«Politik ist Verallgemeinern», erklärte mir Leo. «Literatur ist Differenzieren, und die beiden stehen zueinander nicht nur in einem reziproken Verhältnis – sondern in einem feindlichen Verhältnis. Für die Politik ist die Literatur dekadent, schlaff, unerheblich, langweilig, verschroben, fade, etwas, das weder Hand noch Fuss hat und das es eigentlich gar nicht zu geben braucht. Warum? Weil der Wunsch nach Differenzierung schon Literatur ist. Wie kann man Künstler sein und Nuancen ausser Acht lassen? Wie kann man Politiker sein und Nuancen beachten? Der Künstler sieht die Nuance als seine Aufgabe. Die Aufgabe besteht darin, nicht zu vereinfachen. Auch wenn man sich dazu entschliesst, so einfach wie möglich zu schreiben, etwa wie Hemingway, bleibt die Aufgabe, die Nuancen herauszuarbeiten, das Komplizierte aufzuhellen, die Widersprüche darzustellen. Und nicht, die Widersprüche wegzuwischen, die Widersprüche zu leugnen, sondern zu forschen, wo innerhalb der Widersprüche der gepeinigte Mensch zu finden ist. Man muss das Chaos mit einkalkulieren, man muss es zulassen. Man muss es zulassen. Sonst produziert man Propaganda, wenn nicht für eine politische Partei, eine politische Bewegung, dann stumpfsinnige Propaganda für das Leben selbst – für das Leben, wie es sich vielleicht selbst gern in der Öffentlichkeit dargestellt sehen möchte. (…)»
Philip Roth, in «Mein Mann, der Kommunist», übersetzt von Werner Schmitz, rororo Taschenbuch, Seite 275
Sonntag, 14. August 2011
Montag, 1. August 2011
Eyjafjallajökull oder Das Haus, in dem die Schatten der Vergangenheit wohnen
Er klopfte ohne zu zögern. Er musste mit dem Direktor sprechen, schliesslich hatte sich ein Unglück ereignet, ein Unfall oder gar ein Verbrechen, in das ältere oder alte Damen verwickelt waren. Auf sein Klopfen wurde nicht reagiert. Vorsichtig öffnete Oesch die Tür, trat ein und blieb überrascht stehen. Der Raum war unglaublich gross und in dämmriges Grün getaucht. Überall standen überdimensionierte, tropisch anmutende Pflanzen, riesige Farne, bizarr anmutende Kakteen, Bananenbäume, Heliconien, Orchideen... Oesch war kein Pflanzenkenner, aber ein Pflanzenliebhaber – ihn faszinierte das Büro des Direktors, in dem es feucht, süsslich und erdig roch, in dem die Luft schwer und warm war und durch das Kolibris und andere kleine, bunte Vögel schwirrten. War das möglich? Warum sprengte das Büro des Direktors alle Proportionen, gab es überhaupt Platz in einem Stadthaus für einen riesigen Raum wie diesen? Und warum war das Büro – gar kein Büro? In dieser Halle gab es weder Schreibtische noch Gestelle oder weitere Büromöbel und auch keine Kopiergeräte, Computer und andere Büromaschinen. In diesem Büro gab es Natur pur und sonst gar nichts. Fehlten nur noch die Schildkröten und in den Baumkronen herumturnende Affen. Vom Direktor fehlte hingegen jede Spur.
Oesch versuchte, sich an den Direktor zu erinnern. Er musste den Direktor doch kennen, schliesslich arbeitete er nicht erst seit gestern beim Hilfswerk. Aber sein Gedächtnis liess ihn im Stich. War der Direktor jung oder alt, ein Mann oder eine Frau, ein angenehmer Mensch oder nicht? Oesch musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte. Vielleicht existierte der Direktor gar nicht? Aber ein umfassendes Hilfswerk von einer solchen überragenden Bedeutung musste doch einen Direktor haben – oder etwa nicht?
Oesch drang weiter in den Raum vor. Er fühlte sich trotz seiner Verunsicherung auf eine nicht unangenehme Weise leer, erwartungslos, ja geradezu wurstig gestimmt. Er nahm einen Geruch wahr, der ihn an Zoo und Tropenhaus erinnerte. Er war im Dschungel.
Die Pflanzen, überall die wild wuchernden Pflanzen: Sie riechen, sie bewegen sich, sie greifen nach mir.
Natürlich, die Pflanzen sind lebendige Wesen. Komisch. Das war mir bisher gar nicht recht klar. Die haben zwar kein Hirn und keine Augen und keine Ohren und so. Und doch sind sie aus einem Stoff gemacht, dass sie fühlen können. Aus einem besonderen Stoff, aus einem feinen Stoff: dem Stoff, aus dem die Träume sind.
Ja, sie sind wie Blinde, die Pflanzen. Wie Blinde tasten sie mit ihren knochenlosen Pflanzenarmen in der ewigdunklen Suppe ihrer Umgebung.
Oder, was wahrscheinlicher ist, sie tasten nach mir, unschuldig getrieben von ihrem Instinkt. Sie wollen mich verschlingen. Es sind nämlich Fleisch fressende Pflanzen. Ich bin in einen Urwald geraten. Wie komm ich bloss in diesen Urwald?
Ich muss fliehen.
Aber wohin?
Da, die Tarzanlianen – sieht aus wie in einem Comic-Strip. Ist aber alles echt. Plastisch. Vielleicht ist es ein 3-D-Comic.
Wenn es nur ein Comic wäre! Oder ein Film. Oder ein Traum. Einfach erwachen können – das wäre schön!
Wäre das schön?
Auf jeden Fall mach ich mir hier in die Hosen in diesem Urwald. Wobei ich ja gar keine Hosen anhabe. Ich bin ziemlich nackt. Ich habe nur eine Baseballmütze auf dem Kopf und einen Gürtel mit Dschungelmesser umgeschnallt und grobe Stiefel an den Füssen.
Das kommt davon, wenn man zum Abenteurer geboren ist.
Verdient man aber schwer Geld auf diesen Expeditionen, Goldsucherfahrten, El-Dorado-Trecks.
Was ist denn das für ein Brüllen und Quietschen?
Ach ja, der Urwald. Hab ich schon fast wieder vergessen. Ein Urwald voller Affen, Tiger, Leoparden, Schlangen, Spinnen, Kannibalen…
Ach hör schon auf!
Mir ist komisch. Kalt oder heiss. Zu kalt oder zu heiss. Zu kalt und zu heiss. Ich brauch etwas. ICH BRAUCH ETWAS!
Ich muss raus hier.
Diese geilen Pflanzen versuchen die ganze Zeit, mir zwischen die Beine zu greifen. Ich hab einen Steifen, weiss gar nicht warum. Geil bin ich jedenfalls nicht. «Hart wie der Zahn der Bisamratte…»
Weg da! Pfoten weg!
Ich will in die Stadt! Ich will in die Stadt, denn ich brauche etwas, Geld und ETWAS, ich bin ein Stadtjunge, verdammt noch mal. Ich hasse die Natur. Scheissnatur! Scheissnatur!
Die Stadt.
Die stinkende Welt der Stadt.
Die Welt des täglichen Verkehrskriegs und des vertrauten Bildes von Erbrochenem auf der Strasse.
Der Welt der aufeinander prallenden Menschenmassen in den Einkaufsparadiesen und den Bars.
Die neonfunkelnde Welt der Stadt.
Da vorn ist es ein bisschen lichter. Vielleicht sollte ich auf einen Baum steigen. Vielleicht sehe ich dann was. Ein Hochhaus zum Beispiel. Eine Autobahn. Einen Spielsalon. Einen Waschsalon. Einen Saloon mitten im Wilden Westen. Die Luft flimmert in der Hitze, man hört keinen Ton, aber jetzt hört man das Getrampel von Pferdehufen, und ein Haufen bärtiger Männer mit wilden Gesichtern reitet in die Stadt und hat nichts Gutes im Sinn.
Das ist ja ein Sumpf da vorn. Ein stinkender Sumpf. Es riecht wie im Bumsraum einer ungepflegten Schwulensauna.
Hier hats bestimmt Krokodile.
Die liegen im Wasser und bewegen sich nicht und sehen aus wie ein angefaulter Baumstrunk, aber wenn man ihnen zu nahe kommt, dann schnapp! Gemein wie das Leben.
Ich spüre, wie sich meine Körperhaare aufrichten, eins nach dem andern.
Etwas kommt näher.
ETWAS.
Hilfe, ich will weg hier. Lasst mich raus!
Es ist so eng und feucht und heiss –
krieg keine Luft mehr –
ich – glaub – ich – verrecke –
Scheisstraum das. Dass ich immer so einen Scheiss zusammenträumen muss. Hm, Nachmittagsträume. Ich glaub, ich brauch etwas. Fühl mich wirklich ein bisschen komisch. Wo hab ich denn… Ja: das reicht jetzt noch bis am Nachmittag. Das nehm ich jetzt, und dann will ich noch ein bisschen liegen. Dann träum ich bestimmt nicht mehr solchen Scheiss. Und dann muss ich mir Geld besorgen, mindestens einen Hunderter. Besser natürlich einen Fünfhunderter oder einen Tausender. Vielleicht find ich ja heut einen, der mich adoptiert. Wo sind die Streichhölzer? Eine Zigarette möchte ich rauchen. Nicht jetzt, nachher. Durst habe ich auch. Aber jetzt nehm ich zuerst was. Und dann lege ich mich nochmals ins Bett, um zu überlegen, wie ich denn heute zu Geld komme. Wenn ich doch ein richtiger Krimineller wäre! Wer einen Banküberfall machen will, muss planen und organisieren können, braucht Kreativität, kriminelle Intelligenz, Durchsetzungskraft. Und wenn er die hat, wird er nicht Bankräuber, sondern Banker. Ist einfacher. Bringt mehr Kohle. Geht bei mir nicht. Mach ich halt den Strich.
Ja.
Mhm, schon besser.
Wenn ich jetzt auf den Strich geh, ist mir alles scheissegal. Nun kommt angelatscht, ihr alten, hässlichen, frustrierten Typen mit euern Eheweibern zuhause und den knackigen Söhnen, die ihr nicht anfassen dürft! Mich interessiert Sex nicht mehr, ist eine unappetitliche Sache, und wenn ich einem den Sabberschwanz nuckeln soll, kommt mir echt das grosse Kotzen. Nein, das mach ich nicht mehr mit. Sollen sie an mir rumfummeln, können auch meinen halbsteifen Schwanz lutschen, während sie sich einen runterholen dabei. Manche verlangen, dass man sie anpisst oder ihnen auf den Kopf scheisst, so ekelhaftes Zeug, ist mir auch egal, solange sie mich in Ruhe lassen, ist leicht verdientes Geld. Ja, da trifft man schon ganz komische Vögel.
Also, ich bin vielleicht ja selbst auch ein bisschen schwul, aber nicht richtig, damit, dass ich auf den Strich gehe, hat das nichts zu tun. Ich brauche einfach den Zaster.
Ich bin müde.
Ich möchte ewig so liegen bleiben und gar nicht mehr aufstehen müssen.
Vielleicht ist es so, wenn man tot ist.
So herrlich gleichgültig, satt.
Wie im Paradies.
Wind, kleine flinke Wölkchen am Himmel.
Ein weisses Häuschen, das auf einem Felsen steht hoch über dem Meer.
Junge braune Männer, die ihre nackten Körper über die Klippe segeln lassen.
Junge Männer, die fliegen können.
Wassertropfen schmiegen sich an ihre glatte, braune Haut, während die Sonne ihre Körper küsst.
Dann tauchen ihre Körper ins Meer ein.
Das Leben ist ein Tanz, ein Spiel.
Und rings der Raum so weit, so weit.
Und die kleinen flinken Wölkchen unendlich fern am weiten Himmel.
Und ich sitze auf dem Felsen hoch über dem Meer.
Ich bin nackt, und der Wind und die Sonne liebkosen meine Haut.
Tief unten schäumt und gischt das Meer.
Ganz klein schwimmen die jungen Männer mit ihrer dunklen Haut im Wasser.
Sie rufen mir etwas zu, aber ich verstehe sie nicht.
Ich höre den hellen Klang ihrer Stimmen.
Sie winken mir: Ich soll zu ihnen runterspringen.
Ja, ich will auch ein fliegender Knabe sein.
Ich springe auf die Füsse.
Ich hüpfe auf dem Felsen wie auf einem Trampolin, nackt, schwerelos.
Ich segle über die Klippen und falle langsam wie in Zeitlupe auf die Wasser zu
und tauche ein in das silberne Element,
den reinen Stoff des Lebens.
Scheisse, wie spät ist es? Schon nach vier. Muss wohl wieder eingeschlafen sein. Muss wohl geträumt haben. Ich habe eine Latte. Es war wohl ein erotischer Traum, schade, dass man Träume immer gleich wieder vergisst.
Ich will mal einen Kaffee trinken und eine Zigarette rauchen. Und was essen.
Allzu mager sollte ich nämlich nicht werden.
Das mögen die Freier nicht, so ein klappriges Knochengestell.
Die wollen dralles Fleisch am Arsch und stramme Schenkel, die geilen Böcke.
Mein Gesicht gefällt mir. Die schwarzen Augenbrauen wachsen fast zusammen auf dem zarten Fleisch über der Nase. Jetzt sind die Haare wieder länger: braun und dicht. Lange Haare stehen mir einfach besser als kurze.
Gestern habe ich ein Gesicht gesehen: Schutzlos und schön. Ein fleischgewordener Traum Gottes.
Vielleicht sind wir ja alle Figuren aus den Träumen Gottes.
Vielleicht gibt es Gott ja tatsächlich.
Und manchmal hat Er einen geilen Traum, dann wieder einen Alptraum.
Was Gott wohl empfunden hat, als er mich träumte... ?
Halt, nein: Er träumt mich ja jetzt!
Eigenartig.
Der Kaffee ist heiss.
Ich weiss gar nicht, wie das die Leute machen: acht, neun Stunden am Tag arbeiten. Die zwei, drei Freier, die ich pro Tag bediene, sind rasch erledigt.
Die können ihren Sprutz ja meistens nicht schnell genug loswerden.
Trotzdem: Langweilig wird mir nie.
Einfach die Tatsache, dass man überhaupt lebt.
Eine von Millionen von Samenzellen gewinnt den Wettlauf und befruchtet das Ei.
Im Grunde ist jeder, der geboren wird, schon mal ein ganz grosser Gewinner. So gesehen.
Die Kraft hat alles, was ist, ins Dasein geschleudert, ejakuliert, die Berge, die Bäume, die Autos und die Atomkraftwerke.
Sie macht, dass das Herz schlägt, der Atem geht, die Bagger sich durch das Erdreich wühlen und die Raketen ins All fräsen.
Die Ideen, Gedanken und Gefühle des Wesens, das uns gemacht hat, müssen alle zu Fleisch werden, das ist das Wunder und der Fluch der Existenz.
Ich möchte es verstehen. Ich muss darüber nachdenken.
Unbedingt.
Ich hab doch mal was gelesen über den menschlichen Geist.
Dass dieser Geist pure Magie sei oder so.
Auch die Ideen und Gedanken und Gefühle des Menschen müssten zu Fleisch und Blut werden, zu handfesten Wirklichkeiten.
Deshalb sei alles so, wie es sei, gebe es keinen Ausweg aus diesem Labyrinth.
Es passiere, was passieren müsse. Im Guten wie im Schlechten.
Wenn man mit einem solchen Hunger zur Welt kommt wie die Menschen, dann muss man sich nicht wundern, dass schliesslich alles kahl gefressen ist.
Insbesondere, weil der Appetit mit dem Essen kommt, wie man sagt.
Ich bin müde.
Ich möchte im warmen Wasser liegen.
Der Wind müsste mich in seine Arme nehmen.
Das Feuerchen in meinem Herzen gibt warm.
Oesch versuchte, sich an den Direktor zu erinnern. Er musste den Direktor doch kennen, schliesslich arbeitete er nicht erst seit gestern beim Hilfswerk. Aber sein Gedächtnis liess ihn im Stich. War der Direktor jung oder alt, ein Mann oder eine Frau, ein angenehmer Mensch oder nicht? Oesch musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte. Vielleicht existierte der Direktor gar nicht? Aber ein umfassendes Hilfswerk von einer solchen überragenden Bedeutung musste doch einen Direktor haben – oder etwa nicht?
Oesch drang weiter in den Raum vor. Er fühlte sich trotz seiner Verunsicherung auf eine nicht unangenehme Weise leer, erwartungslos, ja geradezu wurstig gestimmt. Er nahm einen Geruch wahr, der ihn an Zoo und Tropenhaus erinnerte. Er war im Dschungel.
Die Pflanzen, überall die wild wuchernden Pflanzen: Sie riechen, sie bewegen sich, sie greifen nach mir.
Natürlich, die Pflanzen sind lebendige Wesen. Komisch. Das war mir bisher gar nicht recht klar. Die haben zwar kein Hirn und keine Augen und keine Ohren und so. Und doch sind sie aus einem Stoff gemacht, dass sie fühlen können. Aus einem besonderen Stoff, aus einem feinen Stoff: dem Stoff, aus dem die Träume sind.
Ja, sie sind wie Blinde, die Pflanzen. Wie Blinde tasten sie mit ihren knochenlosen Pflanzenarmen in der ewigdunklen Suppe ihrer Umgebung.
Oder, was wahrscheinlicher ist, sie tasten nach mir, unschuldig getrieben von ihrem Instinkt. Sie wollen mich verschlingen. Es sind nämlich Fleisch fressende Pflanzen. Ich bin in einen Urwald geraten. Wie komm ich bloss in diesen Urwald?
Ich muss fliehen.
Aber wohin?
Da, die Tarzanlianen – sieht aus wie in einem Comic-Strip. Ist aber alles echt. Plastisch. Vielleicht ist es ein 3-D-Comic.
Wenn es nur ein Comic wäre! Oder ein Film. Oder ein Traum. Einfach erwachen können – das wäre schön!
Wäre das schön?
Auf jeden Fall mach ich mir hier in die Hosen in diesem Urwald. Wobei ich ja gar keine Hosen anhabe. Ich bin ziemlich nackt. Ich habe nur eine Baseballmütze auf dem Kopf und einen Gürtel mit Dschungelmesser umgeschnallt und grobe Stiefel an den Füssen.
Das kommt davon, wenn man zum Abenteurer geboren ist.
Verdient man aber schwer Geld auf diesen Expeditionen, Goldsucherfahrten, El-Dorado-Trecks.
Was ist denn das für ein Brüllen und Quietschen?
Ach ja, der Urwald. Hab ich schon fast wieder vergessen. Ein Urwald voller Affen, Tiger, Leoparden, Schlangen, Spinnen, Kannibalen…
Ach hör schon auf!
Mir ist komisch. Kalt oder heiss. Zu kalt oder zu heiss. Zu kalt und zu heiss. Ich brauch etwas. ICH BRAUCH ETWAS!
Ich muss raus hier.
Diese geilen Pflanzen versuchen die ganze Zeit, mir zwischen die Beine zu greifen. Ich hab einen Steifen, weiss gar nicht warum. Geil bin ich jedenfalls nicht. «Hart wie der Zahn der Bisamratte…»
Weg da! Pfoten weg!
Ich will in die Stadt! Ich will in die Stadt, denn ich brauche etwas, Geld und ETWAS, ich bin ein Stadtjunge, verdammt noch mal. Ich hasse die Natur. Scheissnatur! Scheissnatur!
Die Stadt.
Die stinkende Welt der Stadt.
Die Welt des täglichen Verkehrskriegs und des vertrauten Bildes von Erbrochenem auf der Strasse.
Der Welt der aufeinander prallenden Menschenmassen in den Einkaufsparadiesen und den Bars.
Die neonfunkelnde Welt der Stadt.
Da vorn ist es ein bisschen lichter. Vielleicht sollte ich auf einen Baum steigen. Vielleicht sehe ich dann was. Ein Hochhaus zum Beispiel. Eine Autobahn. Einen Spielsalon. Einen Waschsalon. Einen Saloon mitten im Wilden Westen. Die Luft flimmert in der Hitze, man hört keinen Ton, aber jetzt hört man das Getrampel von Pferdehufen, und ein Haufen bärtiger Männer mit wilden Gesichtern reitet in die Stadt und hat nichts Gutes im Sinn.
Das ist ja ein Sumpf da vorn. Ein stinkender Sumpf. Es riecht wie im Bumsraum einer ungepflegten Schwulensauna.
Hier hats bestimmt Krokodile.
Die liegen im Wasser und bewegen sich nicht und sehen aus wie ein angefaulter Baumstrunk, aber wenn man ihnen zu nahe kommt, dann schnapp! Gemein wie das Leben.
Ich spüre, wie sich meine Körperhaare aufrichten, eins nach dem andern.
Etwas kommt näher.
ETWAS.
Hilfe, ich will weg hier. Lasst mich raus!
Es ist so eng und feucht und heiss –
krieg keine Luft mehr –
ich – glaub – ich – verrecke –
Scheisstraum das. Dass ich immer so einen Scheiss zusammenträumen muss. Hm, Nachmittagsträume. Ich glaub, ich brauch etwas. Fühl mich wirklich ein bisschen komisch. Wo hab ich denn… Ja: das reicht jetzt noch bis am Nachmittag. Das nehm ich jetzt, und dann will ich noch ein bisschen liegen. Dann träum ich bestimmt nicht mehr solchen Scheiss. Und dann muss ich mir Geld besorgen, mindestens einen Hunderter. Besser natürlich einen Fünfhunderter oder einen Tausender. Vielleicht find ich ja heut einen, der mich adoptiert. Wo sind die Streichhölzer? Eine Zigarette möchte ich rauchen. Nicht jetzt, nachher. Durst habe ich auch. Aber jetzt nehm ich zuerst was. Und dann lege ich mich nochmals ins Bett, um zu überlegen, wie ich denn heute zu Geld komme. Wenn ich doch ein richtiger Krimineller wäre! Wer einen Banküberfall machen will, muss planen und organisieren können, braucht Kreativität, kriminelle Intelligenz, Durchsetzungskraft. Und wenn er die hat, wird er nicht Bankräuber, sondern Banker. Ist einfacher. Bringt mehr Kohle. Geht bei mir nicht. Mach ich halt den Strich.
Ja.
Mhm, schon besser.
Wenn ich jetzt auf den Strich geh, ist mir alles scheissegal. Nun kommt angelatscht, ihr alten, hässlichen, frustrierten Typen mit euern Eheweibern zuhause und den knackigen Söhnen, die ihr nicht anfassen dürft! Mich interessiert Sex nicht mehr, ist eine unappetitliche Sache, und wenn ich einem den Sabberschwanz nuckeln soll, kommt mir echt das grosse Kotzen. Nein, das mach ich nicht mehr mit. Sollen sie an mir rumfummeln, können auch meinen halbsteifen Schwanz lutschen, während sie sich einen runterholen dabei. Manche verlangen, dass man sie anpisst oder ihnen auf den Kopf scheisst, so ekelhaftes Zeug, ist mir auch egal, solange sie mich in Ruhe lassen, ist leicht verdientes Geld. Ja, da trifft man schon ganz komische Vögel.
Also, ich bin vielleicht ja selbst auch ein bisschen schwul, aber nicht richtig, damit, dass ich auf den Strich gehe, hat das nichts zu tun. Ich brauche einfach den Zaster.
Ich bin müde.
Ich möchte ewig so liegen bleiben und gar nicht mehr aufstehen müssen.
Vielleicht ist es so, wenn man tot ist.
So herrlich gleichgültig, satt.
Wie im Paradies.
Wind, kleine flinke Wölkchen am Himmel.
Ein weisses Häuschen, das auf einem Felsen steht hoch über dem Meer.
Junge braune Männer, die ihre nackten Körper über die Klippe segeln lassen.
Junge Männer, die fliegen können.
Wassertropfen schmiegen sich an ihre glatte, braune Haut, während die Sonne ihre Körper küsst.
Dann tauchen ihre Körper ins Meer ein.
Das Leben ist ein Tanz, ein Spiel.
Und rings der Raum so weit, so weit.
Und die kleinen flinken Wölkchen unendlich fern am weiten Himmel.
Und ich sitze auf dem Felsen hoch über dem Meer.
Ich bin nackt, und der Wind und die Sonne liebkosen meine Haut.
Tief unten schäumt und gischt das Meer.
Ganz klein schwimmen die jungen Männer mit ihrer dunklen Haut im Wasser.
Sie rufen mir etwas zu, aber ich verstehe sie nicht.
Ich höre den hellen Klang ihrer Stimmen.
Sie winken mir: Ich soll zu ihnen runterspringen.
Ja, ich will auch ein fliegender Knabe sein.
Ich springe auf die Füsse.
Ich hüpfe auf dem Felsen wie auf einem Trampolin, nackt, schwerelos.
Ich segle über die Klippen und falle langsam wie in Zeitlupe auf die Wasser zu
und tauche ein in das silberne Element,
den reinen Stoff des Lebens.
Scheisse, wie spät ist es? Schon nach vier. Muss wohl wieder eingeschlafen sein. Muss wohl geträumt haben. Ich habe eine Latte. Es war wohl ein erotischer Traum, schade, dass man Träume immer gleich wieder vergisst.
Ich will mal einen Kaffee trinken und eine Zigarette rauchen. Und was essen.
Allzu mager sollte ich nämlich nicht werden.
Das mögen die Freier nicht, so ein klappriges Knochengestell.
Die wollen dralles Fleisch am Arsch und stramme Schenkel, die geilen Böcke.
Mein Gesicht gefällt mir. Die schwarzen Augenbrauen wachsen fast zusammen auf dem zarten Fleisch über der Nase. Jetzt sind die Haare wieder länger: braun und dicht. Lange Haare stehen mir einfach besser als kurze.
Gestern habe ich ein Gesicht gesehen: Schutzlos und schön. Ein fleischgewordener Traum Gottes.
Vielleicht sind wir ja alle Figuren aus den Träumen Gottes.
Vielleicht gibt es Gott ja tatsächlich.
Und manchmal hat Er einen geilen Traum, dann wieder einen Alptraum.
Was Gott wohl empfunden hat, als er mich träumte... ?
Halt, nein: Er träumt mich ja jetzt!
Eigenartig.
Der Kaffee ist heiss.
Ich weiss gar nicht, wie das die Leute machen: acht, neun Stunden am Tag arbeiten. Die zwei, drei Freier, die ich pro Tag bediene, sind rasch erledigt.
Die können ihren Sprutz ja meistens nicht schnell genug loswerden.
Trotzdem: Langweilig wird mir nie.
Einfach die Tatsache, dass man überhaupt lebt.
Eine von Millionen von Samenzellen gewinnt den Wettlauf und befruchtet das Ei.
Im Grunde ist jeder, der geboren wird, schon mal ein ganz grosser Gewinner. So gesehen.
Die Kraft hat alles, was ist, ins Dasein geschleudert, ejakuliert, die Berge, die Bäume, die Autos und die Atomkraftwerke.
Sie macht, dass das Herz schlägt, der Atem geht, die Bagger sich durch das Erdreich wühlen und die Raketen ins All fräsen.
Die Ideen, Gedanken und Gefühle des Wesens, das uns gemacht hat, müssen alle zu Fleisch werden, das ist das Wunder und der Fluch der Existenz.
Ich möchte es verstehen. Ich muss darüber nachdenken.
Unbedingt.
Ich hab doch mal was gelesen über den menschlichen Geist.
Dass dieser Geist pure Magie sei oder so.
Auch die Ideen und Gedanken und Gefühle des Menschen müssten zu Fleisch und Blut werden, zu handfesten Wirklichkeiten.
Deshalb sei alles so, wie es sei, gebe es keinen Ausweg aus diesem Labyrinth.
Es passiere, was passieren müsse. Im Guten wie im Schlechten.
Wenn man mit einem solchen Hunger zur Welt kommt wie die Menschen, dann muss man sich nicht wundern, dass schliesslich alles kahl gefressen ist.
Insbesondere, weil der Appetit mit dem Essen kommt, wie man sagt.
Ich bin müde.
Ich möchte im warmen Wasser liegen.
Der Wind müsste mich in seine Arme nehmen.
Das Feuerchen in meinem Herzen gibt warm.
Freitag, 22. Juli 2011
Dienstag, 12. Juli 2011
Zweiheimisch. Bikulturalität als persönliche Identität und Teil einer sozialen Lebenswelt
Binationale Kinder im Spannungsfeld zwischen zwei (oder mehreren) Kulturen.
Was heisst «binational» oder besser «bikulturell» überhaupt? Von welchem Kultur-, von welchem Identitätsbegriff gehen wir aus? Ist nicht jeder «Fall», von dem wir sprechen, eben ein Einzelfall und müsste gesondert betrachtet werden? Kultur ist nicht etwas Unveränderbares und Statisches. Sie ist in einem ständigen Um- und Aufbau begriffen. Und wenn der Mensch von seiner kulturellen Umwelt – oder seinen kulturellen Umwelten – geprägt wird, ist das doch immer nur ein Teil seiner Identität. Unter Vorbehalt dieser Überlegungen nähere ich mich dem Thema mit der Absicht, auf einige Chancen und Risiken hinzuweisen, die es mit sich bringt, mit zwei Kulturen aufzuwachsen.
Dass in binationalen Familien aufgewachsene Menschen es weit bringen können und oft hervorragende Qualitäten als «Brückenbauer» aufweisen, wissen wir nicht erst, seit Barak Obama Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Durch die Globalisierung sind sich die verschiedensten Kulturen tatsächlich sehr nahe gekommen, auch in der Schweiz. Viele Jugendliche aus bikulturellen Familien, aber auch Jugendliche aus Migrantenfamilien der zweiten oder dritten Generation, betonen denn auch, dass es nichts Besonderes sei – oder dass es eigentlich ganz „cool“ sei –, in zwei Kulturen zuhause zu sein. Typisch dafür ist die Aussage der 14-jährigen Sarah: «Mein Leben unterscheidet sich nicht sonderlich von anderen. Oft kam die Frage: ‹Welchem Land fühlst Du Dich mehr zugehörig? Der Schweiz oder Mexiko?› Ich habe darüber nachgedacht und festgestellt, dass ich mich gar nicht entscheiden muss! Ich fühle mich in beiden Ländern zu Hause und könnte mir in beiden Ländern ein Leben vorstellen.»
Wir alle – nicht nur Menschen, die in binationalen Familien aufgewachsen sind – haben inzwischen mehr oder weniger eine Patchwork-Identität. Als gesellschaftlicher Normalfall ist heute weniger ein in ein übergeordnetes Ganzes eingefügtes und einheitliches Identitätsgefüge zu erwarten als vielmehr ein «Patchwork» von unterschiedlichen «Teilidentitäten», die unterschiedlichen Eigenlogiken folgen. Insofern ist die Situation binational aufgewachsener Kinder und Jugendlicher der Normalfall von morgen.
Man kann Binationalität also als verborgenen oder auch schon erschlossenen Schatz sehen, den binationale Kinder und Jugendliche durch ihre spezielle Situation mitbekommen. Probleme mit Binationalität und -kulturalität haben in der Tat oft nicht die, die durch ihre Geburt binational sind. Es ist eher die soziale Umgebung, beim Kindergarten angefangen, die diesen «Schatz» nicht erkennt und es schlecht aushält, wenn die Einordnung in «einheimisch» und «ausländisch» nicht gelingt.
Die Familiensituation binationaler Eltern (im Sinne von schweizerisch-ausländisch) unterscheidet sich von schweizerisch-schweizerischen, aber auch von Migrantenfamilien vor allem in folgenden Bereichen:
Rechtlich untersteht die ausländische Partnerin, der ausländische Partner in einer binationalen Familien nicht selten dem Ausländergesetz. Dies bedeutet u.a.: Wenn der nichtschweizerische Elternteil nicht aus einem EU-Land stammt, (noch) nicht eingebürgert wurde oder die Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) erhalten hat, verliert er im schlimmsten Fall bei einer Trennung/Scheidung oder beim Tod der Partnerin, der Partners die Aufenthaltsbewilligung. Diese Situation verschärft sich noch, wenn beide Elternteile nicht schweizerischer Nationalität sind. Besuche der nichtschweizerischen Grosseltern oder anderer Verwandter sind in vielen Fällen vom Familieneinkommen abhängig; der Nachzug von Stiefgeschwistern unterliegt den restriktiven Bestimmungen für Familienzusammenführung; Reisen in andere Länder sind unter Umständen abhängig von Visaerteilungen etc.
Die ökonomische Situation binationaler Familien ist häufig davon geprägt, dass der nichtschweizerische Elternteil auf dem Arbeitsmarkt keine seiner Qualifikation entsprechende Arbeit findet oder auch arbeitslos ist (auch dies gilt vor allem dann, wenn der ausländische Partner aus einem Nicht-EU-Land stammt; gut qualifizierte EU-Bürgerinnen und -Bürger sind in dieser Hinsicht in der Schweiz kaum benachteiligt). Stammt der männliche Teil eines binationalen Paares aus dem Ausland, sorgt oft die schweizerische Partnerin für das Familieneinkommen. Mancher ausländische Ehemann und Vater empfindet diese Rollenumkehrung als demütigend und abwertend, als eine zusätzliche Abhängigkeit und Ungleichheit in der Beziehung des Paares, was sich auch auf die Gestaltung des Familienlebens auswirken kann. Dazu kommt, dass der Kontakt zu der nichtschweizerischen Verwandtschaft eher kostspielig ist – umso kostspieliger, je weiter weg von der Schweiz sie sich befindet. Leben die Verwandten der ausländischen Partnerin, des ausländischen Partners in sehr ärmlichen Verhältnissen, besteht zudem oftmals so etwas wie eine moralische Unterstützungspflicht für sie oder ihn, zum Beispiel, weil die Eltern in Ländern leben, in denen es keine staatliche Altervorsorge gibt und es zu den Pflichten der Kinder gehört, im Alter für Vater und Mutter zu sorgen. Nicht wenige binationale Familien leben deshalb insgesamt in einer Situation, in der die Ausgaben höher und die Einnahmen geringer sind als in anderen Familien.
Die bikulturelle Partnerschaft
Man hört oft die Meinung, dass vor allem binationale Partnerschaften mit Beteiligten aus einander sehr fremden Kulturen belastet und deshalb vom Scheitern bedroht seien. Die Herkunft allein sagt aber nichts über allfällig zu erwartende Schwierigkeiten und vor allem auch nichts über die Bewältigungsstrategien der Beteiligten aus. Viele Faktoren wie Status, Bildung, soziale Herkunft, Sozialisation, gegenseitige Erwartungen aneinander, vorhandene oder fehlende persönliche Ressourcen, individuelle Charaktereigenschaften etc. spielen beim Gelingen einer binationalen Partnerschaft eine ebenso grosse Rolle wie die kulturelle Distanz.
Bikulturelle Paare müssen ihre eigenen gemeinsamen Übereinkünfte bezüglich ihrer Verhaltensmuster und Interaktionsmodelle treffen. In der Literatur habe ich drei «idealtypische Muster» in Hinblick auf kulturelle Anpassung von bikulturellen Paaren gefunden, die ich hier wiedergeben möchte:
• Das einseitige Arrangement: Einer der Partner gibt zugunsten des anderen wesentliche Werte und Verhaltensmuster in sprachlicher, religiöser und sozialer Hinsicht auf und übernimmt stattdessen jene der Partnerin. Gründe dafür können sein: Einer der Partner zeigt deutlich dominantere Züge; die eine Kultur überwiegt im Lebenskontext oder der eine Teil des Paares hat nur noch eine schwache Bindung an seine Herkunftskultur.
• Koexistenz: Die Handlungs- und Wertemuster beider Kulturen werden abwechslungsweise gelebt, es werden Kompromisse geschlossen oder Mischungen zwischen den Konzepten ausprobiert. Ein relatives Gleichgewicht entsteht. Gründe dafür können sein: Beide Partner schätzen die jeweils anderen Verhaltensmuster, sie geniessen die Vielfalt oder sie möchten ihre einseitige Fixierung auf ihre eigene Herkunftskultur «aufweichen».
• «Kreatives Arrangement»: Das Paar führt neue Verhaltensmuster ein, entweder weil sich beide kulturellen Muster als zu konflikthaft erweisen oder weil das Paar ihre bisherigen Werte und Verhaltensmuster selbst in Frage stellt. Es entsteht ein so genannter «dritter Weg».
Wie das Paar mit den unterschiedlichen Kulturen umgeht, hat natürlich auch einen Einfluss auf die Kinder und Jugendlichen in der Familie. Aspekte der Selbstverortung bzw. Aspekte der Fremdzuschreibung spielen eine wichtige Rolle bei der Identitätssuche und -findung von Jugendlichen. Die Kinder und Jugendlichen sind nicht nur in einen bikulturellen Kontext, sondern manchmal auch in einen bilingualen Kontext eingebettet. Werte und Normen der Eltern können annähernd deckungsgleich, aber auch stark divergierend sein. Die Art zu denken, bestimmte Werte zu vertreten, aber auch geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Normen sowie die verbale und nonverbale Kommunikation können kulturspezifisch geprägt sein.
Prüfstein für jede partnerschaftliche Lebensgemeinschaft ist die Alltagsbewältigung
mit ihren ganz konkreten Aufgaben und Herausforderungen. Wenn es dem Paar gelingt, sich sozusagen als Team zu verstehen, sich im Sinne eines kultur-, geschlechts- und rollenunabhängigen «Familienunternehmens» gegenseitig zu unterstützen, ohne dabei die eigene kulturelle Tradition und Herkunft verstecken oder verleugnen zu müssen, dann kann davon ausgegangen werden, dass diese emanzipatorische Leistung für alle Beteiligten bereichernd und befruchtend ist und sich dementsprechend in solchen Familien für Kinder und Jugendliche positive Lernfelder eröffnen.
Dabei geht es nicht um Gleichmacherei oder kulturelle Plafonierung. Berechtigte Differenzen dürfen und sollen sein. Aber sie müssen eingebettet sein in einen Rahmen, der das ganze Familiengefüge zusammenhält. Was für die interkulturelle Gesellschaft gilt, gilt sinngemäss auch für die binationale Familie: Nur die Balance von rechtlicher Gleichheit und kultureller Verschiedenheit macht eine interkulturelle Gesellschaft möglich.
Innen- und Aussensicht
Je nach Innen- oder Aussensicht unterscheidet sich die gesellschaftliche Einordnung von Kindern und Jugendlichen in binationalen Familien manchmal gewaltig. Wir haben gesehen, dass die Kinder und Jugendlichen selbst ihre Zugehörigkeit zu zwei Kulturen sehr oft als bereichernd empfinden. Von ihrer Umgebung bekommen sie allerdings nicht selten ein negatives Feedback, indem sie als «anders», «fremd», «nicht dazu gehörig» eingestuft werden. Kinder aus binationalen Familien wachsen häufig zweisprachig auf. Sie erfahren durch Kontakte mit der ausländischen Verwandtschaft anderskulturelle Familienstrukturen als eine andere Normalität. Diese Heterogenität finden sie in ihrem Schweizer Alltag oftmals nicht; ihre Fähigkeiten (Umgang mit kultureller wie persönlicher Differenz; Kenntnis anderer Rituale, anderer Feste und anderer Formen des Gemeinschaftslebens; Mehrsprachigkeit etc.) werden nicht als solche anerkannt resp. gefördert, sondern negiert oder unter Umständen gar mit Sanktionen belegt. Kulturelle Unterschiedlichkeit, anderes Aussehen, unterschiedliche Denkmuster und Verhaltensweisen werden von der Mehrheitsgesellschaft manchmal als defizitär oder zumindest «problematisch» wahrgenommen und stehen damit im Widerspruch zu der Selbstwahrnehmung der Kinder und Jugendlichen.
Deshalb gibt es Kinder und Jugendliche aus binationalen und eingewanderten Familien, die froh wären, wenn man ihnen die Bikulturalität nicht anmerken würde. Es gehört zu ihrer Realität, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung, im Kontakt mit Nachbarn, Lehrern, im Betrieb oder in der Freizeit manchmal darauf reduziert werden, «Ausländer» zu sein, auch wenn sie das gar nicht sind oder sich zumindest so nicht fühlen. Die sicherlich oft interessiert gemeinte Frage «Woher kommst du?» oder die anerkennende Feststellung «Du sprichst aber gut Deutsch» ist für einen jungen Menschen, der nie woanders gelebt hat und mit der einheimischen Sprache zumindest seit dem Kindergarten vertraut ist, im günstigen Fall eine hohe Irritation. Die indirekte Mitteilung «Du gehörst nicht dazu, du bist anders» ist ja auch für viele Kinder von Migrantinnen und Migranten, die hierzulande aufgewachsen sind, eine individuelle Kränkung und ein soziales Dilemma. Die Reaktionen der Kinder und Jugendlichen darauf sind unterschiedlich: manche betonen ihr Anderssein bis hin zur Selbst-Ausgrenzung, andere versuchen, die Bikulturalität ihrer Biografie zu verdrängen. Für die allermeisten ist es schwierig, in einem Alter, in dem die Suche nach Zugehörigkeiten vorrangiges Bedürfnis ist, Ausgrenzung zu erfahren, die von ihnen nicht beeinflusst werden kann.
Alle Jugendlichen werden in der Identitätsfindung mit den Fragen konfrontiert: Wo gehöre ich dazu? Wo will ich dazugehören? Wovon möchte ich mich abgrenzen? Mit welchen Personen möchte ich in Kontakt treten und zu welchen Gruppen dazugehören? Welchen Belastungen zum Beispiel in Form von Gruppendruck, familiären Erwartungen und anderem kann ich mich entziehen und wo gelingt dies nicht? Manchmal wird für die erkämpfte Autonomie oder für die konformistische Anpassung ein sehr hoher Preis bezahlt. Diese Suche nach Antworten ist eine immens wichtige Entwicklungsaufgabe, die sich für den jungen Menschen stellt – auch für den jungen Menschen mit binationalem Hintergrund.
Wenn die Identifizierung mit der Peer-Group, also den Gleichaltrigen, immer mehr zunimmt, tritt die kulturelle Herkunft scheinbar in den Hintergrund. Jugendliche haben ihre eigene Kultur, die sich bewusst von der Kultur der Erwachsenen abhebt – sei es nun die schweizerische oder eine andere. Die «Jugendkulturen» bedienen sich virtuos der Elemente von verschiedensten Kulturen und kreieren daraus ihren eigenen kreativen Mix.
Aber es gibt auch bikulturelle Jugendliche, die in der wichtigen Entwicklungsphase der Identitätsfindung Schwierigkeiten haben, sich zwischen unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen kulturellen Werten zu orientieren. Einige finden dann Orientierung darin, dass sie sich besonders eindeutig zu einer bestimmten Kultur bekennen. Ist dies der Fall, so kann man erleben, wie die Jugendlichen gewisse in dieser Kultur verkörperte Ideale besonders hervorheben, verteidigen und vertreten. Werte und Ideale eignen sich nämlich hervorragend zur Identitätsstiftung. Diese Werte werden mitunter spezifisch definiert und ausgelegt. Durch sie erhält der Jugendliche die Möglichkeit, sich zu identifizieren und gleichzeitig abzugrenzen. Damit kann er ein klares Bekenntnis ablegen, ein Zugehörigkeits- und «Wir-Gefühl» zum Ausdruck bringen. Für manche Jugendliche ist dies ein Ausweg aus einer als schwierig empfundenen Ambivalenz.
Bikulturelle Jugendlichen mussten, ich sage es noch einmal, schon als Kinder oft hin- und herwechseln zwischen den Verhaltensanforderungen des Domizillandes, dem Kulturverständnis des Vaters und dem Kulturverständnis der Mutter. Sowohl sprachlich als auch gedanklich – in fast automatischer Abgleichung – switchen sie zwischen ihren diversen Kulturerwartungen und Erfahrungen hin und her. Das erfordert von ihnen Flexibilität in der Kontextvielfalt. Oft können binationale Jugendliche das ganz selbstverständlich und – wie es scheint – mühelos leisten. Manchmal aber finden sie sich in Situationen wieder, in denen sich die Frage der kulturellen Zugehörigkeit zuspitzt. Sie werden dann durch spezifische Erwartungen – aber auch zwischen «Tradition» und «Moderne» – hin- und hergerissen.
Risiken und Chancen
Wir sehen schon jetzt, dass Risiken und Chancen bikulturellen Aufwachsens nahe beieinander liegen. Wir haben es angesprochen: Damit aus Ressourcen Kompetenzen werden, braucht es ein soziales Umfeld, in dem die Vielfalt gelebt werden kann, nichts Abweichendes und nichts Besonderes, sondern selbstverständlicher Bestandteil des Alltags ist, Normalität eben. Wenn kulturelle Pluralität nur in der Abweichung auffällt, ist dies der Spiegel eines monokulturell eingeschränkten gesellschaftlichen Horizontes, der diese Pluralität nicht zu integrieren versteht. Die Trennlinie zwischen Chancen und Risiken verläuft entlang sozialer wie kultureller Benachteiligung und ist nicht in der ethnischen Herkunft begründet
Die Mehrheit der bikulturellen Jugendlichen lernt schon früh, zwischen den unterschiedlichen kulturellen Angeboten zu wechseln und je nach Situation das entsprechende Verhaltensmuster anzuwenden. Im Zeitalter der beruflichen Mobilität und der Erwartung an ständige persönliche Veränderung ist diese biografische Verortung im Sowohl-als-auch durchaus ein Lebensmodell der Zukunft und zum Teil auch schon der Gegenwart. Binationale Jugendliche haben die Chance, divergierende Grundhaltungen des Lernens, die von den Bezugspersonen unterschiedlich stark vorgelebt werden und mit Beziehungsarbeit verknüpft sind, zu adaptieren und damit offen und tolerant den Umgang zu pflegen.
Fast alle Jugendlichen, die bikulturell aufwachsen, bilden unterschiedliche Sprachkompetenzen aus. Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, haben in ihrem Ausdruck mehr Wahlmöglichkeiten, denn der Gebrauch der jeweiligen Sprache ist an Gefühle, bestimmte Handlungen, Orte oder Personen gebunden. Eine gelungene mehrsprachige Erziehung fördert das Denken in unterschiedlichen Strukturen und unterstützt damit nicht zuletzt den intellektuellen Zugang auch in anderen Bereichen.
Binationale Jugendliche können mitunter Kenntnisse mehrerer Sprachen vorweisen, die meistens entweder von der Mutter oder vom Vater vermittelt wurden. Bedauerlicherweise sind die Jugendlichen manchmal aber auch damit konfrontiert, dass sie weder die eine noch die andere Sprache gut genug beherrschen und sich dies oft auch in mangelnder Kompetenz der Sprache des Domizillandes ausdrückt. Dies ist häufig dann der Fall, wenn Mutter und Vater eine andere Sprache sprechen als die Sprache des Domilzillandes, also zum Beispiel bei binationalen Familien ohne deutschsprachigen Elternteil, die in der deutschen Schweiz leben. Bei Kinder/Jugendlichen, deren einer Elternteil die Sprache des Domizillandes spricht, ist dies in der Regel nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Sprachkompetenz von auf diese Weise zweisprachig aufwachsenden Kindern ist überdurchschnittlich hoch.
Untersuchungen zeigen, dass kompetent mehrsprachige Kinder und Jugendliche Unterschiede bewusster reflektieren und ihnen der Umgang mit Vielfalt leichter fällt. Die mit den Sprachen erlebte Erfahrung von Wechsel und Mischung als individueller Ausdruck ermöglicht ihnen auch, eine entsprechende Haltung zu unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Lebensformen zu entwickeln – ein unschätzbares Kapital in einer globalisierten Welt. Bilinguale junge Erwachsene wissen das: viele von ihnen pendeln zwischen den Ländern (und Sprachen) und kultivieren die Transkulturalität zu ihrem Lebensstil. Dies ist ein Potenzial, das aktuell jedoch noch weitgehend brach liegt. Die erschreckenden Zahlen über Schul- und Ausbildungsabschlüsse von Jugendlichen aus eingewanderten Familien lassen vermuten, dass hier die grösste Diskrepanz zu finden ist zwischen Ressourcen einerseits und der Transformation in Kompetenzen andererseits.
Bikulturell aufwachsende Menschen erleben familiäre Normalität als mehrdimensional. Die unterschiedlichen Alltagsgewohnheiten mischen sich zu neuen Formen des Zusammenlebens. Kulinarisch ist dieser Mix aus multikulturellen Angeboten ja inzwischen auch im kleinsten Dorf zur Realität geworden. Im Haushalt steht neben dem Samowar die Espresso-Maschine, wird der Ramadan gefeiert und im Dezember ein Weihnachtsbaum aufgestellt. Zur engeren Familie gehören diverse Tanten und Onkel, viel Besuch zu haben ist eine Selbstverständlichkeit. Kinder und Jugendliche aus binationalen oder eingewanderten Familien haben oft Verwandte in der ganzen Welt. Sie fahren nicht als Touristen ins Ausland, sondern sie erleben dort einen anders strukturierten, für sie aber völlig normalen Familienalltag. Eine solche Lebenswelt erfordert ständige Anpassungsprozesse, eine hohe Sensibilität für situatives Handeln und ein ständiges Austarieren zwischen den eigenen Bedürfnissen und der Rücksichtnahme auf andere. Wer so aufwächst, lernt viel für ein Leben in einer hoch differenzierten Gesellschaft.
Bikulturelle Jugendliche haben sich in ihrer Adoleszenz oft mit sehr diskrepanten Erwartungen an die jeweilige Geschlechtsrolle auseinander zu setzen. Sie erleben in der Familie und in ihrem sozialen Umfeld unterschiedliche Bewertungen, wie Mann und Frau zu sein haben. Das ist manchmal nicht ganz leicht zu handhaben; Loyalitätskonflikte sind vorprogammiert. Dazu kommt, wir haben es gesagt, dass die Adoleszenz die Zeit der Ablösung von familiären Strukturen ist und die Aufforderung beinhaltet, sich in der sozialen Umwelt als eigenständiges Individuum zu positionieren. Letzlich haben bikulturell aufwachsende Jugendliche aber auch in dieser Hinsicht die Chance, durch die wechselnde Identifikation mit den kulturellen Prägungen ihrer Eltern und den Angeboten ihres aktuellen Lebensumfeldes eine Identität auszubilden, die mit unterschiedlichen Perspektiven spielerisch umgehen kann. Sie lernen früh, die damit einhergehenden Konflikte als Normalität anzusehen und die Möglichkeiten und Grenzen von Kompromissbildungen zu erproben.
All dies sind Chancen, Vorteile. Und die Risiken, die Nachteile? Die liegen vor allem darin, dass die jungen Menschen eben nicht – oder noch nicht, oder nur teilweise – in einer interkulturellen Lebenswelt aufwachsen. Ganz allgemein könnte man sagen, dass binational aufwachsende Jugendliche in einem akzentuierten Spannungsfeld stehen; die Komplexität des Lebens bekommen sie besonders stark zu spüren, sind aber auch besonders gut dafür gerüstet, damit umzugehen. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass dies eine anspruchsvolle Aufgabe ist, die von den Kindern und Jugendlichen je nach vorhandenen Ressourcen unterschiedlich gut bewältigt werden kann. Ob es gelingt, wird, wie gesagt, von sehr viele Faktoren beeinflusst.
Binationale Jugendliche laufen vor allem dann Gefahr, sich zu überfordern und/oder überfordert zu werden und damit Schaden zu nehmen,
• wenn sie zu sehr zwischen den divergierenden kulturellen Erwartungen der Eltern und evtl. auch noch der Kultur des Landes, in dem sie leben, hin- und hergerissen fühlen
• wenn sie es allen Seiten recht machen wollen und sich dabei selbst aus den Augen verlieren
• wenn sie vehement nur eine Seite idealisieren und die andere ständig abwerten müssen.
Ressourcen, die sich positiv dagegen auswirken, sind
• die Fähigkeit, psychologischen Stress zu bewältigen
• die Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren
• die Fähigkeit, interpersonale Beziehungen aufzubauen.
Diese Fähigkeiten werden vor allem in der Familie ausgebildet. Aber auch die Schule und die Gesellschaft insgesamt sind hier – zum Wohl aller – gefordert.
Versuch einer Zusammenfassung
Zu den Stärken binationaler Jugendlicher gehört – wir haben es mehrmals betont – das Entwickeln von spezifischen interkulturellen Kompetenzen und ihr grosszügiges Verständnis für andere in ähnlicher Lage. Letztlich ist die kulturelle Zugehörigkeit binationaler Jugendlicher ein zentrales Lebensthema, das nicht per se Zerrissenheit impliziert – oder nur insofern, als wir alle von einer gewissen Zerrissenheit betroffen sind, mit der die «Monkulturellen» aber vielleicht weniger gut umgehen können als die «Bikulturellen». Und es ist der Umgang mit der Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Kulturen eine sehr individuelle, eng mit der persönlichen Entwicklungsgeschichte verknüpfte Möglichkeit, die viele Chancen, Risiken und Herausforderungen beinhaltet. Wie anfangs gesagt: Das kulturelle Lebenskonzept wird ja auch stark individuell definiert. Hier hören die Möglichkeiten, Allgemeinverbindliches zu diesem Thema zu sagen, eben auch wieder auf.
Was heisst «binational» oder besser «bikulturell» überhaupt? Von welchem Kultur-, von welchem Identitätsbegriff gehen wir aus? Ist nicht jeder «Fall», von dem wir sprechen, eben ein Einzelfall und müsste gesondert betrachtet werden? Kultur ist nicht etwas Unveränderbares und Statisches. Sie ist in einem ständigen Um- und Aufbau begriffen. Und wenn der Mensch von seiner kulturellen Umwelt – oder seinen kulturellen Umwelten – geprägt wird, ist das doch immer nur ein Teil seiner Identität. Unter Vorbehalt dieser Überlegungen nähere ich mich dem Thema mit der Absicht, auf einige Chancen und Risiken hinzuweisen, die es mit sich bringt, mit zwei Kulturen aufzuwachsen.
Dass in binationalen Familien aufgewachsene Menschen es weit bringen können und oft hervorragende Qualitäten als «Brückenbauer» aufweisen, wissen wir nicht erst, seit Barak Obama Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Durch die Globalisierung sind sich die verschiedensten Kulturen tatsächlich sehr nahe gekommen, auch in der Schweiz. Viele Jugendliche aus bikulturellen Familien, aber auch Jugendliche aus Migrantenfamilien der zweiten oder dritten Generation, betonen denn auch, dass es nichts Besonderes sei – oder dass es eigentlich ganz „cool“ sei –, in zwei Kulturen zuhause zu sein. Typisch dafür ist die Aussage der 14-jährigen Sarah: «Mein Leben unterscheidet sich nicht sonderlich von anderen. Oft kam die Frage: ‹Welchem Land fühlst Du Dich mehr zugehörig? Der Schweiz oder Mexiko?› Ich habe darüber nachgedacht und festgestellt, dass ich mich gar nicht entscheiden muss! Ich fühle mich in beiden Ländern zu Hause und könnte mir in beiden Ländern ein Leben vorstellen.»
Wir alle – nicht nur Menschen, die in binationalen Familien aufgewachsen sind – haben inzwischen mehr oder weniger eine Patchwork-Identität. Als gesellschaftlicher Normalfall ist heute weniger ein in ein übergeordnetes Ganzes eingefügtes und einheitliches Identitätsgefüge zu erwarten als vielmehr ein «Patchwork» von unterschiedlichen «Teilidentitäten», die unterschiedlichen Eigenlogiken folgen. Insofern ist die Situation binational aufgewachsener Kinder und Jugendlicher der Normalfall von morgen.
Man kann Binationalität also als verborgenen oder auch schon erschlossenen Schatz sehen, den binationale Kinder und Jugendliche durch ihre spezielle Situation mitbekommen. Probleme mit Binationalität und -kulturalität haben in der Tat oft nicht die, die durch ihre Geburt binational sind. Es ist eher die soziale Umgebung, beim Kindergarten angefangen, die diesen «Schatz» nicht erkennt und es schlecht aushält, wenn die Einordnung in «einheimisch» und «ausländisch» nicht gelingt.
Die Familiensituation binationaler Eltern (im Sinne von schweizerisch-ausländisch) unterscheidet sich von schweizerisch-schweizerischen, aber auch von Migrantenfamilien vor allem in folgenden Bereichen:
Rechtlich untersteht die ausländische Partnerin, der ausländische Partner in einer binationalen Familien nicht selten dem Ausländergesetz. Dies bedeutet u.a.: Wenn der nichtschweizerische Elternteil nicht aus einem EU-Land stammt, (noch) nicht eingebürgert wurde oder die Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) erhalten hat, verliert er im schlimmsten Fall bei einer Trennung/Scheidung oder beim Tod der Partnerin, der Partners die Aufenthaltsbewilligung. Diese Situation verschärft sich noch, wenn beide Elternteile nicht schweizerischer Nationalität sind. Besuche der nichtschweizerischen Grosseltern oder anderer Verwandter sind in vielen Fällen vom Familieneinkommen abhängig; der Nachzug von Stiefgeschwistern unterliegt den restriktiven Bestimmungen für Familienzusammenführung; Reisen in andere Länder sind unter Umständen abhängig von Visaerteilungen etc.
Die ökonomische Situation binationaler Familien ist häufig davon geprägt, dass der nichtschweizerische Elternteil auf dem Arbeitsmarkt keine seiner Qualifikation entsprechende Arbeit findet oder auch arbeitslos ist (auch dies gilt vor allem dann, wenn der ausländische Partner aus einem Nicht-EU-Land stammt; gut qualifizierte EU-Bürgerinnen und -Bürger sind in dieser Hinsicht in der Schweiz kaum benachteiligt). Stammt der männliche Teil eines binationalen Paares aus dem Ausland, sorgt oft die schweizerische Partnerin für das Familieneinkommen. Mancher ausländische Ehemann und Vater empfindet diese Rollenumkehrung als demütigend und abwertend, als eine zusätzliche Abhängigkeit und Ungleichheit in der Beziehung des Paares, was sich auch auf die Gestaltung des Familienlebens auswirken kann. Dazu kommt, dass der Kontakt zu der nichtschweizerischen Verwandtschaft eher kostspielig ist – umso kostspieliger, je weiter weg von der Schweiz sie sich befindet. Leben die Verwandten der ausländischen Partnerin, des ausländischen Partners in sehr ärmlichen Verhältnissen, besteht zudem oftmals so etwas wie eine moralische Unterstützungspflicht für sie oder ihn, zum Beispiel, weil die Eltern in Ländern leben, in denen es keine staatliche Altervorsorge gibt und es zu den Pflichten der Kinder gehört, im Alter für Vater und Mutter zu sorgen. Nicht wenige binationale Familien leben deshalb insgesamt in einer Situation, in der die Ausgaben höher und die Einnahmen geringer sind als in anderen Familien.
Die bikulturelle Partnerschaft
Man hört oft die Meinung, dass vor allem binationale Partnerschaften mit Beteiligten aus einander sehr fremden Kulturen belastet und deshalb vom Scheitern bedroht seien. Die Herkunft allein sagt aber nichts über allfällig zu erwartende Schwierigkeiten und vor allem auch nichts über die Bewältigungsstrategien der Beteiligten aus. Viele Faktoren wie Status, Bildung, soziale Herkunft, Sozialisation, gegenseitige Erwartungen aneinander, vorhandene oder fehlende persönliche Ressourcen, individuelle Charaktereigenschaften etc. spielen beim Gelingen einer binationalen Partnerschaft eine ebenso grosse Rolle wie die kulturelle Distanz.
Bikulturelle Paare müssen ihre eigenen gemeinsamen Übereinkünfte bezüglich ihrer Verhaltensmuster und Interaktionsmodelle treffen. In der Literatur habe ich drei «idealtypische Muster» in Hinblick auf kulturelle Anpassung von bikulturellen Paaren gefunden, die ich hier wiedergeben möchte:
• Das einseitige Arrangement: Einer der Partner gibt zugunsten des anderen wesentliche Werte und Verhaltensmuster in sprachlicher, religiöser und sozialer Hinsicht auf und übernimmt stattdessen jene der Partnerin. Gründe dafür können sein: Einer der Partner zeigt deutlich dominantere Züge; die eine Kultur überwiegt im Lebenskontext oder der eine Teil des Paares hat nur noch eine schwache Bindung an seine Herkunftskultur.
• Koexistenz: Die Handlungs- und Wertemuster beider Kulturen werden abwechslungsweise gelebt, es werden Kompromisse geschlossen oder Mischungen zwischen den Konzepten ausprobiert. Ein relatives Gleichgewicht entsteht. Gründe dafür können sein: Beide Partner schätzen die jeweils anderen Verhaltensmuster, sie geniessen die Vielfalt oder sie möchten ihre einseitige Fixierung auf ihre eigene Herkunftskultur «aufweichen».
• «Kreatives Arrangement»: Das Paar führt neue Verhaltensmuster ein, entweder weil sich beide kulturellen Muster als zu konflikthaft erweisen oder weil das Paar ihre bisherigen Werte und Verhaltensmuster selbst in Frage stellt. Es entsteht ein so genannter «dritter Weg».
Wie das Paar mit den unterschiedlichen Kulturen umgeht, hat natürlich auch einen Einfluss auf die Kinder und Jugendlichen in der Familie. Aspekte der Selbstverortung bzw. Aspekte der Fremdzuschreibung spielen eine wichtige Rolle bei der Identitätssuche und -findung von Jugendlichen. Die Kinder und Jugendlichen sind nicht nur in einen bikulturellen Kontext, sondern manchmal auch in einen bilingualen Kontext eingebettet. Werte und Normen der Eltern können annähernd deckungsgleich, aber auch stark divergierend sein. Die Art zu denken, bestimmte Werte zu vertreten, aber auch geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Normen sowie die verbale und nonverbale Kommunikation können kulturspezifisch geprägt sein.
Prüfstein für jede partnerschaftliche Lebensgemeinschaft ist die Alltagsbewältigung
mit ihren ganz konkreten Aufgaben und Herausforderungen. Wenn es dem Paar gelingt, sich sozusagen als Team zu verstehen, sich im Sinne eines kultur-, geschlechts- und rollenunabhängigen «Familienunternehmens» gegenseitig zu unterstützen, ohne dabei die eigene kulturelle Tradition und Herkunft verstecken oder verleugnen zu müssen, dann kann davon ausgegangen werden, dass diese emanzipatorische Leistung für alle Beteiligten bereichernd und befruchtend ist und sich dementsprechend in solchen Familien für Kinder und Jugendliche positive Lernfelder eröffnen.
Dabei geht es nicht um Gleichmacherei oder kulturelle Plafonierung. Berechtigte Differenzen dürfen und sollen sein. Aber sie müssen eingebettet sein in einen Rahmen, der das ganze Familiengefüge zusammenhält. Was für die interkulturelle Gesellschaft gilt, gilt sinngemäss auch für die binationale Familie: Nur die Balance von rechtlicher Gleichheit und kultureller Verschiedenheit macht eine interkulturelle Gesellschaft möglich.
Innen- und Aussensicht
Je nach Innen- oder Aussensicht unterscheidet sich die gesellschaftliche Einordnung von Kindern und Jugendlichen in binationalen Familien manchmal gewaltig. Wir haben gesehen, dass die Kinder und Jugendlichen selbst ihre Zugehörigkeit zu zwei Kulturen sehr oft als bereichernd empfinden. Von ihrer Umgebung bekommen sie allerdings nicht selten ein negatives Feedback, indem sie als «anders», «fremd», «nicht dazu gehörig» eingestuft werden. Kinder aus binationalen Familien wachsen häufig zweisprachig auf. Sie erfahren durch Kontakte mit der ausländischen Verwandtschaft anderskulturelle Familienstrukturen als eine andere Normalität. Diese Heterogenität finden sie in ihrem Schweizer Alltag oftmals nicht; ihre Fähigkeiten (Umgang mit kultureller wie persönlicher Differenz; Kenntnis anderer Rituale, anderer Feste und anderer Formen des Gemeinschaftslebens; Mehrsprachigkeit etc.) werden nicht als solche anerkannt resp. gefördert, sondern negiert oder unter Umständen gar mit Sanktionen belegt. Kulturelle Unterschiedlichkeit, anderes Aussehen, unterschiedliche Denkmuster und Verhaltensweisen werden von der Mehrheitsgesellschaft manchmal als defizitär oder zumindest «problematisch» wahrgenommen und stehen damit im Widerspruch zu der Selbstwahrnehmung der Kinder und Jugendlichen.
Deshalb gibt es Kinder und Jugendliche aus binationalen und eingewanderten Familien, die froh wären, wenn man ihnen die Bikulturalität nicht anmerken würde. Es gehört zu ihrer Realität, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung, im Kontakt mit Nachbarn, Lehrern, im Betrieb oder in der Freizeit manchmal darauf reduziert werden, «Ausländer» zu sein, auch wenn sie das gar nicht sind oder sich zumindest so nicht fühlen. Die sicherlich oft interessiert gemeinte Frage «Woher kommst du?» oder die anerkennende Feststellung «Du sprichst aber gut Deutsch» ist für einen jungen Menschen, der nie woanders gelebt hat und mit der einheimischen Sprache zumindest seit dem Kindergarten vertraut ist, im günstigen Fall eine hohe Irritation. Die indirekte Mitteilung «Du gehörst nicht dazu, du bist anders» ist ja auch für viele Kinder von Migrantinnen und Migranten, die hierzulande aufgewachsen sind, eine individuelle Kränkung und ein soziales Dilemma. Die Reaktionen der Kinder und Jugendlichen darauf sind unterschiedlich: manche betonen ihr Anderssein bis hin zur Selbst-Ausgrenzung, andere versuchen, die Bikulturalität ihrer Biografie zu verdrängen. Für die allermeisten ist es schwierig, in einem Alter, in dem die Suche nach Zugehörigkeiten vorrangiges Bedürfnis ist, Ausgrenzung zu erfahren, die von ihnen nicht beeinflusst werden kann.
Alle Jugendlichen werden in der Identitätsfindung mit den Fragen konfrontiert: Wo gehöre ich dazu? Wo will ich dazugehören? Wovon möchte ich mich abgrenzen? Mit welchen Personen möchte ich in Kontakt treten und zu welchen Gruppen dazugehören? Welchen Belastungen zum Beispiel in Form von Gruppendruck, familiären Erwartungen und anderem kann ich mich entziehen und wo gelingt dies nicht? Manchmal wird für die erkämpfte Autonomie oder für die konformistische Anpassung ein sehr hoher Preis bezahlt. Diese Suche nach Antworten ist eine immens wichtige Entwicklungsaufgabe, die sich für den jungen Menschen stellt – auch für den jungen Menschen mit binationalem Hintergrund.
Wenn die Identifizierung mit der Peer-Group, also den Gleichaltrigen, immer mehr zunimmt, tritt die kulturelle Herkunft scheinbar in den Hintergrund. Jugendliche haben ihre eigene Kultur, die sich bewusst von der Kultur der Erwachsenen abhebt – sei es nun die schweizerische oder eine andere. Die «Jugendkulturen» bedienen sich virtuos der Elemente von verschiedensten Kulturen und kreieren daraus ihren eigenen kreativen Mix.
Aber es gibt auch bikulturelle Jugendliche, die in der wichtigen Entwicklungsphase der Identitätsfindung Schwierigkeiten haben, sich zwischen unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen kulturellen Werten zu orientieren. Einige finden dann Orientierung darin, dass sie sich besonders eindeutig zu einer bestimmten Kultur bekennen. Ist dies der Fall, so kann man erleben, wie die Jugendlichen gewisse in dieser Kultur verkörperte Ideale besonders hervorheben, verteidigen und vertreten. Werte und Ideale eignen sich nämlich hervorragend zur Identitätsstiftung. Diese Werte werden mitunter spezifisch definiert und ausgelegt. Durch sie erhält der Jugendliche die Möglichkeit, sich zu identifizieren und gleichzeitig abzugrenzen. Damit kann er ein klares Bekenntnis ablegen, ein Zugehörigkeits- und «Wir-Gefühl» zum Ausdruck bringen. Für manche Jugendliche ist dies ein Ausweg aus einer als schwierig empfundenen Ambivalenz.
Bikulturelle Jugendlichen mussten, ich sage es noch einmal, schon als Kinder oft hin- und herwechseln zwischen den Verhaltensanforderungen des Domizillandes, dem Kulturverständnis des Vaters und dem Kulturverständnis der Mutter. Sowohl sprachlich als auch gedanklich – in fast automatischer Abgleichung – switchen sie zwischen ihren diversen Kulturerwartungen und Erfahrungen hin und her. Das erfordert von ihnen Flexibilität in der Kontextvielfalt. Oft können binationale Jugendliche das ganz selbstverständlich und – wie es scheint – mühelos leisten. Manchmal aber finden sie sich in Situationen wieder, in denen sich die Frage der kulturellen Zugehörigkeit zuspitzt. Sie werden dann durch spezifische Erwartungen – aber auch zwischen «Tradition» und «Moderne» – hin- und hergerissen.
Risiken und Chancen
Wir sehen schon jetzt, dass Risiken und Chancen bikulturellen Aufwachsens nahe beieinander liegen. Wir haben es angesprochen: Damit aus Ressourcen Kompetenzen werden, braucht es ein soziales Umfeld, in dem die Vielfalt gelebt werden kann, nichts Abweichendes und nichts Besonderes, sondern selbstverständlicher Bestandteil des Alltags ist, Normalität eben. Wenn kulturelle Pluralität nur in der Abweichung auffällt, ist dies der Spiegel eines monokulturell eingeschränkten gesellschaftlichen Horizontes, der diese Pluralität nicht zu integrieren versteht. Die Trennlinie zwischen Chancen und Risiken verläuft entlang sozialer wie kultureller Benachteiligung und ist nicht in der ethnischen Herkunft begründet
Die Mehrheit der bikulturellen Jugendlichen lernt schon früh, zwischen den unterschiedlichen kulturellen Angeboten zu wechseln und je nach Situation das entsprechende Verhaltensmuster anzuwenden. Im Zeitalter der beruflichen Mobilität und der Erwartung an ständige persönliche Veränderung ist diese biografische Verortung im Sowohl-als-auch durchaus ein Lebensmodell der Zukunft und zum Teil auch schon der Gegenwart. Binationale Jugendliche haben die Chance, divergierende Grundhaltungen des Lernens, die von den Bezugspersonen unterschiedlich stark vorgelebt werden und mit Beziehungsarbeit verknüpft sind, zu adaptieren und damit offen und tolerant den Umgang zu pflegen.
Fast alle Jugendlichen, die bikulturell aufwachsen, bilden unterschiedliche Sprachkompetenzen aus. Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, haben in ihrem Ausdruck mehr Wahlmöglichkeiten, denn der Gebrauch der jeweiligen Sprache ist an Gefühle, bestimmte Handlungen, Orte oder Personen gebunden. Eine gelungene mehrsprachige Erziehung fördert das Denken in unterschiedlichen Strukturen und unterstützt damit nicht zuletzt den intellektuellen Zugang auch in anderen Bereichen.
Binationale Jugendliche können mitunter Kenntnisse mehrerer Sprachen vorweisen, die meistens entweder von der Mutter oder vom Vater vermittelt wurden. Bedauerlicherweise sind die Jugendlichen manchmal aber auch damit konfrontiert, dass sie weder die eine noch die andere Sprache gut genug beherrschen und sich dies oft auch in mangelnder Kompetenz der Sprache des Domizillandes ausdrückt. Dies ist häufig dann der Fall, wenn Mutter und Vater eine andere Sprache sprechen als die Sprache des Domilzillandes, also zum Beispiel bei binationalen Familien ohne deutschsprachigen Elternteil, die in der deutschen Schweiz leben. Bei Kinder/Jugendlichen, deren einer Elternteil die Sprache des Domizillandes spricht, ist dies in der Regel nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Sprachkompetenz von auf diese Weise zweisprachig aufwachsenden Kindern ist überdurchschnittlich hoch.
Untersuchungen zeigen, dass kompetent mehrsprachige Kinder und Jugendliche Unterschiede bewusster reflektieren und ihnen der Umgang mit Vielfalt leichter fällt. Die mit den Sprachen erlebte Erfahrung von Wechsel und Mischung als individueller Ausdruck ermöglicht ihnen auch, eine entsprechende Haltung zu unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Lebensformen zu entwickeln – ein unschätzbares Kapital in einer globalisierten Welt. Bilinguale junge Erwachsene wissen das: viele von ihnen pendeln zwischen den Ländern (und Sprachen) und kultivieren die Transkulturalität zu ihrem Lebensstil. Dies ist ein Potenzial, das aktuell jedoch noch weitgehend brach liegt. Die erschreckenden Zahlen über Schul- und Ausbildungsabschlüsse von Jugendlichen aus eingewanderten Familien lassen vermuten, dass hier die grösste Diskrepanz zu finden ist zwischen Ressourcen einerseits und der Transformation in Kompetenzen andererseits.
Bikulturell aufwachsende Menschen erleben familiäre Normalität als mehrdimensional. Die unterschiedlichen Alltagsgewohnheiten mischen sich zu neuen Formen des Zusammenlebens. Kulinarisch ist dieser Mix aus multikulturellen Angeboten ja inzwischen auch im kleinsten Dorf zur Realität geworden. Im Haushalt steht neben dem Samowar die Espresso-Maschine, wird der Ramadan gefeiert und im Dezember ein Weihnachtsbaum aufgestellt. Zur engeren Familie gehören diverse Tanten und Onkel, viel Besuch zu haben ist eine Selbstverständlichkeit. Kinder und Jugendliche aus binationalen oder eingewanderten Familien haben oft Verwandte in der ganzen Welt. Sie fahren nicht als Touristen ins Ausland, sondern sie erleben dort einen anders strukturierten, für sie aber völlig normalen Familienalltag. Eine solche Lebenswelt erfordert ständige Anpassungsprozesse, eine hohe Sensibilität für situatives Handeln und ein ständiges Austarieren zwischen den eigenen Bedürfnissen und der Rücksichtnahme auf andere. Wer so aufwächst, lernt viel für ein Leben in einer hoch differenzierten Gesellschaft.
Bikulturelle Jugendliche haben sich in ihrer Adoleszenz oft mit sehr diskrepanten Erwartungen an die jeweilige Geschlechtsrolle auseinander zu setzen. Sie erleben in der Familie und in ihrem sozialen Umfeld unterschiedliche Bewertungen, wie Mann und Frau zu sein haben. Das ist manchmal nicht ganz leicht zu handhaben; Loyalitätskonflikte sind vorprogammiert. Dazu kommt, wir haben es gesagt, dass die Adoleszenz die Zeit der Ablösung von familiären Strukturen ist und die Aufforderung beinhaltet, sich in der sozialen Umwelt als eigenständiges Individuum zu positionieren. Letzlich haben bikulturell aufwachsende Jugendliche aber auch in dieser Hinsicht die Chance, durch die wechselnde Identifikation mit den kulturellen Prägungen ihrer Eltern und den Angeboten ihres aktuellen Lebensumfeldes eine Identität auszubilden, die mit unterschiedlichen Perspektiven spielerisch umgehen kann. Sie lernen früh, die damit einhergehenden Konflikte als Normalität anzusehen und die Möglichkeiten und Grenzen von Kompromissbildungen zu erproben.
All dies sind Chancen, Vorteile. Und die Risiken, die Nachteile? Die liegen vor allem darin, dass die jungen Menschen eben nicht – oder noch nicht, oder nur teilweise – in einer interkulturellen Lebenswelt aufwachsen. Ganz allgemein könnte man sagen, dass binational aufwachsende Jugendliche in einem akzentuierten Spannungsfeld stehen; die Komplexität des Lebens bekommen sie besonders stark zu spüren, sind aber auch besonders gut dafür gerüstet, damit umzugehen. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass dies eine anspruchsvolle Aufgabe ist, die von den Kindern und Jugendlichen je nach vorhandenen Ressourcen unterschiedlich gut bewältigt werden kann. Ob es gelingt, wird, wie gesagt, von sehr viele Faktoren beeinflusst.
Binationale Jugendliche laufen vor allem dann Gefahr, sich zu überfordern und/oder überfordert zu werden und damit Schaden zu nehmen,
• wenn sie zu sehr zwischen den divergierenden kulturellen Erwartungen der Eltern und evtl. auch noch der Kultur des Landes, in dem sie leben, hin- und hergerissen fühlen
• wenn sie es allen Seiten recht machen wollen und sich dabei selbst aus den Augen verlieren
• wenn sie vehement nur eine Seite idealisieren und die andere ständig abwerten müssen.
Ressourcen, die sich positiv dagegen auswirken, sind
• die Fähigkeit, psychologischen Stress zu bewältigen
• die Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren
• die Fähigkeit, interpersonale Beziehungen aufzubauen.
Diese Fähigkeiten werden vor allem in der Familie ausgebildet. Aber auch die Schule und die Gesellschaft insgesamt sind hier – zum Wohl aller – gefordert.
Versuch einer Zusammenfassung
Zu den Stärken binationaler Jugendlicher gehört – wir haben es mehrmals betont – das Entwickeln von spezifischen interkulturellen Kompetenzen und ihr grosszügiges Verständnis für andere in ähnlicher Lage. Letztlich ist die kulturelle Zugehörigkeit binationaler Jugendlicher ein zentrales Lebensthema, das nicht per se Zerrissenheit impliziert – oder nur insofern, als wir alle von einer gewissen Zerrissenheit betroffen sind, mit der die «Monkulturellen» aber vielleicht weniger gut umgehen können als die «Bikulturellen». Und es ist der Umgang mit der Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Kulturen eine sehr individuelle, eng mit der persönlichen Entwicklungsgeschichte verknüpfte Möglichkeit, die viele Chancen, Risiken und Herausforderungen beinhaltet. Wie anfangs gesagt: Das kulturelle Lebenskonzept wird ja auch stark individuell definiert. Hier hören die Möglichkeiten, Allgemeinverbindliches zu diesem Thema zu sagen, eben auch wieder auf.
Sonntag, 8. Mai 2011
Politik für Milliardäre
Parteipolitik hat sich in den letzten Jahren immer mehr von der Sachpolitik entfernt und ist zum reinen Marketing verkommen. Das heisst, dass nicht mehr die politische Lösung von Sachproblemen im Vordergrund steht, sondern die Frage, wie zusätzliche Wählerstimmen geholt werden können. Natürlich gehört Politikmarketing – die wählerorientierte Entwicklung und Vermarktung der Politik oder einer politischen Partei – zur Politik. Politikmarketing als notwendiges Übel ja, als Selbstzweck nein.
Von dieser Tendenz zum Überhandnehmen des Politikmarketings zuungunsten der lösungs- und konsensorientierten Sachpolitik ist keine der Parteien ausgenommen. Die einen machen es geschickter, die anderen weniger geschickt; die einen mit weniger Mitteln, die anderen mit dem ganz dicken Portemonnaie. Das macht die weniger geschickten – und damit weniger erfolgreichen – zwar eher sympathisch, verhilft ihnen aber natürlich nicht zu grösserem politischem Gewicht.
Es gibt in der Schweiz eine Partei, die das Spiel des politischen Marketings perfekt beherrscht. Es ist die Partei, die zuerst erkannt hat, wie wichtig dieses Marketing für den politischen Erfolg ist. Es ist auch die Partei, die die meisten Mittel dafür aufwendet – und die meisten Mittel dafür aufwenden kann. Klar – schliesslich ist es die Partei der Milliardäre; jene Partei, die Politik für Milliardäre macht.
Was heisst das nun – Politik für Milliardäre (zu denen ich hier auch diejenigen mit den vielen Millionen rechne, die es – noch? – nicht ganz in den Club der Milliardäre geschafft haben). Es bedeutet Steuersenkungen auch – und gerade – für die ganz Reichen, es bedeutet die Senkung der Staatsausgaben. Die Partei, von der ich spreche, ist die einzige Partei mit einer konsequent neoliberalen Politik in der Schweiz, einer Politik, die sich für einen schrankenlosen, von allen Fesseln befreiten Kapitalismus stark macht – und damit für einen möglichst schwachen Staat. Ein starker Staat wird von ihr nur in Sicherheitsfragen toleriert – wenn es darum geht, einen (imaginären oder realen) äusseren oder inneren Feind zu bekämpfen. Und allenfalls noch dann, wenn es darum geht, die Bauern – ursprüngliche Kernwählerschaft – vor ausländischer Konkurrenz zu schützen (und damit, nebenbei gesagt, auch wieder gegen die eigenen neoliberalen Prinzipien zu verstossen).
Wie machen die das?
Wir schafft es die Partei für Milliardäre, die eine Politik für Milliardäre macht, zu der wählerstärksten Volkspartei zu werden? Schliesslich sind Milliardäre auch in einem reichen Land wie der Schweiz nicht gerade in der Mehrheit. Das erfordert doch eine wahrhaft herkulische Leistung von den PR-Fachleuten der Partei. Wie machen die das?
Zunächst geht es natürlich darum zu verschleiern, dass die Partei Politik für Milliardäre macht – oder vielmehr zu suggerieren, dass diese Politik auch anderen Wählerschichten zugute komme: zum Beispiel dem Mittelstand, aber auch ganz generell allen «guten», «richtigen» Schweizern. Ein starkes, durch keine gesetzlichen Schranken behindertes Unternehmertum schaffe Arbeitsplätze; die Bedrohung von Sicherheit und Wohlstand erfolge ausschliesslich durch einen zu bekämpfenden inneren und äusseren Feind (EU, Ausländer generell, Scheininvalide, Sozialschmarotzer, Linke und Nette, Classe politique).
Das führt uns zum entscheidenden Hebel, an dem das Politikmarketing der Partei ansetzt: der Schaffung von Feindbildern. Dass Politikmarketing mit Feindbildern operiert, ist zwar auch bei anderen Parteien nicht gerade der Ausnahmefall, wird aber von keiner anderen Partei so permanent und konsequent umgesetzt und durchgezogen.
C.G. Jung hat das Konzept des Schattens entworfen, wobei der Schatten sozusagen die dunkle, im Schatten liegende Seite der Persönlichkeit ist. Er setzt sich aus all jenen mit den bewussten Identifikationen des Ich unvereinbaren Aspekten, Neigungen und Eigenschaften eines Menschen zusammen, die wir nicht in unsere bewusste Persönlichkeit integriert haben. Solange keine bewusste Auseinandersetzung des Ich mit diesem unbewussten Schatten stattgefunden hat, kann dieser nur ausserhalb des Ich wahrgenommen werden und wird deshalb häufig auf andere Personen und Personengruppen projiziert.
Insofern passt das Marketing-Konzept der Partei recht gut zur Erklärung des Schattenprinzips von C.G. Jung. Die Feindbilder der Partei sind sozusagen der «Schatten» der Schweiz, aber auch jeder einzelnen Wählerin und jedes einzelnen Wählers. Das, was uns bedrohlich erscheint, wird auf einen äusseren und inneren Feind projiziert, den man nun nur noch bekämpfen muss – indem man die Partei wählt, die das stellvertretend für uns tut –, damit alles gut wird und wir uns vermeintlich sicher fühlen können. «Jedem SVPler steht die Schweiz näher als die eigene Partei. Dies ist wohl der wesentliche Unterschied zu allen anderen Parteien, welche vor allem für die eigene (Partei-)Befindlichkeit und die Pöstchen einstehen, anstatt für die Unabhängigkeit und Freiheit unseres Landes», schreibt beispielsweise SVP-Nationalrat Alfred Heer.
Insofern ist der Erfolg der Partei auch eine Folge der Globalisierung. Diese löst Ängste aus, die nun nach Jungs Schattenkonzept auf ein Feindbild projiziert werden und damit aushaltbar gemacht werden kann. Dieses Bedrohungsgefühl ist gleichzeitig sehr diffus und tief sitzend, es betrifft den Identitätsverlust und das Gefühl, dass die Anderen, Fremden uns etwas wegnehmen könnten.
Feindbild Nr. 1: Ausländerinnen und Ausländer, alles «Fremde», «Unschweizerische» generell. In diesen Komplex gehören natürlich die EU, aber auch andere intergouvernementale und vor allem supranationale Strukturen (UNO, NATO, Abkommen von Schengen und Dublin). Dazu gehören Asylsuchende und alle Arten von Einwanderern. In dieses Kapitel gehört natürlich auch die Minerettinitiative, gehören Plakate wie jenes von den dunklen Händen, die nach dem Schweizerpass greifen, die Schäfchenplakate, die Plakate, die Ausländer als Mörder und Vergewaltiger zeigen etc.
Feindbild Nr. 2: «Sozialschmarotzer» und «Scheininvalide». Jede und jeder ist für sich selbst verantwortlich. All jene, die es nicht schaffen, sind selber schuld. Sie verkörpern das «Schwache», das es auszumerzen gilt. «Sozialschmarotzer» ist ein seit etwa Ende der 1970er Jahren verwendetes pejoratives Schlagwort für einen Einzelnen oder eine Gruppe von Menschen, die eine andere soziale Gruppe (z. B. einen Sozialstaat oder eine Solidargemeinschaft) „ausbeuten“ würden. Gelegentlich wird die Bezeichnung polemisch in Medien und politischen Debatten allgemein auf Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Langzeitstudenten, Asylanten, Totalverweigerer, Kinderlose oder auch Kinderreiche erweitert. Seltener werden auch Leute als «Sozialschmarotzer» bezeichnet, die notwendigerweise, wie etwa aus gesundheitlichen Gründen, aufgrund hohen Lebensalters oder aus Verfolgung auf soziale Hilfe angewiesen sind. Oft werden Personen, die angeblich oder tatsächlich unberechtigt staatliche Transferleistungen erhalten (Leistungsmissbrauch bzw. Sozialhilfemissbrauch) oder die Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung begehen, so bezeichnet. Steuerhinterzieher sind allerdings eher nicht gemeint, wenn die SVP von Sozialschmarotzern spricht.
Feindbild Nr. 3: Die Linken und die Netten. Unter dem Stichwort «Folgen der Multikultur» sagte SVP-Nationalrat Yvan Perrin in einem Referat zur «Ausschaffungsinitiative» 2010: «Die grassierende Ausländerkriminalität hat eine ideologische Grundlage: sie heisst Multikultur. Und für die grassierende Ausländerkriminalität gibt es politisch Verantwortliche: Es sind die Linken und Netten. Sie heissen SP, Grüne, CVP und FDP. Sie schwärmen von einer neuen Schweiz; von einer offenen Schweiz, die ihres Traditionsfundamentes beraubt der vielfarbigen Benetton-Werbung gleicht. Als Allianz weltfremder Träumer haben Linke und Nette während Jahren im Bundesparlament und in den Kantonsparlamenten alle Vorstösse und Lösungsbemühungen der SVP abgelehnt und abgeblockt. Die Folge ist eine verantwortungslose Schleusen-Auf-Politik.»
Interessant an diesem Zitat ist der Begriff der «Schleusen-Auf-Politik», der sehr schön das Konzept des Schattens, der auf ein Feindbild projiziert wird, illustriert. Das «Böse» kommt von aussen, es bedroht, mit Hilfe von «Kollaborateuren mit dem Feind» im Innern, die «heile Welt der Schweiz», die es zwar nie gegeben hat, die aber zweifellos eine schöne Wunschprojektion der Parteianhängerinnen und -anhänger ist, eine heile Welt, in der der Parteipräsident mit einem Lämmchen auf dem Schoss vor seinem bäuerlichen Anwesen sitzt, in der es keine Drogen und keine Kriminalität und keine arbeitenden Mütter gibt. Yves Perrin schliesst seine Rede mit dem ebenfalls aufschlussreichen Zitat: «Es ist somit an der SVP, das Bedürfnis der Schweizerinnen und Schweizer nach mehr Sicherheit, mehr Grenzen und vor allem nach konsequentem Durchgreifen beim Überschreiten der Grenzen, aufzunehmen und umzusetzen.»
Von dieser Tendenz zum Überhandnehmen des Politikmarketings zuungunsten der lösungs- und konsensorientierten Sachpolitik ist keine der Parteien ausgenommen. Die einen machen es geschickter, die anderen weniger geschickt; die einen mit weniger Mitteln, die anderen mit dem ganz dicken Portemonnaie. Das macht die weniger geschickten – und damit weniger erfolgreichen – zwar eher sympathisch, verhilft ihnen aber natürlich nicht zu grösserem politischem Gewicht.
Es gibt in der Schweiz eine Partei, die das Spiel des politischen Marketings perfekt beherrscht. Es ist die Partei, die zuerst erkannt hat, wie wichtig dieses Marketing für den politischen Erfolg ist. Es ist auch die Partei, die die meisten Mittel dafür aufwendet – und die meisten Mittel dafür aufwenden kann. Klar – schliesslich ist es die Partei der Milliardäre; jene Partei, die Politik für Milliardäre macht.
Was heisst das nun – Politik für Milliardäre (zu denen ich hier auch diejenigen mit den vielen Millionen rechne, die es – noch? – nicht ganz in den Club der Milliardäre geschafft haben). Es bedeutet Steuersenkungen auch – und gerade – für die ganz Reichen, es bedeutet die Senkung der Staatsausgaben. Die Partei, von der ich spreche, ist die einzige Partei mit einer konsequent neoliberalen Politik in der Schweiz, einer Politik, die sich für einen schrankenlosen, von allen Fesseln befreiten Kapitalismus stark macht – und damit für einen möglichst schwachen Staat. Ein starker Staat wird von ihr nur in Sicherheitsfragen toleriert – wenn es darum geht, einen (imaginären oder realen) äusseren oder inneren Feind zu bekämpfen. Und allenfalls noch dann, wenn es darum geht, die Bauern – ursprüngliche Kernwählerschaft – vor ausländischer Konkurrenz zu schützen (und damit, nebenbei gesagt, auch wieder gegen die eigenen neoliberalen Prinzipien zu verstossen).
Wie machen die das?
Wir schafft es die Partei für Milliardäre, die eine Politik für Milliardäre macht, zu der wählerstärksten Volkspartei zu werden? Schliesslich sind Milliardäre auch in einem reichen Land wie der Schweiz nicht gerade in der Mehrheit. Das erfordert doch eine wahrhaft herkulische Leistung von den PR-Fachleuten der Partei. Wie machen die das?
Zunächst geht es natürlich darum zu verschleiern, dass die Partei Politik für Milliardäre macht – oder vielmehr zu suggerieren, dass diese Politik auch anderen Wählerschichten zugute komme: zum Beispiel dem Mittelstand, aber auch ganz generell allen «guten», «richtigen» Schweizern. Ein starkes, durch keine gesetzlichen Schranken behindertes Unternehmertum schaffe Arbeitsplätze; die Bedrohung von Sicherheit und Wohlstand erfolge ausschliesslich durch einen zu bekämpfenden inneren und äusseren Feind (EU, Ausländer generell, Scheininvalide, Sozialschmarotzer, Linke und Nette, Classe politique).
Das führt uns zum entscheidenden Hebel, an dem das Politikmarketing der Partei ansetzt: der Schaffung von Feindbildern. Dass Politikmarketing mit Feindbildern operiert, ist zwar auch bei anderen Parteien nicht gerade der Ausnahmefall, wird aber von keiner anderen Partei so permanent und konsequent umgesetzt und durchgezogen.
C.G. Jung hat das Konzept des Schattens entworfen, wobei der Schatten sozusagen die dunkle, im Schatten liegende Seite der Persönlichkeit ist. Er setzt sich aus all jenen mit den bewussten Identifikationen des Ich unvereinbaren Aspekten, Neigungen und Eigenschaften eines Menschen zusammen, die wir nicht in unsere bewusste Persönlichkeit integriert haben. Solange keine bewusste Auseinandersetzung des Ich mit diesem unbewussten Schatten stattgefunden hat, kann dieser nur ausserhalb des Ich wahrgenommen werden und wird deshalb häufig auf andere Personen und Personengruppen projiziert.
Insofern passt das Marketing-Konzept der Partei recht gut zur Erklärung des Schattenprinzips von C.G. Jung. Die Feindbilder der Partei sind sozusagen der «Schatten» der Schweiz, aber auch jeder einzelnen Wählerin und jedes einzelnen Wählers. Das, was uns bedrohlich erscheint, wird auf einen äusseren und inneren Feind projiziert, den man nun nur noch bekämpfen muss – indem man die Partei wählt, die das stellvertretend für uns tut –, damit alles gut wird und wir uns vermeintlich sicher fühlen können. «Jedem SVPler steht die Schweiz näher als die eigene Partei. Dies ist wohl der wesentliche Unterschied zu allen anderen Parteien, welche vor allem für die eigene (Partei-)Befindlichkeit und die Pöstchen einstehen, anstatt für die Unabhängigkeit und Freiheit unseres Landes», schreibt beispielsweise SVP-Nationalrat Alfred Heer.
Insofern ist der Erfolg der Partei auch eine Folge der Globalisierung. Diese löst Ängste aus, die nun nach Jungs Schattenkonzept auf ein Feindbild projiziert werden und damit aushaltbar gemacht werden kann. Dieses Bedrohungsgefühl ist gleichzeitig sehr diffus und tief sitzend, es betrifft den Identitätsverlust und das Gefühl, dass die Anderen, Fremden uns etwas wegnehmen könnten.
Feindbild Nr. 1: Ausländerinnen und Ausländer, alles «Fremde», «Unschweizerische» generell. In diesen Komplex gehören natürlich die EU, aber auch andere intergouvernementale und vor allem supranationale Strukturen (UNO, NATO, Abkommen von Schengen und Dublin). Dazu gehören Asylsuchende und alle Arten von Einwanderern. In dieses Kapitel gehört natürlich auch die Minerettinitiative, gehören Plakate wie jenes von den dunklen Händen, die nach dem Schweizerpass greifen, die Schäfchenplakate, die Plakate, die Ausländer als Mörder und Vergewaltiger zeigen etc.
Feindbild Nr. 2: «Sozialschmarotzer» und «Scheininvalide». Jede und jeder ist für sich selbst verantwortlich. All jene, die es nicht schaffen, sind selber schuld. Sie verkörpern das «Schwache», das es auszumerzen gilt. «Sozialschmarotzer» ist ein seit etwa Ende der 1970er Jahren verwendetes pejoratives Schlagwort für einen Einzelnen oder eine Gruppe von Menschen, die eine andere soziale Gruppe (z. B. einen Sozialstaat oder eine Solidargemeinschaft) „ausbeuten“ würden. Gelegentlich wird die Bezeichnung polemisch in Medien und politischen Debatten allgemein auf Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Langzeitstudenten, Asylanten, Totalverweigerer, Kinderlose oder auch Kinderreiche erweitert. Seltener werden auch Leute als «Sozialschmarotzer» bezeichnet, die notwendigerweise, wie etwa aus gesundheitlichen Gründen, aufgrund hohen Lebensalters oder aus Verfolgung auf soziale Hilfe angewiesen sind. Oft werden Personen, die angeblich oder tatsächlich unberechtigt staatliche Transferleistungen erhalten (Leistungsmissbrauch bzw. Sozialhilfemissbrauch) oder die Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung begehen, so bezeichnet. Steuerhinterzieher sind allerdings eher nicht gemeint, wenn die SVP von Sozialschmarotzern spricht.
Feindbild Nr. 3: Die Linken und die Netten. Unter dem Stichwort «Folgen der Multikultur» sagte SVP-Nationalrat Yvan Perrin in einem Referat zur «Ausschaffungsinitiative» 2010: «Die grassierende Ausländerkriminalität hat eine ideologische Grundlage: sie heisst Multikultur. Und für die grassierende Ausländerkriminalität gibt es politisch Verantwortliche: Es sind die Linken und Netten. Sie heissen SP, Grüne, CVP und FDP. Sie schwärmen von einer neuen Schweiz; von einer offenen Schweiz, die ihres Traditionsfundamentes beraubt der vielfarbigen Benetton-Werbung gleicht. Als Allianz weltfremder Träumer haben Linke und Nette während Jahren im Bundesparlament und in den Kantonsparlamenten alle Vorstösse und Lösungsbemühungen der SVP abgelehnt und abgeblockt. Die Folge ist eine verantwortungslose Schleusen-Auf-Politik.»
Interessant an diesem Zitat ist der Begriff der «Schleusen-Auf-Politik», der sehr schön das Konzept des Schattens, der auf ein Feindbild projiziert wird, illustriert. Das «Böse» kommt von aussen, es bedroht, mit Hilfe von «Kollaborateuren mit dem Feind» im Innern, die «heile Welt der Schweiz», die es zwar nie gegeben hat, die aber zweifellos eine schöne Wunschprojektion der Parteianhängerinnen und -anhänger ist, eine heile Welt, in der der Parteipräsident mit einem Lämmchen auf dem Schoss vor seinem bäuerlichen Anwesen sitzt, in der es keine Drogen und keine Kriminalität und keine arbeitenden Mütter gibt. Yves Perrin schliesst seine Rede mit dem ebenfalls aufschlussreichen Zitat: «Es ist somit an der SVP, das Bedürfnis der Schweizerinnen und Schweizer nach mehr Sicherheit, mehr Grenzen und vor allem nach konsequentem Durchgreifen beim Überschreiten der Grenzen, aufzunehmen und umzusetzen.»
Mittwoch, 20. April 2011
Ein Tag wie jeder andere (6)
Oesch setzte sich an den Schreibtisch und folgte dem Auf und Ab der Stimmen im Nebenzimmer. Eigenartigerweise konnte er in der Unterhaltung keinen Inhalt erkennen, obwohl die Stimmen gut vernehmbar war und die Frauen, die den Stimmen nach wie gesagt eher keine jungen Frauen mehr waren, in einem klar identifizierbaren, schon fast übertrieben wirkenden Zürcher Dialekt sprachen, schnell und aufgeregt, mit aufgeblähten Vokalen. Oesch konnte also nur der Melodie und nicht dem Sinn des Gesprochenen folgen, und während er so dasass und lauschte, ergriff ihn eine Art Lähmung, eine Schwere der Glieder, die ihn in den Boden hinein zu ziehen versuchte. Ja, er fühlte sich irgendwie aufgesogen, eingeschlürft; seine Augenlider drohten zuzufallen. Währendem wurden die Stimmen im Nebenzimmer immer aufgeregter, lauter und aggressiver, bis sie sich schliesslich in einem Schrei entluden, auf den ein lautes Rumpeln folgte, ein Geräusch, das mit dem Umfallen von Gegenständen, Möbelstücken zum Beispiel, einherzugehen pflegte. Unvermittelt war es ruhig, man hörte nur entfernt ein Tram quietschen. Oesch war erstarrt, unfähig, sich zu bewegen. Dann öffnete sich die Tür, und eine beleibte ältere Dame mit ausladendem Busen stürmte mit hochrotem Kopf an Oesch vorbei und aus dem Raum heraus, gefolgt von einer noch älteren Dame mit grauem schütterem Haar, die jammerte und die Hände rang. Nun erwachte Oesch aus seiner Erstarrtheit und erhob sich vom Pult, um einen Blick in den Nebenraum zu werfen. Dieser erwies sich als das chaotischste Büro, das Oesch je gesehen hatte, so chaotisch, wie er es sich bisher gar nicht hatte vorstellen können. Eine weitere Dame, auch nicht mehr jung, aber mit hoch aufdupiertem blondem Haar, lag mit dem Gesicht auf der Schreibmaschine, tat keinen Wank und wirkte ziemlich tot. Neben ihr qualmte eine Zigarette im Aschenbecher, auf den vier zusammenschobenen Pulten, die den Raum beherrschten und kaum Raum liessen zu stehen, zu sitzen und zu gehen, lagen vergilbte Papiere, alte Zeitschriften und Zeitungen, vertrocknete und angeschimmelte Nahrungsreste, Stofffetzen, Kleiderbügel, Kugelschreiber, Stempelkissen, riesige Scheren, riesige Aktenlocher, zerfetzte alte Bücher, Bleistifte, mit Schreibmaschine beschriebene Karteikarten, Nastücher, Schminkutensilien, aber auch Gegenstände, die für Oesch nicht identifizierbar war, dazu hing über allem ein Geruch aus Zigarettenrauch, Moder und längstverdautem Essen. Oesch war völlig desorientiert; dann geriet er in Panik. Er verliess das Büro, so rasch er konnte. Auf den Korridoren des verwinkelten Hauses, in denen er sich bald nicht mehr auskannte, begegnete er anderen Mitarbeitenden des Hilfswerk, älteren und jüngeren, weiblichen und männlichen, die ihm alle nicht sehr bekannt vorkamen und die ihn auch gar nicht beachteten. In wachsender Panik ging er treppauf treppab und durch die düsteren Korridore, Ewigkeiten, wie ihm schien, als er sich plötzlich vor einer Tür befand, auf der sich ein Schild mit der Aufschrift „Direktor“ befand.
Abonnieren
Posts (Atom)