachdem sie ihn überwältigt haben, dadurch ehren, dass sie ihn verzehren. Und ich komme aus der Horde, die keinen Schlag austeilen kann. Wir sind nicht so, und wir bringen es nicht fertig, weder gegen unsere Väter noch gegen sonst jemanden.
(aus: Philip Roth: Mein Leben als Sohn. Eine wahre Geschichte. dtv. Sehr empfehlenswertes Buch – wie alles, was ich bisher von Philip Roth gelesen habe. Der ist auf seine Art genauso satrk wie sein Namensvetter Joseph.)
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