Mittwoch, 16. Januar 2008

Do you really want to hurt me?

1983
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Nach dem Putsch vom 14. Oktober und der Ermordung des dortigen Premierministers Maurice Bishop besetzen die USA die Karibikinsel Grenada, weil sie Kuba und die UdSSR als Drahtzieher vermuten. Die UdSSR schiesst eine koreanische Verkehrsmaschine in ihrem Luftraum mit 269 Passagieren, davon 69 US-Bürgern, ab. Der Protest ist eher verhalten und der Fall wird im Laufe der Folgejahre heruntergespielt, weil Spionagetätigkeit während dieses Fluges mehr als nur vermutet werden darf. In Polen wird das Kriegsrecht ausgesetzt.
Der Bombenterror im Nahen Osten erreicht einen neuen Höhepunkt – insbesondere gegen US-Soldaten im Bürgerkriegs-Libanon. PLO-Chef Arafat muss das Land nach schweren Niederlagen verlassen. In Italien wird Bettino Craxi erster sozialistischer Ministerpräsident des Landes. Papst Johannes Paul II. besucht sein Heimatland Polen. Der polnische Gewerkschaftsführer Lech Walesa erhält den Friedensnobelpreis. Eine UNO-Kommission errechnet eine Verschuldung aller südamerikanischen Länder in Höhe von 275 Milliarden US-Dollar. Die Illustrierte STERN veröffentlicht die verschollenen Tagebücher von Adolf Hitler, die sich wenig später als Fälschungen des Verkäufers der Story herausstellen. Die Computer-Maus wird erfunden (Apple LISA), und der IBM XT hat als erster PC einen fest eingebauten Plattenspeicher von 10 MB Kapazität. Die ersten erfolgreichen Verpflanzungen menschlicher Embryonen werden vorgenommen, das erste künstliche Chromosom wird erzeugt. Die UdSSR schraubt den Daueraufenthalt im All auf 211 Tage hoch. «Do You Really Want To Hurt Me» – diese Frage wird von der Band «Culture Club» mit ihrem androgynen Front-«mann» Boy George in den Raum gestellt. Nena singt von 99 Luftballons, als wär nichts gewesen, und DÖF behaupten in «Codo»: «Nur die Liebe Liebe Liebe Liebe die macht viel Spass, viel mehr Spass, als irgendwas». «Geier Sturzflug» dagegen beschwören nach Art der Neuen Deutsche Welle das «Bruttosozialprodukt». Paul Young hinwiederum bettelt wunderschön: «Come Back And Stay».
Es sterben 1983 unter anderem die Katze auf dem heissen Blechdach, das siebte Kreuz, der andalusische Hund und die Leitern, die als Feuerband das Himmelsblau durchziehen.






21. Juli

Lieber Etienne
Ich sitze im Zug und der Zug fährt durch ein Gewitter. Am alten Hafen von Marseille ist es bedeckt, aber sehr warm, obwohl es noch früher Morgen ist; der faulige Meerwassergeruch steigt mir in die Nase. Ich sitze im «Parc du Pharao». Links und rechts des Hafeneingangs Festungsmauern, im Hintergrund ein Dom, Schiffswerften, auf einem Hügel die Garnison der Fremdenlegionäre. Geräusche von Schiffsmotoren, ferne Stimmen, Autohupen, Vogelgezwitscher. Der Himmel ist bleigrau, es fallen die ersten Tropfen.

Das Hotel ist nordafrikanisch, billig und ein Loch, aber doch ganz angenehm. Nur, dass das Zimmer kein Fenster hat. Der Himmel ist inzwischen strahlend blau, die Sonne brennt, Afrika. Alles erinnert in dieser Stadt an Afrika, die Menschen, die Menschenmassen, der Lärm, die Musik, der Gestank, die Speisen, der Markt. Die Luft in den Strassen ist zum Ersticken.

Es ist Nacht und es ist sehr heiss, selbst nackt fühl ich mich noch wie zu sehr angezogen. Ich möchte meine Haut ausziehen, ich möchte aus der Haut fahren!

Ich war unterwegs. Eines der Lokale, die ich besuchte, war ein Privatclub, da haben sie mich gar nicht erst reingelassen, zerlumpt und abgerissen, wie ich bin. So ist das in Frankreich, il faut être elégant. Dann war ich in anderen, weniger vornehmen Schwulenkneipen. Ich sah nur Masken, geschminkte und geföhnte Schwulen-Masken. Die törnen mich gar nicht an. Ich bin scharf auf einen, der ist wie du. Ich bin scharf auf dich, ich sehne mich nach dir, nach deiner Haut, nach deinem Geruch, ich sehne mich nach einem Blick aus deinen schönen Augen. Auch wenn es dir gar nicht passt: ich werde mir heute einen runterholen und mir dabei vorstellen, du seist leibhaftig da.



Und jetzt bin in der Nähe von Cassis gestrandet. Eine schöne kleine Bucht. Tagsüber hat es mehr Leute hier, nachts sind wir nur zu zweit. Der andere ist ein junger Belgier, ein netter Bursche und obendrein sexy, aber leider schwärmt er die ganze Zeit von den Mädchen. Am Abend machen wir Feuer, trinken Wein, palavern. Für den Moment bin ich fast glücklich, gelöst – und ich denke zur Abwechslung mal nicht an dich.
Das Dorf selber, Cassis, ja, wie der Likör, ist ziemlich touristisch, ein Postkarten-Abziehbild. Am Morgen gehen wir in diesen Ort zum Kaffeetrinken, zum Einkaufen, schauen den Leuten zu. Der Belgier, dessen Namen ich nicht behalten kann, bewundert die Schönheit der Frauen…



Ich bin auf Reisen, weil ich vor dir geflüchtet bin, vor deinem Desinteresse an mir, vor dem Ende unserer Liebe bin ich geflüchtet, weil du mir es nicht sagen sollst, dass du mich nicht mehr liebst, weil ich das nicht hören will, deshalb bin ich von dir davongerannt. Wenn du mich nicht mehr in deinem Herzen tragen magst, dann kann ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, es wird nichts nützen. Andererseits kann ich auch nichts für meine Verliebtheit.

Ich pfeife ich auf die Liebe. Aber mein Körper brennt vor Verlangen.

Die letzten Tage war ich in jener auf einer sehr banalen Karte erwähnten «Berghütte» in den Calangues. Da hingekommen bin ich per Zufall – ein paar Leute haben mich mitgeschleppt. Die Hütte war voll von Freaks und Späthippies – jenen Gestalten, die man heute fast ausgestorben glaubt. Aber es war schön. Wir haben alles zusammen geteilt, haben zusammen geraucht, Musik gemacht, gekocht und gegessen. Einmal fand ich im Eintopf zwar eine abgeschnittene Fingerkuppe, aber sonst war auch kulinarisch alles okay. Wir haben Wein getrunken und über Gott und die Welt gelabert. Unter anderem wurde die Bielefeld-Verschwörung thematisiert, eine Theorie, die besagt, dass Bielefeld gar nicht existiere und dass alle Personen, die behaupten würden, schon einmal in Bielefeld gewesen zu sein oder gar aus Bielefeld zu stammen, Agenten oder hypnotisierte Opfer der «Organisation» seien, frag mich nicht, welcher, CIA, KGB, Mossad, was auch immer. Und die Mondlandung war auch eine Fiktion. Der Debattierclub bestand aus einer Vollversammlung von jungen und alten schrägen Vögeln aus Deutschland, Dänemark, Israel, Holland und den USA. Tagsüber, tief unten an der felsigen Bucht, war Schwimmen, Schnorcheln, Sonnenbaden und Nichtstun angesagt. Aber plötzlich fiel die Gemeinschaft wieder in alle Himmelsrichtungen auseinander. Die letzte Nacht in der Hütte verdurstete ich fast, wir hatten kein Holz und kein Wasser (und auch keinen Wein) mehr. Wir Althippies sind zwar charmant, aber auch unorganisierte Arschlöcher.



Heute Morgen bin ich, nach einer fast schlaflosen, mückenreichen (und zudem einer sehr nüchternen) Nacht früh aufgestanden und machte mich sogleich auf den etwa eineinhalbstündigen Weg nach Cassis, während die Sonne den milchigen Dunst durchbrach und die Wärme in Hitze verwandelte. Ich wollte weiter – wohin, war mir eigentlich egal. Ich brauchte aber in Cassis lange, um meinen gewaltigen Durst zu stillen. Weit gekommen bin ich nicht, nur bis Toulon. Die Autoschlange war dicht, alles Touristen, ganze Wagenladungen voll. Hat mich jemand mitgenommen, dann nur zwei, drei Dörfer weit. Dazwischen ging ich lange Strecken in der Hitze zu Fuss.

Toulon habe ich – wieder einmal – fast fluchtartig verlassen. Ich rettete mich in den Rausch. Im Zug war es heiss und ich trank ein Bier nach dem anderen. Ich wurde sehr gleichgültig, ja apathisch, um dann, nach Genf, schlagartig zu erwachen – so, wie ich manchmal mitten in der Nacht hellwach werde, hellwach in irgendeinem Schmerz, hellwach wie selten am Tag. Hellwach, vielleicht für eine halbe Stunde, dann ist der Spuk vorbei und ich schlafe erschöpft wieder ein. Ich stand am Fenster und mein Kopf glühte im Fahrtwind, während in meinem Herzen Liebe und Hass, Verzweiflung und Hoffnung, Lust und Schmerz ein lustiges Spiel spielten. Glaub nur nicht, dass ich dabei an dich dachte; ich dachte an Sangria, an Santana, an Paco de Lucia und sogar an Fussball.»

Dienstag, 15. Januar 2008

Intermezzo


Während seiner Zeit als Hilfselektriker auf dem Bau hat Felix die verlorenen Kilos bald wieder auf der Rippe. Er frisst wie ein Scheunendrescher, die körperliche Arbeit an der frischen Luft bewirkt, dass er sich seiner Umwelt, als der Sommer kommt, braungebrannt und muskelbepackt präsentiert und körperlich noch nie so attraktiv war und es auch nie mehr sein wird wie jetzt. Von Peter ist nicht mehr die Rede, Peter hat sich nach Amerika abgesetzt, der ist jetzt Taxidriver in San Francisco und Felix wird den ihm sehr fremd Gewordenen nur noch einmal kurz bei einem Besuch in der Schweiz treffen. Aber Felix hat Peter jetzt auch nicht mehr nötig, die Lektion, die er von Peter zu lernen hatte, ist abgehakt, Felix entdeckt sein eigenes kleines Machotum. Felix fühlt sich als Stadtindianer, als Anarchist, als Teil der «Bewegung», er beteiligt sich an unbewilligten Demos und hängt auf dem Gelände des autonomen Jugendzentrums herum. Er fühlt sich wohl auf dem Bau, wo er vor allem mit zwei Spaniern arbeitet und auf diese Weise zwar Spanisch lernt, aber kaum, wie man eine Steckdose korrekt anschliesst. Felix ist, wie schon mehrmals angedeutet, handwerklich eindeutig unbegabt, dazu sowohl grob- wie auch feinmotorisch etwas behindert, aber er ist fröhlich und für die gröberen Aufgaben, die weniger handwerkliches Geschick erfordern, ganz gut zu brauchen (Beton aufspitzen, Löcher bohren, Backsteinwände auffräsen). In der Männerwelt des Baus, in der es hart, aber herzlich zugeht, entdeckt Felix das kleine bisschen Heterosexualität, das sogar in ihm steckt. Während der Mittagspause in einem Restaurant neben einer Baustelle lernt er Andrée kennen, eine sensible, schöne, aussergewöhnliche Frau, der Felix auf einem Fest, in dessen Verlauf der Alkohol in Strömen fliesst, näher kommt, das heisst, sie landen stockbesoffen zusammen im Bett, woran sich Felix am nächsten Tag nur noch nebelhaft erinnert. Dass es dabei aber ziemlich wild zu und her gegangen sein muss, bestätigen ihm anderntags die beiden Spanier, Juan und Angel, die ebenfalls ziemlich alkoholisierte Gäste der Party und offenbar Zeugen des Beischlafs von Andrée und Felix gewesen sind. Felix ist der ganze Vorfall unendlich peinlich, aber Andrée scheint die Sache nicht negativ eingefahren zu sein, ist sie doch nun offensichtlich in Felix verliebt und gibt sogar ihrem damaligen Freund den Laufpass. Felix und Andrée verbringen einen grossen Teil ihrer Freizeit zusammen, gehen an Konzerte, schmeissen gemeinsam Trips, machen lange Spaziergänge dem Fluss entlang, haben eine gute Zeit. Trotzdem kann das auf die Dauer natürlich nicht gut gehen, selbst wenn Felix und Andrée sich auf einer seelischen Ebene sehr nahe sind. Sie besuchen zusammen die inzwischen ebenfalls zurückgekehrten Indienfreunde von Felix, die als Reisesouvenier beide eine Hepatitis mitgebracht haben. Sowohl Andrée wie Felix finden Hofheim – jetzt, im April – ein fürchterlich deprimierendes Kaff und die Freunde sind auch nicht mehr so gut drauf wie damals, also betrinken Felix und Andrée sich allein und setzen danach mit einer Zigarette die Matratze der Freunde in Brand, auf der sie eingeschlafen sind. Kurz darauf gesteht Felix Andrée endlich, dass er schwul ist. Andrée ist zwar nicht schockiert, aber natürlich enttäuscht. Sie erzählt, ihr Vater, ein Amerikaner, zu dem sie eigentlich nie Kontakt hatte, sei ebenfalls schwul. Diesen Vater wolle sie demnächst in den USA suchen, das sei zwar nicht leicht, aber ungeheuer wichtig für sie. Wenige Wochen später reist sie dann tatsächlich ab und verschwindet damit aus dem Leben von Felix. (Etwa drei Jahre später trifft Felix Andrée noch einmal. Sie bringt einen jungen blonden Freund, der kaum zwanzig ist und den Felix auch nicht von der Bettkante stossen würde, zum Treffen mit und ist inzwischen schwere Alkoholikerin). Nach der Geschichte mit Andrée har Felix eine etwa ein halbes Jahr dauernde Affäre mit Severin, einem siebzehnjährigen Gymnasiasten, der im Jahr 2007 zwar schon längst nicht mehr sein Geliebter, aber immer noch einer seiner besten Freunde sein wird. Mit dessen Clique – jungen Punks aus dem Emmental –, aber ohne Severin selber, besucht Felix im Winter 1981 die damals noch geteilte Mauerstadt Berlin.
Insgesamt etwa zwei Jahre arbeitet Felix bei der Elektrofirma auf dem Bau. In dieser Zeit verweigert er seinen Militärdienst und wird vom Militärgericht zu vier Monaten Gefängnis unbedingt verurteilt, eine Strafe, die er von September bis Dezember 1982 absitzt. Das ist natürlich ebenfalls eine interessante Reise in eine andere Welt, die wir aber an dieser Stelle nicht auch noch erzählen wollen.
Nach der Zeit im Knast arbeitet Felix zunächst für eine Firma, die mobile Messehallen montiert. Kein idealer Job für jemand wie Felix, der unter Höhenangst leidet und, wie gesagt, handwerklich unbegabt ist. Deshalb beginnt er im Frühjahr mit einer Lehre als Buchhändler in einer grossen Buchhandlung in Bern, da ihm der Umgang mit Büchern eindeutig besser liegt. Kurz vorher verliebt er sich in Etienne, einen Medizinstudenten, mit dem er als Honeymoon ziemlich sexlastige Kurzferien in den Cinqueterre verbringt. Im Sommer ist die Beziehung, die anfangs März begonnen hat, jedoch schon wieder vorbei.

Sonntag, 13. Januar 2008

Fast gelyncht in Poona

1981
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Die 52 Geiseln kommen nach 444 Tagen aus der besetzten US-Botschaft in Teheran frei. Bei einem Flugzeugabsturz kommt der grösste Teil der militärischen Führung des Iran um. Ronald Reagan wird bei einem Revolverattentat schwer verletzt. Seine Administration beendet einen Streik der amerikanischen Fluglotsen, indem sie 12000 von ihnen feuert und die Flugsicherheit durch Soldaten aufrechterhalten lässt. Ohne Rücksprache mit den Verbündeten beschliesst Reagan den Bau der Neutronenbombe. Wegen seiner konservativen Wirtschafts- und Sozialpolitik gerät er unter öffentlichen Druck und muss die grösste Demonstrationswelle in den USA seit dem Vietnamkrieg hinnehmen. In europäischen Hauptstädten (und in Bukarest) kommt es zu Massendemonstrationen gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen.
In Rom wird Papst Johannes Paul II. durch den Türken Mehmet Ali Agca bei einem Attentat schwer verletzt. Als Hochzeit des Jahrhunderts wird die Eheschliessung des britischen Thronfolgers Prinz Charles mit Lady Diana Spencer weltweit mediengerecht gefeiert. Eine Häufung von Aids-Fällen in den USA schreckt die Weltöffentlichkeit auf; Aids wird erstmals durch die amerikanischen Centers for Disease Control erkannt und als Seuche registriert. IBM bringt seinen eigenen, jetzt auch offiziell PC genannten Personalcomputer auf den Markt und mit ihm das von Microsoft stammende Betriebssystem DOS, das zum weltweiten Standard wird. Ein erster Flug des wiederverwendbaren Space Shuttle Columbia (mit Young und Crippen) findet statt, ein zweiter Flug muss abgebrochen werden, weil ein Treibstofftank verloren geht.
Phil Collins landet mit «In The Air Tonight» einen Nummer 1-Hit, das gleiche gelingt Abba mit «Super Trouper» und den Creedence Clearwater Revival mit «Hey Tonight». Derweil sichtet Nina Hagen, mit der musikalisch schon nicht mehr allzu viel los ist, 1981 in den USA ihr erstes UFO.
1981 sterben der ehemalige Rüstungsminister und Architekt Hitlers Albert Speer, der israelische General und Politiker Moshe Dayan, der Filmregisseur William Wyler, die Schauspielerin und Sängerin Zarah Leander, der Chansonnier Georges Brassens und der Boxer Joe Louis. Derweil werden 1981 die Pornodarstellerin Belladonna, der Techno-DJ Amok, die Popsängerin Britney Spears, der australische Tennisspieler Lleyton Hewitt sowie der Filmschauspieler Elijah Wood geboren, der später einmal als Hobbit Frodo in der Verfilmung von Tolkiens «Herr der Ringe» berühmt werden wird.


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Fast gelyncht in Poona
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Felix trennt sich in Goa von seinen Gefährten, die weiter nach Süden wollen – nach Bangalore, nach Madras, nach Kerala, nach Sri Lanka –, um zurück in den Norden zu fahren, mit dem Schiff nota bene, das ihn der Küste entlang nach Bombay zurückbringt. Felix liebt es, mit dem Schiff zu reisen, er empfindet es als reine Erholung, auf dem Schiffsdeck zu liegen und geruhsam die dschungelartige, üppig grüne Landschaft an seinen Augen vorbeiziehen zu sehen. Er hat etwas Morphium intus und befindet sich in einem vegetativen Zustand. In Bombay bezieht Felix wieder einmal ein vergammeltes Hotelzimmer, in dem gerade mal ein Bett Platz hat. Er schmückt die Zimmer, die er in Pensionen bezieht, jetzt immer mit Tüchern, Bildern und Blumen aus. Er hat das Bedürfnis, sich einzurichten, und sei es auch nur auf kurze Zeit. Dann besorgt sich Felix in einem dubiosen Reisebüro bei einem Inder ein günstiges Flugticket zurück nach Europa. Der Flug ist erst in zwei Wochen. Bezahlen muss er aber schon jetzt, ohne danach eine Sicherheit in der Hand zu haben – das Flugticket könne er nämlich erst am Abreisetag abholen, wird ihm beschieden (Felix ist schon etwas mulmig zumut dabei, aber schliesslich wird alles ganz prima klappen).
Nun hat Felix also noch Zeit für einen Ausflug nach Poona, wo der indische Guru Baghwan Shree Rajneesh in seinem Ashram Hof hält und einen Haufen ausgeflippter Westler in roten Roben und mit der Mala des Meisters um den Hals um sich geschart hat. Schliesslich sind auch einige der WG-Mitbewohner von Felix in Bern Anhänger des Gurus (Swami Premdas – der uns gut bekannte Ernst hat nach Marx und Wilhelm Reich ein neues Idol gefunden –, Swami Satchit, Prem Ananda, und etwas später wird auch Peter zum Swami Nirguno mutieren). In Poona wird Felix zunächst beinahe das Fell über die Ohren gezogen. Er kommt mit dem Zug an, ziemlich breit von einem Klümpchen Rohopium, das er vor der Reise zu sich genommen hat. Rein zufällig trägt Felix die Nationalfarben der Schweiz in Form eines roten Hemdes und einer weissen Hose, und natürlich hat er auch keine Holzkette mit dem Bild des bärtigen Baghwan, der sich ja später, nach einem zahntechnischen Eingriff, die er der Gemeinde seiner Sanyassins als unwälzende dentale Erfahrung kommuniziert, nur noch Osho nennen wird, um den Hals. Gut, Felix tritt also frohgemut aus dem Bahnhofgebäude von Poona und schlendert mit seinem Rucksack am Rücken in die Stadt, als er unvermittelt in eine hinduistische Prozession mit Götterbildern, die auf Elefantenrücken herumgetragen werden, gerät. Das findet Felix zunächst ganz interessant. Bis er merkt, dass die Teilnehmenden auf ihn aufmerksam werden, wohl weil sie annehmen, er sei ein Jünger Baghwans. Und vor allem ist diese Aufmerksamkeit gar nicht freundlicher Natur. Er hört ein Geraune und Gemurre, das sich unmissverständlich zur Beschimpfung steigert. Dann schliesst sich der Kreis der Menge um ihn. Und plötzlich ist Felix von aggressiven Menschen umzingelt. Er bekommt es einmal mehr mit der Angst zu tun. Beschwörend hebt er die Hände und will erklären, dass er in friedlicher Absicht gekommen sei und auch gar nicht zu den Anhängern des Unmoral und zügellose Sexualität verbreitenden Verführers gehöre. Das nützt aber wenig; einige indische Menschen beginnen, an seinen Kleidern zu zerren und nach ihm mit den Beinen zu ginggen, Fäuste recken sich ihm entgegen, Pogromstimmung liegt in der Luft. Doch da wird er im letzten Moment vor Ausbruch expliziterer Gewalttätigkeiten, wie ihm scheint, von zwei, drei beherzten und gutmeinenden Einheimischen energisch aus dem Kreis geführt, sie bringen ihn rasch in eine Seitengasse und raten ihm dringend, sich in Zukunft nicht mehr in roten Kleidern oder am besten gar nicht mehr in der Stadt zu zeigen.



Felix lehrt daraus, dass der Baghwan und seine Anhängerschar in Poona nicht gerade beliebt sind. Warum das so ist, darüber kann Felix nur spekulieren. Er glaubt aber, dass sich die doch allgemein eher prüden Inder vor allem durch den lockeren Umgang mit der Sexualität, den sie mit Baghwan und seiner Bewegung verbinden, provoziert fühlen. Vielleicht empfinden sie den Guru auch als Gotteslästerer, wobei es im Hinduismus ja unzählige Götter gibt und eigentlich für jede mögliche Sorte von Heiligen Platz sein müsste. Eventuell spielt auch eine Prise Nationalismus und somit eine fremdenfeindliche Komponente in die Ablehnung des Meisters hinein, besteht dessen Anhängerschaft doch vor allem aus Menschen westlicher Länder. Die Lehre des Baghwan ist eine Mischung aus östlichen und westlichen Ideen – eine Mixtur aus indischer Mythologie, Hinduismus, Buddhismus und westlicher Psychotherapie. Zudem hat der an einen Nikolaus mit Rauschebart erinnernde Meister auch etwas von einem Dichter und Anarchisten an sich – ist also eher Bakunin als Marx – und er verfügt über einen unergründlichen Humor, den nicht jeder versteht. Man weiss bei ihm nie: Was meint er ernst, was ist als Provokation gemeint? Er liebt es, die Menschen zu verunsichern, ihre mentalen Konzepte durcheinanderzuwirbeln. Mal schweigt er einfach während seiner «Lectures», mal erzählt er einen Witz nach dem anderen. Und dann seine 75 Rolls Royces, die er höchstens dazu benutzt, nicht weiter als zweihundert Meter zu fahren – ebenfalls ziemlich absurd und abgefahren. Geboren wird der Meister 1932 als Rajneesh Chandra Mohanin in Kuchwada, einem kleinen indischen Dorf. Jahrelang ist er Professor für Philosophie und Psychologie an der Universität Jabalpur. Dann wird er, als Erleuchteter, zum Star des Meditationszentrums in Poona. Der Ashram zieht in den Siebzigerjahren Zehntausende von zivilisationsmüden Flüchtlingen aus aller Welt an. Weltweit gründen seine Anhänger Firmen, Restaurants und Zentren. 1981, also kurz nach dem Besuch von Felix in Poona, wird Bhagwan vor der indischen Steuerfahndung in die USA flüchten. In «Rajneesh Puram» in Oregon kommt dann ein weiteres Gesicht der Bewegung zum Vorschein: Machtkämpfe, totale Kontrolle, Chaos, Paranoia (Sheela, seine damalige Vertraute, ist heute übrigens Krankenpflegerin in der Schweiz). 1984 verhaftet das FBI den Bhagwan und versucht ihn, wie dieser behauptet, zu vergiften. Der Guru flieht, nachdem ihn kein anderes Land aufnehmen will, zurück nach Indien, wo er am 19. Januar 1990 stirbt (an den Spätfolgen des Giftanschlags, wie seine Anhänger behaupten, oder an einer Verengung der Herzkranzgefässe).



In Poona besucht Felix zwei- oder dreimal den Ashram von Bhagwan, allerdings als Tagestourist, vor allem, weil er wieder einmal eine hygienisch einwandfreie Mahlzeit zu sich nehmen und eine saubere Toilette benützen will. Felix ist nämlich inzwischen ziemlich abgemagert und auch sonst körperlich nicht auf der Höhe. Hat er am Finger eine kleine Wunde, entzündet sich der zu einer mit Eiter prall gefüllten Wurst. Das ist nicht lustig. Deshalb braucht Felix den Ashram als Ort der Erholung. Er lässt sich aber auch von den Türstehern an der Buddhahalle beschnüffeln, um zwei-, dreimal der Rede des Meisters zu lauschen, von der er jedoch nichts versteht, weil der Meister ausgerechnet jetzt ausnahmsweise auf Hindi zu seinen indischen Jüngern spricht.

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Die Heimreise ist für Felix wie ein Traum. Frierend sitzt er im Flugzeug, er hat alle seine warmen Kleider verloren oder verschenkt und besitzt noch genau hundert Franken. Beim Zwischenhalt im supermodernen Flughafen von Schardscha mit seinen Luxusgeschäften und der hellen, aufgeräumten Sauberkeit kommt er sich vor wie in einem falschen Film.


Sharja City, allerdings 2007

In Warschau, wo gegen Ende Februar noch immer tiefster Winter ist, kann Felix das Hotelzimmer, das er von LOT zugewiesen bekommen hat, nicht verlassen, weil er erstens Fieber hat und zweitens weder gute Schuhe noch einen warmen Pullover, geschweige denn eine gefütterte Jacke. In Zürich kann Felix es gar nicht glauben, dass er wieder in der Schweiz ist, nach acht Monaten unterwegs. Mit seinem letzten Geld fährt er zurück in die WG nach Bern, wo sich inzwischen in seinem Zimmer ein neuer Mitbewohner eingenistet hat, der sich zunächst weigert, das Feld zu räumen. Felix ist noch knapp 50 Kilogramm schwer (zwanzig Jahre später wird er über dreissig Kilo mehr wiegen), hat Amöben und Salmollen und Würmer, die er sich umgehend in der Polyklinik behandeln lassen muss, wo er den Studenten von erstaunten Ärzten als seltener Fall vorgeführt wird. Aber das spielt alles keine Rolle, auch dass er aus Geldnot gezwungen ist, sofort einen Job auf dem Bau anzunehmen. Felix ist glücklich und stolz: er hat es geschafft, er hat die Reise gewagt und sie überlebt. Felix hat die seltene Gelegenheit, seine Heimat für eine Weile mit den Augen eines Aussenstehenden zu betrachten; er wird sich bewusst, dass die Welt, in der er normalerweise lebt, so etwas wie eine Insel ist und keine Selbstverständlichkeit darstellt, die Allgemeingültigkeit beanspruchen könnte; dass sie eher die Ausnahme ist als die Regel. Zumindest das wird er nicht mehr vergessen. Als Felix einmal nachts im Auto über die Autobahn fährt, ergreift ein fast unirdisches Glücksgefühl Besitz von ihm, die Umgebung ist ihm fremd und vertraut, Fremdheit und Vertrautheit befinden sich in einem exakten Gleichgewicht und Felix fühlt sich gleichzeitig geborgen und frei, er gehört dazu und doch nicht, ist zu Hause und trotzdem unterwegs.

Freitag, 11. Januar 2008

Der Kreislauf der Natur



Die Goa-Scheinwelt ist Himmel und Hölle zugleich, ein Schlaraffenland der Absturzgefährdeten. Und einige jener, die sich ins Land of no return aufgemacht haben, trifft Felix denn auch an den Stränden und in den Palmhainen von Goa: nackte, ausgemergelte Datura-Opfer auf dem ewigen Trip mit verfilzten Haaren und irren Augen, abgebrannte Junkies, Speed-Leichen.
Felix ist also noch immer in Goa. Er ist in Goa gestrandet, obwohl es ihm da inzwischen nicht mehr so gefällt. Thomas, der Taxifahrer aus Hamburg, ist abgereist, er musste zurück nach Deutschland, dafür sind die Hofheimer wieder aufgetaucht, aber die wohnen in einer anderen Hütte an einem anderen Strand.
Felix bleibt auch deshalb in Goa hängen, weil er sehr krank ist. Er hat hohes Fieber, und vor allem sein Verdauungssystem ist buchstäblich total im Arsch: tagelang scheisst er nur noch Blut und Eiter, und von Nahrungsaufnahme kann nun schon gar nicht mehr die Rede sein.
Jetzt geht es Felix wieder etwas besser, nach einem ziemlich frustrierenden, um nicht zu sagen: zutiefst beängstigenden Spitalbesuch in Mapusa, in dessen Verlauf ihm sehr klar geworden ist, dass ihm hier niemand weiterhelfen kann, hat er sich, nachdem er für eine Weile am Rand einer Strasse im Staub lag und Rotz und Wasser heulte, einfach beschlossen, die Sache, im übertragenen Sinn, selbst in die Hand zu nehmen und weiter zu leben. Inzwischen fühlt er sich zwar immer noch schwach, aber doch fast wie neu geboren. Ein gutes Gefühl – er wird sich nun zuerst einmal, vorab mit Bananen, denn den Dünnpfiff hat er natürlich immer noch, wieder hochfüttern.
Die Krankenzeit war für Felix übrigens nicht nur unangenehm: Er geniesst es, mit nur schwachem innerem Energiefeuer in diesem Zimmer zu liegen und durch die ebenerdigen glaslosen Fenster und die offene Tür in den Palmenwald zu schauen. Rings bloss Geräusche der Natur, die fantastischen Wasserbüffel, die flinken schwarzen Schweine, die einem die Scheisse praktisch vom Hintern weg fressen. Das ist der Kreislauf der Natur, und Natur gehört zu der paradiesischen Seite von Goa – die gibts nämlich auch: Wasserbüffel und Schweine, wie gesagt, freundliche Babas, die zufrieden auf ihren Ochsenkarren hocken, unbeeindruckt von den Massen verrückter zivilisationsgeschädigter junger Leute aus dem Westen, die offenbar ein schlechtes Karma abzubüssen haben...

Wenn es so etwas wie Gott gibt, denkt Felix, der mit schwachem Energiefeuer auf seinem Kranken- oder vielmehr Rekonvaleszentenlager liegt, dann ist er so gross, dass er sich jedem menschlichen Verständnis entzieht. Deshalb ist Felix ein überzeugter Agnostiker. Das menschliche Hirn, glaubt Felix zu wissen, ist einfach nicht dafür gemacht, Gott zu «begreifen». Natürlich gibt es Situationen, in denen es dem Menschen schwant, dass da irgend etwas im Busch ist, etwas, das weit über das menschliche Verständnisvermögen hinausgeht – zum Beispiel nach dem Konsum halluzinogener Drogen –, aber diese «Erkenntnis», die sich nicht in Worte fassen lässt und die aber auch gar nichts mit unserem üblichen Verständnis von «Wissen» zu tun hat, löst sich buchstäblich ins Nichts auf. Felix war in seinem Palmendorf so krank, dass er einige Male nahe daran war, den Löffel abzugeben. Aber er hat deswegen seltsamerweise keine grosse Angst gehabt. Grosse Angst hat Felix eigentlich nur dann, wenn er nicht weiss, was es ist, wovor er sich fürchtet.

Montag, 31. Dezember 2007

Auf dem Weg in den Süden



In zwei Tagen ist es Weihnachten, aber davon merkt Felix in Goa, Gott seis gedankt, nicht viel. Hier herrscht eher Karnevalstimmung – Felix hat den Eindruck, ganz Goa sei ein grosses Jugendzentrum (allerdings mit ein paar reichlich angejahrten Jugendlichen). Anjuna-Beach, Vagator-Beach, Calangute-Beach: die kleinen, im Palmenwald versteckten Stranddörfer sind voll von jungen Westlern, die ihrerseits wieder voll von Drogen sind. Da kommen allerhand Leute zusammen: Sannyasins aus Poona, die hier Ferien vom spirituellen Alltag machen, Rumtreiber, die schon jahrelang auf Achse sind, Jet-Setter, die von Europa oder den USA direkt hierher geflogen sind… Und Goa bietet so allerhand: das Essen ist gut und günstig – zumindest für die Touristen –, da gibt es jede Menge frischen Fisch, Früchte und sehr schmackhaften Coconut-Cake. Ferner bietet Goa ein ideales Klima, eine herrliche Landschaft sowie jeden Abend irgendwo eine Beachparty…
Ja, diese Beachpartys sind eine Sache für sich. Natürlich sind diese Partys nichts anderes als Business, nichts fehlt, nicht die perfekte Openair-Disco, nicht die Bar mit den überhöhten Preisen für Wodka-Orange, nicht die vielen, ärmlichen Verkaufsstände der Inder, die auf ihren Matten Tee, Kuchen, Kleider und Schmuck anbieten. Und in dieser Szene drin hängen nun so hundert, zweihundert Leute herum, alle ziemlich stoned, einige ganz hinüber. Goa ist schon ein seltsamer Platz.
Trotzdem gefällt es Felix im Moment ganz gut hier. Das Klima ist so angenehm, dass er sich nur schon dadurch viel entspannter fühlt. Und er liebt es, nackt im Sand zu liegen und den Wind am Körper zu spüren (allerdings lieben es auch die Inder, die in ganzen Busladungen an die so genannte Hippie-Beach gekarrt werden, um die nackten Europäer zu besichtigen). Ausserdem ist Felix ich etwas müde von der Herumreiserei, vom Trommelfeuer immer neuer Eindrücke. Indien ist so gross, dass man sich darin wortwörtlich verlieren kann. Ausserdem wird die Welt für Felix, und je mehr er in ihr herumkommt, nicht kleiner, sondern grösser. Und immer fremder. Goa dagegen ist ihm vertraut, und wenn auch vieles an der Szene hier kaputt ist, so ist es doch zumindest eine Kaputtheit, in der Felix sich einigermassen auskennt. Indien und die Inder hingegen wird er nie, nie, nie verstehen.

In Pokhara trennt Felix sich von den beiden Hofheimern, mit denen er fast drei Monate lang zusammen war, weil sie nach Kathmandu zurück wollen, um da einen Freund zu treffen. Felix fährt stattdessen mit einem anderen Freund, den sie in Delhi das erste Mal getroffen haben, nach Indien zurück. Der ist ebenfalls Deutscher, ein Taxifahrer und gelegentlicher Koksdealer aus Hannover mit dem Aussehen von Frank Zappa, ein ruhiger, sympathischer Typ. Sie fahren zunächst nach Varanasi, der heiligsten Stadt der Hindus und der ältesten Stadt Indiens am Ganges, dem Shiva, Gott der Zerstörung, der Leidenschaft und Ekstase gewidmete Pilgerstätte seit 2500 Jahren. Ein unglaublicher und beängstigender Ort, wie Felix ihn sich nie hätte vorstellen können – ein Ort wie aus einem Alptraum, wenigstens für ein zartbesaitetes westliches Gemüt, das es nicht gewohnt ist, mit dem ungeschminkten Leben – und somit auch dem ungeschminkten Tod – so direkt konfrontiert zu werden.



Als besonders erstrebenswert gilt es für strenggläubige Hindus, in Varanasi im von Kolibakterien, Cholera- und Typhuskeimen völlig verseuchten Ganges zu baden sowie dort einmal zu sterben an seinen Ufern und verbrannt zu werden. Entlang des Flusses ziehen sich kilometerlange stufenartige Uferbefestigungen hin, die Ghats, an denen auf der einen Seite die Gläubigen im Wasser des für sie heiligen Flusses baden und nur wenige Meter weit entfernt die Leichen der Verstorbenen verbrannt werden. Die Asche wird anschliessend ins Wasser gestreut. Dazwischen wird ungeniert Wäsche gewaschen. Ein Bad im Ganges soll von Sünden reinigen; in Varanasi zu sterben und verbrannt zu werden, vor einer Wiedergeburt schützen. Deshalb darf auch nicht verwundern, dass man hier auf Schritt und Tritt allem nur denkbaren Elend der Welt begegnet. Verstümmelte Bettler ohne Arme und Beine versuchen mühsam über die Strasse zu robben. Rechts und links neben ihnen rollt der Verkehr. Aber niemand nimmt Rücksicht auf die Unglücklichen. Hunderte von Obdachlosen recken Felix ihre Hände entgegen und grinsen ihn zahnlos an. Derweil meditieren überall mit Asche eingeriebene heilige Männer. Dazwischen sitzen langhaarige Europäer und Amerikaner und rauchen ihre Joints. Gurus versuchen, Westlern Meditations- und Yoga-Kurse zu verkaufen. Hunderte von Schulen vermitteln in Varanasi das heilige Wissen Indiens.



Dann Agra, eine hässliche und bei diesem nebligen Herbstwetter eher deprimierende Stadt (ja, auch Nebel gibt es in Indien, obwohl es vergleichsweise warm ist). Natürlich, da gibt es den weltberühmten Taj Mahal. Der Grossmogul Shah Jahan liess ihn zum Gedenken an seine 1631 verstorbene Hauptfrau Mumtaz Mahal erbauen. Der Bau des Taj Mahal wurde kurz nach dem Tod Mumtaz Mahals im Jahr 1631 begonnen und bis 1648 fertig gestellt. Beteiligt waren über 20000 Handwerker aus ganz Süd- und Zentralasien.
Eine weit verbreitete Legende besagt, es sei ursprünglich noch ein gleiches Bauwerk aus schwarzem Marmor als Mausoleum für Shah Jahan selbst auf der anderen Seite des Flusses Yamuna geplant gewesen, das aber nicht verwirklicht wurde. Diese Geschichte geht davon aus, dass der Mogul zuvor von seinem Sohn Muhammad Aurangzeb Alamgir entmachtet worden sei und den Rest seines Lebens als Gefangener verbracht habe. 1666 wurde er neben seiner Gattin beigesetzt.



Wieder eine Fahrt im Zug, von Agra nach Bombay (die Stadt wird 1995 in Mumbai umbenannt und gilt heute mit 12,9 Millionen Einwohnern als die bevölkerungsreichste Stadt der Welt). Diese Fahrten sind immer ein Erlebnis – wenn auch ein strapaziöses – und die indischen Bahnhöfe machen Felix immer halb wirr im Kopf (das heisst: wirrer, als er es sowieso schon ist); aber diese Fahrt ist besonders, also speziell speziell. Erstens hat Felix am Morgen warme Milch getrunken, weil er dachte, das würde ihm gut tun, ihm aber bloss eine weitere (und besonders heftige) Dünnschissattacke eintrug, zweitens ist der Zug brechend voll (das sind zwar alle indischen Züge, aber der hier ist extrem brechend voll), und drittens ereignet sich auch noch diese lästige Geschichte mit den indischen Polizisten in Jahnsi. Felix hat ein wenig Haschisch in der Tasche und denkt sich nichts dabei, da Drogen in Indien extrem leicht erhältlich sind; auch scheint ihm die Rechtslage bezüglich Drogen äusserst verwirrlich zu sein, weil offenbar jeder Teilstaat, vielleicht jeder Distrikt, jeder Ort oder sogar jeder einzelne Richter ein eigenes Drogengesetz hat, dann sind Drogen ja auch etwas Heiliges, die Sadhus jedenfalls kiffen ganz offen und ungeniert, und gerade im Umfeld von Tempeln sind Drogen besonders wohlfeil, also kurz, es herrscht eine grosse Unübersichtlichkeit in dieser Frage und deshalb scheint es Felix völlig risikofrei zu sein, ein wenig Ganja, wie Haschisch in Indien heisst, in der Tasche herumzutragen.
Das scheint Felix jedenfalls so lange so, bis sie im Bahnhof von Jahnsi einfahren. Da steigen ein paar Polizisten ein und halten gezielt Ausschau nach Westlern wir Felix, und wie immer in solchen Situationen ist er der, den es erwischt – er scheint da eine gewisse magische Ausstrahlung zu haben. Etwa drei oder vier Uniformierte befehlen ihm, mit ihnen auf die Toilette zu kommen. Toiletten in indischen Zügen sind in der Regel recht unwirtliche Orte, an denen man sich nur im Notfall aufhält (wobei der Notfall bei Felix, angesichts seines Hangs zu dünnpfiffartigen Abgängen, relativ oft eintritt. Es ist dabei jedoch zu bedenken, dass man in Indien normalerweise keine öffentlichen und auch in Hotels und Restaurants der für Felix erschwinglichen Kategorie kaum brauchbare Toiletten findet, sondern gefälligst die Strasse benutzt. Deshalb ist Felix als zartbesaitetem europäischem Gemüt eine wenn auch unwirtliche Zugstoilette schon fast wieder willkommen). Wie dem auch sei, an diesem Ort kehren die Hüter des Gesetzes ihm die Taschen und stossen so, ohne viel kriminalistischen Scharfsinn aufwenden zu müssen, auf das Corpus Delicti. Darüber sind sie aber nicht etwa verärgert oder so, sondern ganz im Gegenteil sehr erfreut; fehlt nur noch, dass sie Felix anerkennend auf die Schulter klopfen. Auf jeden Fall schlagen sie ihm unverzüglich ein Geschäft vor, auf das er mangels Alternativen natürlich sofort eingeht, worauf er nicht nur eines Teils seines Geldes (allerdings handelt es sich um keinen allzu hohen Betrag), sondern natürlich auch seines Stückchens Ganja verlustig geht, an dem sich nun die fidelen Polizisten von Jahnsi verlustieren können. Dann wünschen sie ihm noch eine gute Reise und das wars.
Als Felix wieder zu seinem Frank Zappa und den anderen Fahrgästen in sein Zugsabteil zurückkehrt, wollen die Mitreisenden natürlich brennend gern wissen, was denn war. In Indien gerät man mit den anderen Zugspassagieren leicht ins Gespräch. Felix erzählt der Wahrheit gemäss, was sich ereignet hat, worauf eine lebhafte Debatte über die Korruption der indischen Polizei in Gang kommt. Einer meint sogar, Felix solle die Polizisten bei ihrer Ankunft in Bombay anzeigen. Felix hält sich mit seiner Meinung, dass er das eventuell nicht für eine so gute Idee hält, zurück. Bei wem sollte er die Polizisten anzeigen, bei der Polizei etwa? Und was, wenn er im Rechtsempfinden dieser hypothetischen Beamten einen drogenmitsichtragenden Verbrecher darstellt? Da könnte er leicht vom Regen in die Traufe geraten. Na ja, eine halbe oder eine Stunde später ist die Sache sowieso vergessen, und Felix sucht die Toilette wieder nur noch auf, weil, wie gesagt, siehe oben.



Mumbai, Victoria Station



Mumbai Skyline

In Bombay bleiben sie für drei Tage. Hier entnimmt Felix am 8. Dezember den riesigen Schlagzeilen der hiesigen Zeitungen, dass John Lennon von seinem Fan Mark Chapman mit fünf Schüssen ermordet wurde. John Lennon und seine Musik scheinen also auch in Indien populär zu sein. In diesem Teil der Welt relativiert sich die Bedeutung eines Menschenlebens allerdings, auch des Lebens eines Mannes wie John Lennon. Trotzdem ist Felix schockiert und betroffen; selbstverständlich hat er den Musiker nicht persönlich gekannt, aber immerhin ist dieser ihm in seinen Träumen mehrere und sehr eindrückliche Male erschienen.



Es war einmal John Lennon

In Bombay geben unsere beiden Weltenbummler an einem Tag mehr Geld aus als vorher in einer Woche; dafür haben sie jetzt ein Zimmer, das bloss 4 Rupien die Nacht kostet. Auf diese Bleiben stossen sie erst nach langem Suchen: es ist wahrscheinlich der letzte Raum, der in Anjuna-Beach noch frei ist. Ein längliches Haus mit zwei Räumen; im vorderen Teil wohnt die Besitzer-Familie, der hintere Raum ist ziemlich gross und vollkommen leer. Anderntags fahren Frank und Felix nach Calangute-Beach, um einzukaufen: Bastmatten, buntes Crêpe-Papier und ein schönes Tuch für an die Wand, Kerzen, ein Wasserkübel… Jetzt sieht der Raum echt gemütlich aus. Einmal nicht dieses Hotelzimmer-Gefühl zu haben, ist schon sehr angenehm.
Sie leben hier fast wie ein Ehepaar zusammen, Felix und der Zappa; sie haben alles hier (ausser Sex – in dieser Hinsicht führt Felix nun schon seit über vier Monaten ein mönchisches Leben; es hat sich einfach keine Gelegenheit dazu ergeben, aber Felix vermisst den Sex nicht allzu sehr, weil er eben sonst nicht frustriert ist).

Donnerstag, 27. Dezember 2007

Der Gott der Komplexität



Trauer, ja Verzweiflung sind angesichts der Komplexität, auf der natürlich auch die menschliche Existenz gründet, völlig angemessene Gefühle, wenn daneben Freude und sogar Glück ihren Platz haben. Mit diesem Satz erwacht er, auf einen Schlag hellwach – aus einem Traum, der ihn völlig aufwühlt. Immer sind es die Träume, die ihn inspirieren und ihn der Wahrheit, falls die für die menschlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgane überhaupt auch nur annähernd fassbar sein sollte, ein winzig kleines Stück näher bringen – nicht so, dass er sie sich dann aneignen könnte, aber doch in einer Weise, die ihn gewissermassen verändert zurücklässt. Es ist ein Erlebnis, das ihn erschüttert und den Tränen nahe bringt, von einer Intensität und Tiefe, die kaum zu ertragen sind. Dabei ist das Traumgeschehen die Oberfläche, der Schein, und die soeben angetönte «Wahrheit» die Tiefe, das Sein. Denn nicht: Oberfläche und Tiefe, Sein und Schein gehören ja irgendwie zusammen, bilden die komplexe Struktur dessen, was wir als Wirklichkeit empfinden. Da ist es wieder, dieses Wort: Komplexität. Das führt zum Kern der Empfindungen, die ihn nach dem Traum überschwemmen: Die Komplexität des Seins ist das, was wir als das Göttliche empfinden, oder umgekehrt: Das Göttliche im Sein ist dessen Komplexität, wir sind also umfangen und durchtränkt vom Göttlichen, und dass wir es nicht wahrnehmen, macht unsere Verblendung aus, aus der denn auch die moralische Verkommenheit des Menschen folgt. Die Schlechtigkeit des Menschen ist Verblendung, nichts als Verblendung! Machtmissbrauch ist Verblendung, Gier ist Verblendung, Eifersucht ist Verblendung, Hass sowieso. So, wie aus unschuldigen Kindern erwachsene Monster werden können, so ist der Kern aller menschlichen Regungen die Unschuld, seien diese nun auf Sexualität, Lust, Vergnügen, Neugier, Erkenntnisdrang, Geltenwollen oder was auch immer ausgerichtet. Pervertiert werden sie durch die menschliche Verblendung, den fatalen Hang des Menschen zur Vereinfachung und zur Abkürzung. Wahrscheinlich ist es ein Teil der menschlichen Entwicklung, den Weg dieser Abkürzungen und Vereinfachungen zu gehen und an den Hässlichkeiten und der Beschmutzung des Göttlichen, das daraus entsteht, zu leiden, um dann bewusst die Komplexität oder das Göttliche ersehnen, entdecken, erahnen zu können – wie er es tut in manchen seiner Träume, weil in den Träumen Vereinfachungen und Abkürzungen nicht so leicht möglich sind, vielleicht. Das Unschuldige, das am Anfang steht, der Samen, und das komplexe Ganze, das sich daraus entfaltet hat – auch ein wieder fast religiöses Bild. Die Religionen selbst sind ja ein Sinnbild dieser Entwicklung, sie haben sich aus der Unschuld heraus – ihrem mystischen Kern – zu gewaltigen Theologien, Lehrgebäuden voller Abgrenzungen, Verbote und moralischer Verurteilung entwickelt, sie arbeiten mit Simplifizierungen und nach dem Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip, um ihre Schäfchen bei der Stange zu halten. Ganz auf die Spitze getrieben wird diese Pervertierung bei den Sekten aller Ausrichtung und aller Art, seien sie nun so genannt «religiöser» oder «politischer» Natur. Ihr Hauptzweck besteht geradezu darin, die Komplexität des Seins, also seine Göttlichkeit, zu leugnen und zu verneinen. Aus Angst und Verblendung bringen sich ihre Anhängerinnen und Anhänger um die grossartige Möglichkeit, durch das wirbelnde Chaos der menschlichen Existenz hindurch die unglaubliche Grösse und Schönheit des Göttlichen zu erahnen und dadurch anzubeten, denn dann – Allahu akbar – kann man gar nicht anders.
Es ist ihm unmöglich, den Inhalt des Traums zu rekonstruieren, der diese Gedanken und Gefühle in ihm ausgelöst hat, wahrscheinlich würde das auf dem Papier, in Worte und Sätze gepresst, auch keinen Sinn machen, er erinnert sich nur ganz deutlich noch daran, dass eine alte Frau, seine Mutter vielleicht, darin vorkam, eine gelassene und weise Person, die sich ihm zeigt, wie sie als kleines Mädchen war, dessen Lebensfreude und Unschuld ihm die Tränen in die Augen treibt, an denen er dann erwacht.

Erlauben Sie uns, liebe Leserin, lieber Leser, noch ein Wort in diesem Zusammenhang zur Kunst. Kunst scheint uns heute das wesentlich probatere Mittel als die (institutionelle) Religion, sich dieser Komplexität anzunähern. Deshalb ist und war wahre Kunst nie ein Job, eine Fertigkeit oder ein Handwerk, sondern viel eher ein Gottesdienst. Kunst ist die Annäherung an die Komplexität, das Ringen mit der Komplexität, die Sehnsucht, als Teil mit dem Ganzen der Komplexität zu verschmelzen. Natürlich gibt es auch in der Kunst viel Scharlatanerie, und wir möchten hier auch nicht einer sozusagen esoterischen oder anthroposophischen Kunstrichtung das Wort reden, ganz im Gegenteil. Wir glauben aber, dass wahre Kunst darin besteht, die Komplexität erfahrbar oder zumindest erahnbar zu machen, weil Kreativität aus dem gleichen Reservoir schöpft wie zum Beispiel die mystische Verzückung und aus dem auch gewisse Träume stammen.